(Anonymus:) GEHEIME GESCHICHTE DER HERTZOGIN VON HANOVRE.. (1734)

(herausgegeben von mondrian w. graf v. lüttichau)

Eine zeitgenössische darstellung der tragödie um sophie dorothea v. celle (1666-1726), die aufgrund ihrer liebesbeziehung mit philipp christoph graf v. königsmarck geschieden und verbannt wurde als "prinzessin von ahlden". – Ausschlaggebend für meinen impuls, dieses büchlein nach 270 jahren nochmal an die öffentlichkeit zu bringen, war das abenteuer sprache! Der spätbarocke text macht authentische sprachentwicklung für mich sinnlich greifbar als kreativer ausdruck von sozialer erfahrung und kommunikation. Die lebendige sprache könnte für uns noch heute handlungsträger der 'Geheimen Geschichte..' sein.

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Adelheid Reinbold: NOVELLEN UND ERZÄHLUNGEN 1836

Die weitgehend vergessene schriftstellerin adelheid reinbold (1800-1839) gehörte zum kreis um den romantischen dichter ludwig tieck. In ihrem schmalen, teilweise erst nach dem tod veröffentlichten Werk knüpft sie an tiecks bemühen an, vulgär-romantischen auswüchsen seiner zeit entgegenzutreten und wieder anzuknüpfen an die realität der gesellschaftlichen gegenwart. Sie selbst sehe ich eher als protogonistin des realismus in der deutschen literatur, eine frühe Vertreterin eines literarischen feminismus. Reinbolds weibliche hauptfiguren sind potentiell autonome menschen wie die männer und neben ihnen, deren sozial zugeschriebene rollen und qualitäten (modifikationen von "männlichkeit") sie anzuerkennen bereit sind – falls vorhanden; ein bedeutsames zwischenglied des historisches emanzipationsprozesses!

Diese frauen suchen individuelle wege, ihre natürliche, menschengemäße individualität in der von männlicher vorherrschaft und gesellschaftlichen konventionen geprägten welt weitestmöglich zu entfalten. Aber auch wenig schmeichelhafte formen der anpassung an die männerwelt werden von reinbold präsentiert.

Die requisiten der romantischen literatur (vergangene zeiten, fremde völker, unverhoffte erbschaften, plötzliche sterbefälle und verschachtelte erzählebenen) nutzt sie nicht vorrangig zur steigerung der spannung, sondern zum aufbau exemplarischer situationen. Die geheimniskrämerei romantischer erzählungen verweist bei ihr auf die grundlegende, unabänderliche relativität unserer menschlichen erkenntnis. Der welt, auch unseren mitmenschen, sollten wir uns nähern in einer achtsamkeit, die ausgeht vom geheimnis des lebens. Nur im bemühen, momente des lebens wahrzunehmen (das heißt: sie für wahr zu nehmen), können wir ihnen eventuell gerechtwerden. Jenseits aller religiösen verbrämung ist dies nicht zuletzt eine haltung der demut.

Diese neuausgabe ihrer ersten buchveröffentlichung enthält ein nachwort des herausgebers mondrian v. lüttichau.

Wiederveröffentlicht wurden bereits 2010 bei AUTONOMIE UND CHAOS die zwei novellen: 'Russische Scenen & Irrwisch-Fritze'.

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Adelheid Reinbold: RUSSISCHE SCENEN / IRRWISCH-FRITZE

Zwei Novellen

(Herausgeben von mondrian v. lüttichau)

Zu unrecht völlig in vergessenheit geraten war die junge schriftstellerin adelheid reinbold (1800-1839), eine eigenwillige literarische protagonistin der ersten deutschen frauenbewegung. Sie stammte aus hannover, arbeitete vorrangig in dresden und war befreundet mit dorothea und ludwig tieck, friedrich v. raumer und ida v. lüttichau. Zwei noch immer lebensvolle, tiefgründige und mitreißende novellen werden hier wiederveröffentlicht, 170 jahre nach ihrem tod. Dazu ein biobibliografisches vorwort (mondrian v. lüttichau) sowie ein zeitgenössischer nachruf (ludwig tieck).

Siehe auch die 2015 bei A+C wiederveröffentlichte erste buchveröffentlichung adelheid reinbolds: 'Novellen und Erzählungen 1836'.

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Angela Stachowa: GESCHICHTEN AUS DER DDR

Neu im Dezember 2023

Angela Stachowa (1948–2022) war eine deutsch-sorbische Schriftstellerin und Politikerin.
Nach der Abiturprüfung 1967 an der Sorbischen Oberschule in Bautzen und einer Lehre als Fernmeldetechnikerin absolvierte sie ein Studium an der TU Dresden, das sie 1972 als Diplom-Ingenieurökonomin mit der Spezialisierung Elektrotechnik/Elektronik abschloß. Von 1973 bis 1976 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Danach arbeitete sie als freiberufliche Schriftstellerin. Angela Stachowa war von 1972 bis 1989 Mitglied der SED. Vom 20. Dezember 1990 bis 10. November 1994 war sie für eine Wahlperiode Mitglied des Deutschen Bundestages. Sie wurde als Parteilose für die PDS/Linke Liste über die Landesliste Sachsen ins Parlament gewählt. Während der Legislaturperiode trat sie am 15. Juni 1994 aus der PDS-Fraktion aus, behielt aber ihr Mandat als Fraktionslose.
Angela Stachowa lebte (zunächst mit ihrem Sohn) in Leipzig. Seit 1996 erschienen nur noch Veröffentlichungen in sorbischer Sprache.

Im Mittelpunkt der Erzählungen stehen meist junge Frauen. Stachowas Geschichten berühren in ihrer genauen und solidarischen Darstellung subtiler Empfindungen und schwieriger Alltagssituationen, unmittelbar und unprätentiös erzählt. Hautnah an den Menschen dran sind diese Geschichten – und doch an jeder Stelle in tiefer Achtung vor der Eigenheit der Person, die dargestellt wird. In Achtung auch vor dem nicht anders Können, dem Versagen. Wir sind eben doch jedem Achtung schuldig dafür, daß er oder sie ihr Leben zu leben versucht, Tag für Tag.
Angela Stachowas lakonischer, seltsamerweise gleichwohl spannender Bericht über alltägliche, fast beliebige Tatsachen und Handlungen regt die Einfühlung in die jeweilige Situation an – und damit in das (vermutliche) Empfindungen der Protagonist*innen. Dazu paßt auch ihr eigenartiger, an gesprochener Umgangssprache orientierter Stil.

Quelle der hier gesammelten Geschichten sind mehrere Erzählungsbände Angela Stachowas aus den Jahren 1975 bis 1982.
Hinzugefügt wurde eine möglichst vollständige Bibliografie selbständiger Veröffentlichungen der Autorin, ein Aufsatz von Christel Hildebrandt von 1984, ein TAZ-Artikel zum Thema Sorben (von 1991), fünf Porträtbilder der Autorin sowie einige Fotografien, die in den Jahren nach 2000 in der (ehemaligen) DDR entstanden sind.

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Anna Langfus: SALZ UND SCHWEFEL

Neu im November 2023

Anna Langfus (gestorben am 12. Mai 1966 in Paris) wurde als Hanka Regina Szternfinkiel am 2. Januar 1920 als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie in Lublin (Polen) geboren. Zusammen mit ihrem Ehemann Jakub Rais und ihren Eltern wurde sie im Frühjahr 1941 in das neu errichtete Ghetto von Lublin deportiert. Von dort flohen sie und lebten illegal in der Stadt. Der Vater kam in Lublin ums Leben, die Mutter im Warschauer Ghetto, wo sie sich mehr Sicherheit versprochen hatte. Auch das Ehepaar Rajs war 1942 nach Warschau geflohen. Sie blieben zunächst im Ghetto, versteckten sich dann auf der "arischen" Seite. Anna engagierte sich im polnischen Untergrund. Im November 1944 wird sie von der Gestapo verhaftet. Anna Rajs und ihr Mann werden als russische Spione verdächtigt und im Gefängnis von Nowy Dwór gefoltert. Jakub Rajs wird erschossen. Anna wird ins Gefängnis Płońsk überstellt, sie entgeht nur knapp einer Massenexekution und wird von der sowjetischen Besatzung freigelassen.

Anna Rajs-Szternfinkiel kehrt zunächst nach Lublin zurück, wo keine Verwandten mehr lebten. Sie beginnt dort ein Schauspielstudium. Etwa Mitte 1946 verläßt sie Polen und läßt sich in Frankreich nieder.
Als eine der ersten jüdischen Überlebenden der Shoah begann sie, literarisch ihre ihre Erfahrungen von Verfolgung, Verrat, Folter, Mord und Überleben zu veröffentlichen.In Frankreich entstanden bis zu ihrem Tod drei Romane sowie mehrere Theaterstücke, Erzählungen und Hörspiele.

Anna Langfus starb an einem Herzinfarkt im Alter von 46 Jahren. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Bagneux begraben.
Trotz Literaturpreisen und der Übersetzung ihrer Werke in fünfzehn Sprachen geriet sie ab den 1970er Jahren allmählich in Vergessenheit (heißt es in der französischen Wikipedia). In Deutschland wurde ihr Werk kaum zur Kenntnis genommen.

Die Autorin hat mehrfach betont, daß es sich bei SALZ UND SCHWEFEL nicht um eine Autobiografie handelt, sondern um einen "autobiografischen Roman". Der Roman zeigt unzählige Situationen, die nicht verarbeitet werden können mithilfe der Erfahrungen, der Empfindungen und Kriterien, der Moral, die wir für das mitmenschliche Leben gelernt und verinnerlicht haben: eine alltägliche Kette von Schmerzen und Demütigungen, die es jeweils zu überleben galt – irgendwie. Manchmal zeigt sich der innere Widerstreit zwischen Lebenswille und dem tiefen Wunsch, daß dieses schreckliche Leben endlich vorbei sein solle, egal auf welche Weise.
Literarische Gestaltung ist eine wichtige Verarbeitungsmöglichkeit traumatischer Erfahrungen. Empfindungen und Reflexionen können poetisch und in fiktiven Situationen distanzierter und dadurch oft nuancierter dargestellt und entfaltet werden als in einem in allen Einzelheiten an den tatsächlichen Abläufen orientierten Bericht.
Ein Wunder bleibt das sprachliche, literarische Niveau der Autorin, das tiefe Einblicke in menschliches Seelenleben ermöglicht: subtilste Beobachtung menschlicher Körpersprache, tiefe Einfühlung in zwischenmenschliche Situationen, die sie umsetzen kann in stimmige (theatermäßige bzw. filmische) Dramaturgie. Für existentielle Momente findet sie oft poetische Bilder.

Über die Realität der völkermörderischen Deutschen während der NS-Zeit enthält dieses Buch nichts, das nicht auch durch viele andere Zeugnisse bekannt wäre. Sein Wert liegt – wie jeder Bericht einer oder eines Überlebenden dieser Schrecklichkeiten – in dem Zeugnis eines Menschen, dieser jungen Frau, die – wie jeder Mensch, jedes Opfer – eine Welt für sich ist und als solche wert, bewahrt zu werden in ihrem Schicksal, ihren Empfindungen. Bewahrt zu werden auch im mitmenschlichen Protest gegen solche Taten. Deshalb müssen solche Zeugnisse weiterhin immer wieder neu veröffentlicht werden!

SALZ UND SCHWEFEL erscheint hier auf Grundlage der deutschen Erstausgabe (1964) als einzige deutsche Neuausgabe.
 Die Veröffentlichung enthält im Anhang einen zusätzlichen Text der Autorin, Literaturhinweise zum Thema "Juden und Polen" sowie ein Nachwort des Herausgebers (MvL).

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Anne de Tourville: JABADAO

Anne-Marie Jeanne Nouël de Tourville de Buzonnière, die sich Anne de Tourville nannte, wurde geboren am 26. August 1910 in Bais, Ille-et-Vilaine (Bretagne). Sie starb in Vitré, Ille-et-Vilaine am 24. September 2004.
Anne de Tourvilles Geschichte rund um den alten bretonischen Tanz Jabadao liest sich wie die Nacherzählung einer bretonisch-keltischen Legende. Es geht um das ewig menschheitliche Thema: ein Junge und ein Mädchen lieben einander, jedoch sollen sie nicht zusammen kommen, weil sie verschiedenen Schichten und Dörfern angehören. Während wir das Keimen dieser Liebe, ihr Blühen, die bösartigen Gefahren und das glückliche Ende im allerletzten Augenblick verfolgen, werden wir an der Hand genommen und hineingeführt in die halb mythische, halb historische Welt bretonischer Sagen, Symbole und Zeremonien, Kleider und Speisen, Geheimnisse, Tiere und Pflanzen, Gerätschaften, Arbeitsroutinen, Namen, Überzeugungen und Traditionen, zwischen Toten, Naturmächten und Zauberei, Ängsten und Leidenschaften. Eindrückliche Frauengestalten stehen im Mittelpunkt der Erzählung.Vermutlich konnte die Autorin, die ihr Leben lang in ihrer engeren Heimat Ille-et-Vilaine (dem östlichsten Département der Bretagne) blieb, hierfür auf die mündlichen Überlieferungen ihrer Umgebung zurückgreifen. – Aber was wird heute noch davon existieren (außer touristisch funktionalisierter Versatzstücke)?

Ihr Roman erschien in Frankreich 1951 (mit Neuauflagen 1957 und 1979), auf deutsch 1953. Er wurde auch ins Englische, Italienische, Holländische und Portugiesische übersetzt.
Diese einzige deutsche Neuausgabe wird eingeleitet durch einen Text von Seth A'Peara, der sich fast kontrapunktisch bezieht auf Jabadao und doch bei sich bleibt: in wieder anderen Welten.

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Anne Moody: ERWACHEN IN MISSISSIPPI

Anne Moody (1940 – 2015)war das älteste von acht Kindern einer afro-amerikanischen Familie in Mississippi. Das Leben war bestimmt von materieller Not. Bereits als Kind begann sie, für weiße Familien in der Gegend zu arbeiten, ihre Häuser zu putzen und deren Kindern für wenig Geld bei den Hausaufgaben zu helfen. Später absolvierte sie ein akademisches Studium am Tougaloo College. Seit dieser Zeit engagierte Anne sich beim Congress of Racial Equality (CORE), der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und dem Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC). Sie nahm an einer Vielzahl von gewaltfreien Protestformen wie Märschen und Sitzstreiks teil. Als zentrale Aufgabe wurde darin gesehen, die Schwarze Bevölkerung zu motivieren, sich als Wähler*innen zur Wahl des Gouverneurs von Mississippi einschreiben zu lassen. (Freedom Summer, 1964) Dieses grundlegende demokratische Wahlrecht wurde kontinuierlich von Störmanövern, massiven Bedrohunen und bürokratischen Finessen hintertrieben. Es war den meisten Afro-Amerikaner*innen in den Südstaaten zu dieser Zeit kaum möglich, ihre begründete Angst vor der (gelegentlich auch tödlichen) Bedrohung durch die Weißen zu überwinden, um den Weg zur Wählerregistrierung zu wagen.

Anne Moody berichtet in ihrer hier erstmalig seit 50 Jahren auf Deutsch wiederveröffentlichten Autobiografie umfassend vom Kampf der Bürgerrechtsbewegungen, soweit sie daran beteiligt war.
Nach 1964 mußte sie sich wegen chronischer Erschöpfung (und auch Resignation) von der aktiven Arbeit in den Bewegungen zurückziehen. Sie zog nach New York. 1965-67 schrieb sie ihr hier vorliegendes Buch COMING OF AGE IN MISSISSIPPI.

Anne Moody steht für den Übergang zwischen dem gewaltlosen Engagement Martin Luther Kings und vieler anderer einerseits und dem in Erbitterung und Haß auch zu Gegengewalt übergehenden Kampf von Menschen wie Angela Davis, Assata Shakur (und anderen) bzw. den Black Panthers. Dennoch hatte Moody zunehmend Zweifel an einer einseitig an der Situation der Afro-Amerikaner* innen orientierten Bürgerrechtsbewegung. Sie sagte: "I realized that the universal fight for human rights, dignity, justice, equality and freedom is not and should not be just the fight of the American Negro or the Indians or the Chicanos. It’s the fight of every ethnic and racial minority, every suppressed and exploited person, everyone of the millions who daily suffer one or another of the indignities of the powerless and voiceless masses."
In den folgenden Jahren arbeitete Anne Moody an der privaten Cornell University Ithaka, NY., engagierte sich später auch in der Anti-Atomkraft-Bewegung und als Beraterin für das New York City Poverty Program.

Anne Moodys nuancierte und unmittelbar nachfühlbare Darstellung der vielfältigen Formen sozialer Kontrolle, Diskriminierung und Unterdrückung geht weit über das Thema Segregation und Rassismus gegen die Farbigen in den USA hinaus. Diese und ähnliche Mechanismen wurden und werden zu allen Zeiten und in jeder Gesellschaft, jedem sozialen Verbund angewandt, um Menschen dem Diktat der jeweils Stärkeren zu unterwerfen, sei es auch nur zu deren situativer Bequemlichkeit: in Schulen und Kindergärten, in Arbeitsstellen, Vereinen und politischen Parteien, in Wohnheimen, Krankenhäusern, in Familien und in der Nachbarschaft. Zeugnisse wie das hier vorliegende können dazu sensibilisieren, solche Mechanismen zu erkennen, sie nicht mitzutragen, können Mut machen, Widerstand gegen sie zu leisten.

Bei all den widerwärtigen Erfahrungen, die sie mit Weißen, gelegentlich aber auch mit Farbigen in Kindheit und Jugend machen mußte, blieb Anne Moodys Selbstbild das eines Menschen von eigenem Recht. Sie identifizierte sich weder mit dem Leid, das ihr angetan wurde, noch mit einer schematischen Frontstellung gegen die Weißen. Sie zeigt Menschen in ihren unvereinbar scheinenden Aspekten, legt sie nicht fest auf (moralisch bestimmte) Rollen, wie es oft geschieht in derlei Erinnerungen. Haß und Selbsthaß, Verletztsein und verletzen wird in ihrem Bericht deutlich in seinem unauflösbaren Zusammenhang. Ihre politische Autobiographie enthält eine Fülle von Einzelheiten zum Leben der Farbigen in den Südstaaten der USA in den 50er und 60er Jahren; wir lesen von Menschen, die zerrieben werden zwischen den Ideologemen, dem Haß, den Traditionen einer durch und durch zerstörten Gesellschaft, zerrieben oft auch von der Unmöglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Seelisch zerstört sind aber auch die Weißen in dieser rassistischen Gesellschaft. –

COMING OF AGE IN MISSISSIPPIerschien 1968, wurde von Anfang an hochgelobt und (in den Südstaaten) medial bekämpft, es wurde in etliche Sprachen übersetzt; in den Vereinigten Staaten ist es bis heute eines der bekannten Bücher zum Thema, bei (vor allem studentischen) Leser*innen wie in der Presse, in Fachveröffentlichungen und unter Bürgerrechtler*innen. – Der Kampf gegen die Segregation (in ihren "zeitgemäßen" Varianten) ist in den USA noch keineswegs beendet.

Auf Deutsch erschien das Buch 1970 (S. Fischer) sowie 1971 in der DDR (Verlag Neues Leben), jeweils in der Übersetzung von Annemarie Böll, mit Vorwort von Heinrich Böll. Eine Taschenbuchausgabe bei S. Fischer von 1972 sollte dann für 50 Jahre die letzte deutsche Ausgabe des Buches sein, – bis zu der hier vorliegenden kostenfreien online-Veröffentlichung (Text und Übersetzung weitestgehend nach der früheren Ausgabe) beim Verlagsprojekt Autonomie und Chaos.

Die Neuausgabe enthält als Anhang das Script eines Interviews, das Anne Moody 1985 gab; es handelt auch von ihrem Leben in den 10 Jahren seit Erscheinen ihrer politischen Autobiografie.

Hier direkt angehört und heruntergeladen werden kann die Audiodatei eines Interviews von 1969, aus Anlaß der Veröffentlichung ihres Buches:

Und hier ist das Buch:

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Hinweis: Zum Thema Segregation / Rassismus in den USA ist bei A+C wiederveröffentlicht worden der Roman Fremde Frucht ("Strange Fruit")von Lillian Smith, einer weißen Bürgerrechtlerin. Die Neuausgabe enthält einen umfassenden Anhang zum Thema.

Christa Anita Brück: EIN MÄDCHEN MIT PROKURA

Thema des vorliegenden romans von christa anita brück (1899-1958) ist zunächst die allgemeine seelische zerstörung unter angestellten während der weltwirtschaftskrise ende der 20er jahre, mit besonderem blick auf die deutsche bankenkrise: überlebensängste (gerade bei denen, die noch in stellung sind), situation der arbeitslosen kleinen leute, feindseliges büroklima, fusionen und monopolisierung sowie die zunehmende bürokratisierung auch im bankgewerbe.

Neben hans falladas berühmtem KLEINER MANN – WAS NUN? (ebenfalls 1932 erschienen) ist er einer der wenigen deutschen romane aus dem angestelltenmilieu während der weltwirtschaftskrise.

Das augenmerk der autorin liegt vorrangig auf der situation weiblicher angestellter (minderbesoldung, mangelndes ansehen im geschäftlichen leben, schwierigkeit des aufstiegs in leitende stellungen, mobbing, anmache). Am schluß des romans steht die unmißverständliche einschätzung: "Der Weg der tüchtigen Frau ist immer der gleiche: er führt über Feindschaft, Befremden, Mißtrauen und Neid zu tragischer Isoliertheit."

Im hinblick auf die deutsche bankenkrise war EIN MÄDCHEN MIT PROKURA bei seinem erscheinen tagespolitisch hochaktuell. Vermutlich war die autorin (ab 1934 ehefrau eines höheren bankangestellten) bereits zu diesem zeitpunkt eng vertraut mit der thematik.

Taktische fusionen, monopolisierung und zunehmende bürokratisierung, wie sie im letzten teil des vorliegenden romans skizziert werden, gehörten zum beginn eines prozesses, der sich bis heute als progressive verkrebsung des bankgewerbes entfaltet hat.

Diesen roman wiederzuveröffentlichen in einer zeit, in der banken zu totengräbern demokratischer gesellschaften zu werden scheinen, lag für mich nahe. Wesentliche strukturelle, sozialpsychologische funktionen des kapitalistischen bankensystems werden in dieser überschaubaren, für laien nachvollziehbaren handlung plausibel.

Die protagonistin thea iken wird dargestellt als aufopernde, allzeit verantwortungsvolle und loyale mitarbeiterin, tragikumflort, mit heroischer attitüde, – eine überspannte antigone, in einer szene fast wie jesus auf dem ölberg. Solche überzeichnungen, die, wenngleich subtiler, auch in ihren anderen büchern zu finden sind, könnten mit der biografie der autorin zusammenzuhängen.

Projektive kompensationsversuche tiefgehender narzißtischer verletzungen (der autorin) sind in manchen szenen mit thea iken kaum zu übersehen. Auch werden in allen ihren romanen für die weiblichen hauptfiguren schlimme, ja traumatische lebenserfahrungen angedeutet, die eine unbedingte orientierung an einem selbstbestimmten leben nachvollziehbar machen. Dies aber erfordert eine gewisse finanzielle, zu jener zeit für eine frau wohl nur durch berufstätigkeit ermöglichte unabhängigkeit. Wenn thea iken mit unbedingter hingabe um ihren arbeitsplatz kämpft, empfindet sie dies zweifellos als kampf um ihr leben, in dem es andere inhalte – aus welchen gründen auch immer – nicht gibt.

Selbstwertgefühl als erwachsene frau scheint thea iken nur aus ihrer beruflichen position zu beziehen. Liebe kommt bei ihr offenbar vorrangig als fürsorgende liebe vor, als mythisch-loyale verbundenheit mit dem chef oder als pseudomütterliche zuwendung zu dessen sohn. Wobei in beiden konstellationen diffuse erotische momente mitschwingen.. – kaum verwunderlich. Gelegentlich verliert die autorin offenbar selbst die psychologische übersicht über die ineinander verstrickten "opferungs"-impulse ihrer protagonistin, dann wieder erwähnt sie immerhin die "erprobte Eigensüchtigkeit, mit der Mannsbilder Frauenopfer annehmen".

Die prokuristin thea iken steht nur am rande für "das lebensgefühl der 20er jahre", für "die neue frau", vielmehr geht es vorrangig um diese konkrete frau mit einigermaßen rätselhafter psychischer konstitution und ihr ringen um individuelle entfaltung und gesellschaftliche selbstbehauptung. – Unverkennbar ist dabei die soziale position der autorin als reflektiert und (zumeist) empathisch beobachtende außenseiterin. (Dies korrespondiert mit der außenseiterposition der protagonistinnen in allen ihren romanen.) Bis heute lesenswert sind ihre bücher durch das tiefe einfühlungsvermögen in lebensumstände und lebenshaltung gerade der kleinen leute – deren lebensziele, ihre sozialen ängste, nicht zuletzt auch die seelischen zerstörungen, zu denen ihre grundlegenden lebensumstände geführt haben. Deutlich wird gleichwohl ihre distanz gegenüber lebensregungen und reflexionsbemühungen der kleinbürger, werden ängste vor der "masse" und vor bedrohlichen untiefen hinter einer biederen "maske" bei angehörigen der unterschicht; dies sind zeittypische ideologeme des bürgertums.

Der vorliegende roman enthält nicht zuletzt einen psychologisch vertrackten Who has done it? - krimi, ein gerichtsdrama, dessen kriminalistisch-juristische logik nicht immer überzeugt, was jedoch die spannung bis zum schluß nicht beeinträchtigt. Vor allem dieser aspekt stand im vordergrund des heute vergessenen films von arsen v. cserépy. Zumeist sehr achtsam gegenüber dem buch, wurden allerdings psychologisch komplexere inhalte nicht umgesetzt. Einige szenen wurden in filmisch angemessener weise (auch um des dramatischen effekts willen) variiert oder ergänzt, viele dialoge wurden fast wortgenau wiedergegeben. Trotz der vielen NS-nahen mitwirkenden ist dieser lebensfrische film unbedingt sehenswert – sowohl vom drehbuch, seiner schauspielerischen umsetzung als auch von der kameraführung und den regieeffekten her. Bis in nuancen gibt er alltagsethnografische momente seiner zeit wieder, durch die er das buch für heutige leserInnen gut ergänzt. Der neuausgabe wurden aus diesem grund etliche szenenbilder beigegeben.

(Aus dem nachwort des herausgebers)

Bereits bei A+C wiederveröffentlicht wurde brücks erstes buch, der seinerzeit berühmte roman SCHICKSALE HINTER SCHREIBMASCHINEN.

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Christa Anita Brück: SCHICKSALE HINTER SCHREIBMASCHINEN

Christa anita brück (1899-1958?) war eine sensible junge frau mit feinem psychologischen bewußtsein, die wohl nicht ganz freiwillig im kaufmännischen bereich gearbeitet hat. Ihrem sozialen blickwinkel nach kam sie aus gutbürgerlichem elternhaus, vermutlich in ostpreußen, wo auch ihre romane spielen. Nach ihrem hier wiederveröffentlichten ersten buch (von 1930) erschienen bis 1941 noch drei selbständige veröffentlichungen; einer der romane wurde verfilmt.

'Schicksale hinter Schreibmaschinen' ist eines der ersten literarischen werke mit dem thema mobbing am arbeitsplatz. Prägnant wird gezeigt, wie  individualitäten im verdinglichten mechanismus der arbeitswelt so weit zurückgestutzt, verstümmelt werden, bis sie nur noch als menschliche karikaturen agieren können, - wobei täter  und opfer, vorgesetzte und kollegInnen in ihren idiosynkrasien, zwanghaftigkeiten, mit narzißtischen kompensationen und medikamenten- oder alkoholmißbrauch nicht zufällig einander oft sehr ähnlich sind.

Auch in der gegenüberstellung von großbürgerlichem selbstverständnis bei der 'deklassierten' protagonistin und kleinbürgerlich bestimmter arbeitswelt ist dieses buch ein dokument zur vorgeschichte des nationalsozialistischen deutschland und damit auch unserer gegenwart.Die hilflosigkeit der in ihrer etikette, in standesdünkel und moralischen zwängen verhafteten 'guten bürger' angesichts der gesellschaftlich zunehmend dominierenden kleinbürger (und damit auch ihre hilflosigkeit gegenüber den machttaktischen methoden der nazis) wird differenziert geschildert von viktor klemperer in seinem bekannten tagebuchwerk.

Darüberhinaus geht es um sexuelle nachstellung/gewalt als grunderfahrung berufstätiger frauen. Bis heute wird gnadenlose borniertheit, seelische zerrüttung und arroganz der macht bei männlichen vorgesetzten und ihr physiognomisches, ästhetisches korrelat nur selten ungeschönt und sinnlich prägnant dargestellt wie hier. Daß eine romanfigur männliche anmache weder in traditioneller weiblicher unterwerfung hinnimmt noch ihr als emanzipierte amazone begegnet, vielmehr entsprechende männchen bei aller eigenen leidvollen hilflosigkeit doch kalt beschreibt, in verachtung und ekel, widerspricht weiblichen rollenerwartungen noch immer.

Die meisten in 'Schicksale hinter Schreibmaschinen' subtil geschilderten momente von machtmißbrauch, impertinenz, psychoterror (mobbing), verlogener rhetorik, zwanghaftigkeit, aber auch angst, unterwürfigkeit, kollektivzwang und hilflosigkeit bzw. die unterschiedlichen neurotischen kompensationen und interaktionsmustersind mir - bis in einzelne formulierungen! - vertraut aus eigener erfahrung (als betroffener oder beobachter) in etlichen branchen, noch 50 jahre später, in BRD, berlin (west wie ost) und sachsen!

Prägnant beschrieben werden alpträume, projektive angstphantasien und andere psychotraumatische symptome bei mehreren figuren sowie eine situative eskalation bis zu suizidalen empfindungen.

Ein schlaglicht auf die undurchsichtige, in manchem paradoxe gesellschaftliche situation vor dem machtantritt der nazis gibt eine klarsichtige überlegung der protagonistin: "Gewiß sind Sie überzeugt, ein nationaler Mann zu sein. Aber in Wirklichkeit propagieren Sie den Umsturz, denn der Umsturz kommt nicht aus den Gepeinigten, die ihn vollführen, er kommt aus denen, gegen die er sich richtet."

Möglicherweise sind die in diesem buch profilierten ansprüche an das soziale leben  tatsächlich anachronistisch: "So wund bin ich geschlagen, so elendig verhetzt und in meinen Erwartungen entartet, daß allein der Klang unverfälschter Herzlichkeit mich bis zur Fassungslosigkeit erschüttert." Sind wir heute überhaupt noch in der lage, unverfälschte herzlichkeit wahrzunehmen, in unserem Falschen Selbst, mit dem wir uns abdichten gegenüber einer alltäglich gewordenen zwischenmenschlichen kälte? - "Kollegialität und Anstand", wofür die protagonistin dieses buches noch offensiv eintritt, kommt meiner erfahrung nach im arbeitsleben kaum mehr vor, dafür eine sogenannte 'teamfähigkeit', die wenig mehr ist als kollektive unterordnung unter situative machtverhältnisse. Christa anita brück schreibt: "Die Wehrlosigkeit eines feigen Hasses, der aufbegehrt, solange er allein ist und Beleidigungen schluckt, um des Brotes willen, er, nicht die Abhängigkeit meiner Stellung, erniedrigte mich. Ich sehne mich mit dem ganzen Rest  meiner früheren Lauterkeit zurück nach Achtung und Vertrauen."- Mag sein, daß derlei nuancen und inhalte heutzutage nicht mehr als literaturfähig gelten. Mir allerdings scheinen sie unverzichtbar für unser menschsein.
(Aus dem nachwort von mondrian v. lüttichau)

 Im august 2015 ist bei A+C in neuausgabe erschienen christa anita brücks zweiter roman: Ein Mädchen mit Prokura.

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Christa Anna Ockert: L-TAGE oder: "HITLER WIRD NICHT BEDIENT!"

Was sagen Sie dazu?
           Ich hatte viele Namen.

Fremde in meiner Kindheit konnten nur sehen, wie klein ich war, und sagten Mausi oder Mäuschen. (Großmutter, die mich kannte und nicht unterschätzte, nannte mich so vor dem Kindergarten.)
Ich habe mich früh wie später nicht, wie anzunehmen wäre, in Mauselöcher verkrochen …! Die Pohlings riefen noch "de Kleene", als ich den Lehrlingsschuhen entwachsen war. Doch Mäusel mit sächsischem Zwielaut flüsterte und schmetterte mein geliebter zweiter Mann.
Mutter machte keine Umstände und sagte – wie manche meiner Kolleginnen und Bekannten – Christa. Durch Giga, die Liebkosung meines Bruders Harald vor seiner Schulzeit, war ich hellhörig für das, was im Elternhaus fehlte…
Ich hüpfte in den dreißiger Jahren an Vaters Hand durch Leipzig: Für Kurt Röller und andere seiner Freunde wurde ich Huppegra.
Werner, mein niemals alternder Onkel und erster Märchenprinz, taufte meinen Bruder Claus und mich im Doppelpack – Gustav und Gustl!
Christel war der eingängige Schnörkel von Frauen, die mich so oder so mochten; Nachbarinnen unseres ersten, ausgebombten Hauses oder Mutter Just, Annette T. Rubinstein, Tante Martha und Ruth Schreier. Christeline zupft – sozusagen – liebevoll am Ohr oder wickelt eine Locke um den Finger; wie mein Vater, Tante Käthe und Oberschwester Margarethe.
Das Kurzwort der Schneidereits, meines Verehrers Conny Odd und meines lieben Hary fährt wie ein Cabrio mit offenem Verdeck – Chris! Ich habe Sportsgeist! (Behörden und Passanten wechselten meine Nachnamen wie Reifen: Pietscher, Greschke, Ockert.)
Für Roland, der als Junge Mutti sagte, bin ich Mutter. Wie hätte mich mein Enkel Daniel genannt?

Lernen wir, wenn wir in einen Himmel (oder so etwas) kommen, den Namen kennen und sprechen, den wir uns selbst im tiefsten Herzen gaben…?

Christa Anna Ockert  (9. Dezember 1932 – 22. Oktober 2017)

Christa Anna Pietscher wurde in Leipzig geboren und schloß hier zunächst eine Ausbildung  als Schreibkraft ab. Während ihrer darauffolgenden langjährigen Verwaltungstätigkeit im Uniklinikum Leipzig absolvierte sie ein Studium zum Diplom-Ökonom.
Ab Mitte der 70er Jahre war sie beim VEB Interdruck Leipzig Leiter der Wirtschaftskontrolle.
Die Autorin hatte einen Sohn aus erster Ehe. Ab den 80er Jahren war Frau Ockert in zweiter Ehe mit Erich Ockert verheiratet,  dem damaligen Ersten Solopaukisten  des Gewandhaus Leipzig.
Zur Wendezeit zog das Ehepaar nach Westdeutschland.
Als Witwe lebte Christa Anna Ockert mit ihrem letzten Lebenspartner Hary Guttman in Esslingen/Neckar.
Begraben ist sie in Leipzig.

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Christa: ICH SUCHE WAHRHEIT, WEG UND LEBEN

Heidelberg, April 1981. Christa Stiehm ist meine Chefin im VERLAG LAMBERT SCHNEIDER / LOTHAR STIEHM VERLAG. Bald ergänzen nichtgeschäftliche Hinweise, Assoziationen, Kommentare unsere gemeinsame Arbeit, mündlich wie auf Zetteln. Was berührt mich so an dieser Frau, hab ich mich gefragt, mit der ich außerhalb der Stunden im Verlag nichts zu tun hatte, die mit meiner sonstigen Lebenswelt kaum etwas zu tun zu haben schien?! –
Später hörte ich für rund 20 Jahre nur noch sporadisch von Christa. Ihre Scheidung von L. und der Verkauf des Verlags. Eine neue Lebenspartnerschaft. Anthroposophische Studien. Gemeinsam mit HFW dessen Haus gebaut. Später ein kleines eigenes Haus daneben gekauft und instandgesetzt. – Als wir vor einigen Jahren wieder Kontakt zueinander aufnahmen, hab ich mich getraut, auf ihre damaligen Zettel anzuspielen … und ob es vielleicht mehr Aufgeschriebenes gibt? Und ob sie sich vorstellen könnte, ein Buch draus zu machen? –
"Das ist doch alles nichts Besonderes, sowas erlebt doch jeder! Und wer will denn sowas lesen?" war ihre spontane Reaktion. "Ja, aber es ist etwas Besonderes, wie Sie mit diesem Erleben umgegangen sind... was Sie draus gemacht haben!" konnte ich schon aufgrund meiner Erinnerung an die Zeit im Verlag sagen.
Seit Anfang 2017 schickte sie uns (meiner Freundin Petra Bern und mir) nach und nach ihre Aufzeichnungen aus 50 Jahren: Tagebücher, einzelne Blätter, Briefe, ein Karteikasten, durchnummerierte Zettel und etliche Fotos, auch Briefe anderer. Wir durften lesen – mit der Frage, ob eine Veröffentlichung daraus werden könnte.

"Wat is los: nehme ich mich zu wichtig, oder nehm ich mich nicht wichtig genug. Es ist zum Kotzen." – steht auf einem Zettel an uns (28.11.17). Wer weiß, was jemand ist? Ich empfinde Christa als Mystikerin, die in allen Augenblicken sinnlich-konkretes, alltägliches Leben verwebt mit der Frage nach dem Ganzen, nach Wahrheit.Ein Schwerpunkt ihrer Wahrheitssuche ist Gott und "der Christus Jesus", axiomatische Begriffe sind Geist, Ich, Wille und Idee. Der andere Schwerpunkt ist die Suche nach mitmenschlichem Leben: in Liebe und Bindung, in sozialer Verantwortung und Partnerschaft. Es gibt vielleicht nur wenige Menschen, die dieses Spannungsverhältnis ein Leben lang ausgehalten und immer neu mit Sinn erfüllt haben; Christa gehört zu ihnen.
Allgemeinmenschliche ("private", "alltägliche") Situationen und Konstellationen nimmt Christa vorbehaltlos für wahr; ihre äußeren und inneren Erfahrungen werden bedeutsam über den Anlaß hinaus.Schlimme Lebenserfahrungen mit uns selbst und anderen haben wir alle. Zum fragwürdigen Konsens der sozialen Normalität gehört, daß wir mit derlei weitgehend allein "fertigwerden" sollen. Oft hat das zur Folge, daß wir Ungelöstes (vielleicht Unlösbares) innerlich wegzuschieben versuchen oder es billig rationalisieren. Das Besondere an Christas Aufzeichnungen ist nicht nur, daß sie überfordernde soziale (und spirituelle) Erfahrungen und Empfindungen redlich, subtil und doch einfach in Worte kleidet, sondern: wie sie mit ihnen umgeht. Sie verharrt nicht in den Fronten von Schuld und Schuldzuschreibung, sondern stellt dieser menschlich-allzumenschlichen Methode der Konfliktlösung das Vor-Bild Jesu Christi gegenüber. Obwohl ihr ethischer Anspruch dabei gelegentlich schier übermenschliche Höhe erreicht, verliert sie das Menschenleben hier und jetzt nicht aus dem Auge, aus dem Herzen. Erst müssen wir einige Gewißheit haben über unser "Ich", um eventuell den Schritt darüber hinaus machen zu können. Zugleich betrachtet Christa die Materie der Welt nicht nur dinghaft, sondern auch als Erscheinungen, als Spuren, Zeichen und Bilder, die uns in das Mysterium der Schöpfung hineinführen. – In diesem tiefgründigen (also "radikalen") Hineinhorchen in das Geheimnis des Menschseins und der Menschenwelt liegt das Kostbare ihrer Aufzeichnungen auch für LeserInnen, die Christas christliche Haltung nicht teilen.

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Claudia Beate Schill: IMMER WERDEN WIR FREMDLINGE SEIN

Eine Auswahl (1978-2009)
(Hrsg. Mondrian v. Lüttichau)

Freiheit zu neuschöpfendem sein findet die lyrikerin claudia beate schill im dschungel der wörter. Sie bricht durchs unterholz der sprache, schwirrt der sonne entgegen wie die lerche, sucht leben, sucht sinn - irgendwo zwischen paradies und apokalypse. Ich bin dankbar und froh, daß diese auswahl ihrer anrührenden, vieldeutigen, archaischen, liebevollen, versponnenen, trotzigen poesie bei AUTONOMIE UND CHAOS möglich wurde.
Enthalten ist auch ein wichtiges, bisher unveröffentlichtes 'Traktat aus einem Privatbrief über Lyrik'.

Claudia Schill starb am 11. November 2022. Eine Veröffentlichung zur Erinnerung an sie ist bei A+C in Arbeit.

Siehe auch die federzeichnungen 'Menschen in Bewegung' von claudia beate schill.

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Claudia Beate Schill: MENSCHEN IN BEWEGUNG

Ein im jahr 2010 entstandener zyklus von federzeichnungen der lyrikerin zeigt uns geradezu archetypische momente von lebenszugewandter menschlichkeit. Es sind bilder von meditativer durchsichtigkeit, bestimmt von tiefer menschenliebe und achtsamkeit.

Claudia schreibt in ihrem vorwort: "Alle Menschen bewegen sich aufeinander zu, voneinander fort oder treten im Zweifelsfalle auf der Stelle, ob sie das nun wollen oder auch nicht. Sich in Bewegung befindliche Menschen sind wie ein Wunder, was sie selbst kaum oder auch gar nicht wahrnehmen. Alles, was Odem hat, atmet, lebt, ist aufeinander angewiesen oder tauscht sich geistig oder finanziell aus. So verkörpert jeder einzelne Mensch seine eigene Welt, die mit ihm be­ginnt und aufhört. Weltgeschichten werden geboren und begraben. (...)Menschen wirklich, genau und nicht oberflächlich wahrzunehmen, ist mit der Feder einfacher auszuführen als mit irgendeinem technischen Apparat. Menschen in Bewegung sind genauso faszinierend wie Blumen, Vögel, Tiere oder Engel."

Siehe bei A+C auch den gedichtband 'IMMER WERDEN WIR FREMDLINGE SEIN'.

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DIE FOTOALBEN VON WALLY FLEISCHER AUS NEUKÖLLN

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Drei fotoalben, gefunden in einem westberliner trödel - unspektakuläre zeugnisse einer frau, die "gar nichts besonderes gemacht hat", aber sie hat ihr eigenes leben gelebt, schritt für schritt durch untiefen hindurch.. und ist ohne zweifel bis zuletzt sie selbst geblieben! Das ist keineswegs selbstverständlich, und es verdient achtung. Zeugnisse eines solchen lebens verdienen, bewahrt zu bleiben.Darum diese auszugsweise dokumentation der fotoalben von wally bahr, geborene fleischer.

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Diotíma: SCHULE DER LIEBE

(Bearbeitete neuausgabe: Mondrian graf v. lüttichau)

Dieses buch ist ein wunder! Es ist gewiß das radikalste, tiefste, liebevollste und weiseste, das in deutscher sprache je zum thema leibliche liebe geschrieben wurde. Diotímas haltung ist radikal in jeder weise: Liebe sieht sie als schrankenlose, tabulose sexuelle leidenschaft und hingabe und zugleich unbedingte und kompromißlos innigste nähe zweier menschen in ihrer individualität.

Zum thema eros im zeitalter der sexuellen revolution schreibt der sexualwissenschaftler volkmar sigusch: "Doch wenn wir genauer hinsehen, entdecken wir überall, oft hinter buntscheckigen Masken versteckt, ungestillte Sehnsucht, aufgeputschte Nerven, abgespeistes Verlangen, enttäuschte Liebe, eingeredeten oder tatsächlichen Missbrauch, Versagen, Heuchelei, Geschlechtszweifel, Sexismus, Angst, Schuld, Einsamkeit und Selbstsucht. Offenbar gähnt in unserer Kultur ein Abgrund zwischen unseren Wünschen und ihrer Befriedigung. (...) Eine in sich harmonische Möglichkeit des Erotischen und des Sexuellen ist nicht einmal theoretisch zu erkennen." ('Neosexualitäten', frankfurt/m. 2005, seite 50, 52) - Genau um solche möglichkeiten aber ging es lenore frobenius-kühn, der autorin des hier wiederveröffentlichten buches.

'Schule der Liebe' erschien 1930im Verlag Eugen Diederichs (Jena). Die neuausgabe wurde um rund 70% gekürzt. Herausgenommen wurden vor allem inhaltliche redundanzen und weitschweifige erörterungen, die vielleicht damals die funktion hatten, zensur-instanzen abzulenken. Einige zeittypische begriffe wurden durch heutzutage verständlichere ersetzt. – Die ausgabe enthält ein ausführliches nachwort des herausgebers.

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Erna Saenger: GEÖFFNETE TÜREN. Lebenserinnerungen 1876-1976

Neu im Dezember 2023

Erna Wehr, geboren im September 1876 in Kensau (Westpreußen) , gestorben im November 1978 in Berlin, stammte aus einer großbürgerlichen Gutsherrenfamilie. Bestimmend für ihr Leben war ihr alltäglich gelebtes Christentum sowie ihr Engagement für Kindererziehung und Sozialarbeit. So absolvierte sie ab 1896 eine Berufsausbildung im Pestalozzi-Fröbel-Haus (P.F.H.) Berlin, einer der ersten Ausbildungsstätten für das damals neue Berufsbild Sozialarbeit. Durch ihre Ehe mit dem preußischen Staatsbeamten Konrad Saenger lebte sie ab 1911 in Berlin in bildungsbürgerlichen Verhältnissen.
Kern ihrer Lebenserinnerungen waren Auszüge aus ihrem (lebenslang geführten) Tagebuch. Sie wurden von der Autorin organisch eingebunden in die direkt für das Erinnerungsbuch verfaßten Passagen. Das Buch ist ein Dokument der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit: zur Situation der Gutsherrschaft in Westpreußen (heute Polen) und zugleich zum Lebensgefühl preußischer Staatsbeamten und etablierter Akademiker in Berlin. Deutlich wird eine wie selbstverständliche Amalgamierung von preußischem Nationalismus (einschließlich des Glaubens an "das Urdeutsche") und christlichem Ethos mit Momenten der nazistischen Ideologie. So ist das Buch ideologiegeschichtlich möglicherweise repräsentativ für die entsprechende Schicht von Großbürgern, Beamten und Adligen in Deutschland (vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, im Nationalsozialismus sowie dann noch einmal aufflammend in den ersten Jahrzehnten der BRD).

Das Einzigartige liegt in der bis ins hundertste Lebensjahr ungebrochenen vitalen Reflexionsfähigkeit der Autorin, in die ihre lebenslang geführten Tagebücher einbezogen werden. Es entsteht ein seltenes Gleichgewicht der reflexiven Präsenz ihrer Lebenserfahrung, dies nicht als nostalgisch orientierte Rückschau, vielmehr nimmt die Autorin damalige Blickwinkel, Erfahrungen, Einschätzungen mit in die Gegenwart, konfrontiert heutige soziale, gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten mit ihnen und lädt ihre Leser*innen ausdrücklich zum Mitdenken ein. Dabei gelingt ihr ein "beidäugiges Sehen", aus dem wir viel lernen können. Dies wäre kaum möglich ohne eine ungebrochene Lebenszugewandtheit, die bei ihr viel mit ihrer Beheimatung im christlichen Glauben zu tun hat, aber auch in der Verbundenheit mit der Familie liegt. Kostbare Zeitzeugin ist sie auch, weil sie (subjektiv, mit Herz und Verstand) das politisch-soziale Leben spiegelt – einschließlich der Ideologeme und Verirrungen, denen auch sie unterworfen war. Erna Saenger hat lebenslang weitergelernt, jedoch ohne ihre Vergangenheit (wie sie in den Tagebüchern dokumentiert war) retrospektiv umzuinterpretieren.

Schwerpunkte der Lebenserinnerungen sind Kindheit und Jugend auf dem westpreußischen Gutshof – Aufenthalte in Berlin – Die Anfänge der Sozialarbeit – Erster Weltkrieg (nationalistisch-preußischer Taumel) – tätige Nächstenliebe in Kensau – Leben in Berlin (Dahlem) –Kirchenkampf im NS – lebendige Christlichkeit – Alltag im Zweiten Weltkrieg – Familienleben.

Saengers einfühlsame, genuin sozialarbeiterische Haltung zeigt sich nicht zuletzt in der nuancierten Darstellung des dörflichen Lebens in Kensau. Leid und Freude, Probleme, Begrenztheiten und persönliche Ressourcen der Kleinbauern und Landarbeiter werden in den skizzierten Dialogen vorstellbar.

Gespenstisch alltäglich liest sich der Bericht vom kollektiven Wahn zu Beginn des Ersten Weltkriegs, einem Wahn, mit dem die Autorin offenkundig noch 60 Jahre später identifiziert ist. Nachvollziehbar wird auch, wie die affektiv besetzte Deutschtümelei in den Kriegsjahren weiterging und, entsprechend pointiert, die Verinnerlichung der nazistischen Ideologie im Volk begünstigte und stabilisierte. Politik wird in Saengers Buch jedoch nicht problematisiert; sie schreibt: "Politik also nicht — historisches Geschehen umso mehr." Diese eigenartige Abgrenzung zieht sich durch Erna Saengers Buch. Politik ist das Parteiengerangel, menschliches Irren und Wirren, historisches Geschehen ist das Dauerhafte, womit "man" sich identifizieren möchte.

Während der NS-Zeit war Erna Saenger eingebunden in den Dahlemer Kreis der "Bekennenden Kirche" (um Martin Niemöller). Nicht nur in diesem Zusammenhang dokumentiert sie christliche Diskussionsprozesse und Kontroversen, so zwischen deutsch-völkischen ("heidnischen"), deutsch-christlichen und traditionellen christlichen Haltungen und den Positionen des "Kirchenkampfs".Die Bedeutung dieses Zeugnisses liegt nicht zuletzt darin, daß Erna Saenger sich auch hier ihr Selbstdenken erhalten hat und sich offenbar keiner der Gruppierungen pauschal angeschlossen hat. Selbst die "einseitige, prinzipielle Verurteilung der DC" (NS-nahe, antisemische Gruppierung Deutsche Christen) wollte sie "nicht mitmachen".

Nachvollziehbar wird für mich, wieviel Kraft (Ressourcen) es Menschen gegeben haben kann, für die der christliche Glaube, die Orientierung an christlichen Texten, Sprüchen und Liedern tatsächlich das alltägliche Leben mitbestimmt hat.
Sinnlich nachvollziehbar wird allerdings auch die Kehrseite dieser Christlichkeit. Mit den Ideologemen des christlichen Weltbild läßt sich alles menschlich Verwerfliche integrieren – nämlich als das zu Überwindende, wofür die christliche Religion die Werkzeuge selbstverständlich zur Verfügung stellt; das Böse, das sind Aufgaben Gottes. Auch das christliche Weltbild ist ein geschlossenes System, in dem alles seinen Platz findet, sobald es einmal geschehen ist: auch der Nazismus, der Stalinismus, jedes Verbrechen. Für jede Lebenssituation gibt es ein Bibelzitat, wodurch das entsprechende Phänomen in den Gesamtzusammenhang des christlichen Weltbilds gestellt werden kann; es liegt dann nur noch am Einzelnen, eine biblisch legitimierte Umgangsweise dafür zu finden; die Autorin macht es uns vor.

In Erna Saengers Buch entsteht der Eindruck, daß die Ablehnung der Nationalsozialisten in ihrem Kreis (auch innerhalb des sogenannten "Kirchenkampfes") zunächst vorrangig damit begründet wurde, daß die Nazis die beiden Amtskirchen nicht anerkannten. "Dem Nationalsozialismus stand Saenger ablehnend gegenüber. Insbesondere missfiel ihm, dass der Staat die evangelische Kirche immer mehr beeinflusste", heißt es in einer ausführlichen Würdigung Konrad Saengers. War das nun wirklich das Schlimmste, was den Nazis vorzuwerfen wäre?
Hitlers Buch MEIN KAMPF (1925/27) wurde offenbar weder von dem professoralen Philosophen Eduard Spranger noch im Umkreis der hochgebildeten Familie Saenger rezipiert.
Im Anhang des Nachworts werden beispielhaft einige Passagen aus Hitlers programmatischer Schrift dokumentiert. Ihre gnadenlose, wahnsinnige, in der Konsequenz mörderische Rationalität war die Kehrseite einer an christlicher Nächstenliebe und unbedingter Lebenszugewandtheit orientierten Gutbürgerlichkeit, von der Erna Saenger glaubwürdig und sympathisch erzählt.

(Aus dem Nachwort)

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Frances V. Rummell: DIANA … EINE BEFREMDLICHE AUTOBIOGRAPHIE

Neu im September 2023

1939 erschien in den USA ein Buch mit dem Titel: "DIANA – A STRANGE AUTOBIOGRAPHY". Als Autorin wurde "Diana Fredericks" genannt. Es war die erste in den Vereinigten Staaten veröffentlichte Darstellung eines individuellen lesbischen Coming Out.
Etwa 1960 erschien eine deutsche Ausgabe im Weltspiegel-Verlag (der vorrangig Pornoliteratur verlegte), unter dem Titel "DIANA – MEIN LEBEN - MEINE LIEBE - MEIN SCHICKSAL", hier unter dem Autorinnennamen "Diana Francis". Sie wurde vermutlich kaum wahrgenommen. (Dieser – sehr sorgfältig übertragene –Ausgabe liegt die hier vorliegende erste deutsche Neuveröffentlichung zugrunde.)

Die Identität der Autorin von "Diana" blieb unbekannt bis zum Jahr 2010. – Es handelt sich um Frances Virginia Rummell (1907-1969), eine promovierte Pädagogin und Kolumnistin.

Vieles scheint sich grundlegend geändert zu haben im Umkreis von Sexualität und Geschlechtsrollen (Gender) und dem möglichen und menschengmäßen weiten Spektrum innerhalb und jenseits der traditionellen Dichotomie von Hetero- und Homosexualität. Ein Grundproblem junger Menschen mit ihnen selbst noch unklarer "Geschlechtsidentität" bleibt jedoch gleich – und hat sich sogar verkompliziert in unserer pluralistischen Welt: das ist der quälende Zwiespalt zwischen der zunächst in der konventionellen Sozialisation angenommenen "normalen" Geschlechtsidentität und den hiervon (offenbar) abweichenden eigenen Empfindungen und Bedürfnissen.
Die Sozialisierung im Jugendalter hin zu einer selbstbestimmten "Geschlechtsidentität" ist und bleibt ein persönlicher, intimer Prozeß, der seine Zeit benötigt.

Die Autorin, eine hochintelligente, akademisch gebildete junge Frau, berichtet, wie sie sich in den zurückliegenden Jahren über ihre Empfindungen, ihre Situation in der sozialen Welt der 1930er Jahre und gegenüber dem Phänomen "Lesbischsein" klarzuwerden versuchte – noch ohne den Hintergrund einer lesbischen Community. Außer den wenigen frühen sexualwissenschaftlichen, medizinischen und psychoanalytischen Ansätzen zum Thema Homosexualität hatte sie nichts als ihre Lebenserfahrungen, über die sie dazuhin kaum mit Außenstehenden sprechen konnte.
Rummells Buch ist alles in allem der lebenskluge, anrührende, lehrreiche Bericht einer individuellen Entwicklungszeit, in der es keineswegs nur um sexuelle Neigungen geht. Es zeigt erschütternde Situationen menschlicher Wahrheit und menschlicher Hilflosigkeit. Auch die nuancierte Darstellung eigener Ressentiments, Ängste, Vorlieben, Überzeugungen und Schlußfolgerungen macht uns die Persönlichkeit der Autorin (die hierbei zweifellos mit ihrer Protagonistin identisch ist) auch in Momenten vorstellbar, die keinen direkten Bezug zu ihrer psychosexuellen Entwicklung haben, jedoch natürlicherweise zu deren Grundbedingungen gehören.
Dargestellt wird die kontinuierliche Orientierungssuche der Protagonistin zwischen den Vorgaben der "normalen" Gesellschaft und den Erfahrungen mit dem Lesbischsein. Dabei werden subtilste Schwankungen des Selbstwertgefühls und der inneren Impulse nachvollziehbar. Sachte wandelt sich der Blickwinkel der Protagonistin im Verlauf der Handlung. Zunächst geht sie vorbehaltlos von der übergeordnet legitimierten heterosexuellen Normalität aus, dann entwickelt sich schrittweise ihr Selbstverständnis einer ebenso natürlichen potentiellen Normalität des Lesbischseins. Dies geht allerdings nicht so weit, daß sie demgegenüber jetzt die heterosexuelle Gesellschaft in Frage stellt.

Nachvollziehbar wird in Frances Rummells Buch, wie Lesben damals alle sozialen Üblichkeiten überprüfen mußten: Vieles mußte zuerst pauschal abgelehnt werden (weil es zur "normalen" Gesellschaft gehörte), bevor im Einzelfall entschieden werden konnte, daß es durchaus auch für Lesben (bzw. für die konkret reflektierende Frau) akzeptabel sein könnte (z.B. mit Frauen zu tanzen). Das gesamte Gefüge der innerhalb der "normalen" (heterosexuell orientierten) Gesellschaft verinnerlichten kindlichen/jugendlichen Sozialisation mußte Stein für Stein umgebaut werden.
Deutlich wird in diesem Bericht auch der gnadenlose normative Druck der gesellschaftlichen Sozialisation, dem sich nur wenige Menschen, und auch die nur mühsam, entziehen können.

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Gabi Lummas: WER BIN ICH? oder DAS UNGLAUBLICHE

Gabi lummas hat Rituelle Gewalt überlebt - schrecklichste psychische und körperliche traumatisierungen in der kindheit. Sämtliche erinnerungen daran waren bei ihr über viele jahre vollständig abgespalten. Als einzige botschaft von innen fungierten zunächst schlimme selbstverletzungen seit dem neunten lebensjahr. Später entstanden eine fülle von tonfiguren, die auf hohem künstlerischem niveau inneres leid nach außen zu vermitteln suchten, Aus tagebüchern entstand 1999 ein erstes, recht bekannt gewordenes buch: 'Verschlossene Seele'.

Zeitweise unterstützt durch traumatherapie, begibt gabi lummas sich in den folgenden jahren auf den weg nach innen, - sie sucht nach ihrer verschlossenen seele. Tagebuchauszüge aus den jahren 1998-2008, träume und passagen aus der traumatherapie sowie abbildungen von tonfiguren sind in dieser neuen veröffentlichung zusammengefaßt. Vielleicht noch nie wurde auch nur annähernd differenziert eine derartige selbstentwicklung dokumentiert, - eine von verzweiflung, resignation und wütendem hadern mit dem schicksal (und mit Gott) unterbrochene zunehmende achtsamkeit für eigene abgespaltene erinnerungen, empfindungen und botschaften, - solidarität für die inneren kinder, die grauenhaftes überleben mußten.

Wohl kein außenstehender ahnt, wie qualvoll für einen traumaüberlebenden das oft jahrelange gefangensein in den eigenen traumafolgen ist, - tag für tag ängste, unverständliche bilder und empfindungen, verwirrung, hilfloses nachdenken - und zumeist keine begründung dafür. Niemand, mit dem man darüber sprechen kann. Immer wieder die verzagte überlegung: Und wenn ich doch verrückt bin und mir alles nur einbilde? Bin ich eine simulantin? -

Mit unbegreiflicher lebenskraft und viel reflexiver intelligenz tastet gabi lummas sich durchs unterholz ihrer traumatischen vergangenheit, - mutterseelenallein, wie sie es zeitlebens nicht anders kannte. Ängste, gedanken und verzweiflung kreisen im kopf, nur in winzigen schrittchen, mit unzähligen wiederholungen und konkretisierungen findet sie heraus aus dem labyrinth der dissoziativen abspaltungen. Leiten läßt sie sich von der zunehmenden gewißheit, daß sie - als kind! - das schreckliche definitiv überlebt hat. Die entsprechenden lebenskräfte sind also in ihr bewahrt; an sie gilt es anzuknüpfen. Trotz der zeitweise fruchtbaren traumatherapie bleibt es im wesentlichen ein einsamer, gleichwohl selbstbestimmter heilungsweg, auf dem gabi lummas sich bis heute befindet. Traumakonfrontation und integation entwickeln sich dabei rigoros nach maßgabe innerer kräfte, qualvoll langsam, oft an der grenze zur desintegration, andererseits als bedingungslos authentischer nachreifungsprozeß. Bedeutsame voraussetzung dazu war die schwere, dann aber kompromißlose entscheidung gegen die opferrolle und für eigene selbstverantwortlichkeit: der wille, zugang zu finden zur verschlossenen seele.

(Nachwort mondrian v. lüttichau)

Achtung Triggerwarnung!

Das buch enthält durchgängig deutliche hinweise auf sexuelle gewalt, folter und rituelle gewalt!

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Gabi Lummas: WUNDERSAME WEGE

Gabi lummas hat Rituelle Gewalt überlebt. Sämtliche erinnerungen daran waren über viele Jahre vollständig abgespalten. Aus tagebüchern entstand 1999 ein erstes, recht bekannt gewordenes buch: VERSCHLOSSENE SEELE (Frankfurt/M. 1999). Zeitweise unterstützt durch traumatherapie, begab gabi lummas sich in den folgenden jahren auf den weg nach innen, - sie suchte nach ihrer verschlossenen seele. Tagebuchauszüge aus den jahren 1998-2008, träume und passagen aus der traumatherapie sowie abbildungen von tonfiguren sind in einer veröffentlichung hier bei AUTONOMIE UND CHAOS zusammengefaßt: WER BIN ICH? ODER: DAS UNGLAUBLICHE (Berlin 2012).

Im vorliegenden dritten buch dokumentiert gabi lummas eine neue phase ihres rigoros selbstbestimmten heilungsweges. Mittlerweile liegt der schwerpunkt auf botschaften von innen. Für diese dokumentation wurden bilder und ausgewählte träume zusammengestellt.

Die "erwachsene Gabi" hat jetzt kaum mehr kraft für ein aktives alltagsleben: "Am meisten leide ich darunter, dass ich in den letzten sechs Jahren zu einem 'Nichts' geworden bin, das es sich so anfühlt als hätte ich nie und nimmer was Schreckliches erlebt?!? Nur in der Nacht in meinen Träumen herrscht ein reges Leben aber am Tage bin ich nur noch eine hohle Fleischmasse, die sich durch den Tag schleift! Ich bin nur am Raten und am Protokollführen." (Mail vom 23.5.15) Aber die "erwachsene Gabi" ermöglicht durch ihre existenz dem inneren, der seele, sich darzustellen. In den bildern geschieht dies indirekt, abgespalten, symbolisch – in den träumen umso konkreter, sinnlicher.

Neben all dem leid zeigt sich in den träumen ein unzerstörbarer lebensstrom, gabis dem leben in liebe zugewandte persönlichkeit – aber wo wäre das leben nach den zu ahnenden brutalen traumatisierungen in der kindheit?Lummas' selbstbestimmter heilungsweg ist eine form der Negativen Dialektik (theodor w. adorno): in ihrem radikalen NEIN zu zerstörung, zu leid und demütigung liegt der blick auf DAS ANDERE – auf unschuldige wesen, tiere, kinder, beeinträchtigte und pflanzen; – selbst in den horrorträumen (erinnerungsträumen?) spürt gabi lebensspuren auf und erkennt diese als WAHRHEIT.

Deutlich wird ihr unbedingter impuls, hilfreich einzugreifen, wo sie hilflosigkeit wahrnimmt. "Ich leide unter all den Nöten, die hier auf Erden geschehen", steht im kommentar zu einem traum. So erlebe ich gabi lummas auch in der persönlichen begegnung.

Tiere und pflanzen, natur sind für gabi wohl existentielle momente von urvertrauen. Sie selber vermutet: "Es muss also die Liebe zu Gott sein, die mich diesen 'mysteriösen Starrezustand' ertragen läßt, anders kann ich mir diesen ganzen Prozess nicht erklären??????" (Mail vom 4..6.15)

Zunehmend erkennt gabi lummas bedingungen, möglichkeiten und zielsetzungen ihres organisch sich entfaltenden heilungsprozesses. Dieses buch dokumentiert wundersame wege der traumaheilung von innen her, die wohl nur intuitiv erspürt und entfaltet werden können – von traumaüberlebenden selbst wie auch von helferInnen, therapeutInnen.

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Gudrun Tuulia: DIE ERDE IST EIN BEFREMDLICHER ORT. AFRIKA 1

"Wie soll ich sanft sein, wenn rundherum Krieg ist. Sanftheit. Tiger. Pures Sein. Krieger. Schleicher. Unberechenbar. Skorpion. Man lebt allein, man stirbt allein. Vom Zehnmeterbrett in die Leere springen. Durchtauchen und ein goldener Schild aus Licht. Schützend, heilend. Darunter beginnt sich die Wunde zu schließen. Unter einer Pyramide aus Gold und Licht. Uralt. Mir scheint es ewig, dass ich von einer Welt zur anderen wandere, und das ganze ist wie ein einziger langer Tag. Von einem Leben zum nächsten. Nicht anders als die Schuhe zu wechseln. Die letzten paar hundert oder tausend Jahre als Beobachterin und Zeugin, eine Art Auslandskorrespondentin für das universelle Archiv." GUDRUN TUULIA

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Harriet v. Rathlef-Keilmann: ANASTASIA? – EINE UNBEKANNTE KÄMPFT UM IHRE IDENTITÄT

 Aktualisierte Neuausgabe der Veröffentlichung von 1928, herausgegeben von Mondrian Graf v. Lüttichau

Am 17. Februar 1920 sprang eine junge Frau von der berliner Bendlerbrücke in den Landwehrkanal, im Versuch, sich das Leben zu nehmen. Sie wurde gerettet. Nach manchem Hin und Her stellte sich heraus, daß die Unbekannte sich als Anastasia verstand, eine der Zarentöchter, die offiziell zusammen mit der gesamten Zarenfamilie 1918 innerhalb der bolschewistischen Revolution ermordet worden war.

Durch Zeitungsmeldungen über die (angeblich) überlebende Zarentochter kam es zu Kontakten mit Menschen, die die Zarenfamilie gekannt hatten. Beweise für ihre Identität konnte die Unbekannte nicht liefern. Unter den BesucherInnen entstand eine wilde Mischung aus bestätigendem Erkennen von Einzelheiten, zutreffenden (privaten) Erinnerungen; andere Personen konnten oder wollten die Unbekannte jedoch nicht als Anastasia erkennen oder führten Indizien an, die gegen diese Identität sprachen. – So fing es an. Die Frage: Ist sie die wahre Anastasia oder nicht?beschäftigte von nun an über Jahrzehnte die Medien in allen europäischen Ländern und den USA, bewegte  unterschiedliche Menschen, die Anna Anderson (wie sie später genannt wurde) kennenlernten.

Die Unbekannte starb 1984; bis zuletzt hat sie die Wahrheit ihrer Identität mit der Großfürstin Anastasia aufrechterhalten. Aufgrund von DNA-Vergleichen gilt es jedoch seit zehn Jahren als bewiesen, daß die Unbekannte nicht die Zarentochter Anastasia war. – Aber so einfach ist das nicht.

Nach der Lektüre der hier erstmalig wiederveröffentlichten Primärquelle von Harriet Rathlef-Keilmann (1928) sowie des nuancierten Sachbuchs von Peter Kurth (1988) kann ich nur zu einem Schluß kommen: Diese Frau war Überlebende schwerer traumatischer Erfahrungen; mit einiger Wahrscheinlichkeit hatte sie zudem neurologische Ausfälle, die von Schädel-Hirn-Traumatisierungen (Gewalteinwirkungen) herrühren können. – Ob sie die Zarentochter Anastasia ist, kann auch ich nicht wissen; nach allen Zeugnissen gehe ich allerdings davon aus. Diese Frage ist jedoch nicht Intention dieser Neuveröffentlichung.

Im Vorwort seines Buches schreibt Peter Kurth: "Alle, die Anastasia umgaben – die Großfürsten und Großfürstinnen im Exil, die ausländischen Cousins, die früheren zaristischen Heeresoffiziere und die listigen Kammerzofen –, hatten, wie sie, ihren festen Platz und ihren Lebenssinn verloren. ANASTASIA ist also ein Buch über Flüchtlinge. Es handelt von entwurzelten Menschen, die von einer für vollkommen gehaltenen Vergangenheit geblendet wurden, die einen tiefen Groll empfanden und durch ihre Unsicherheit gelähmt waren. Es handelt von qualvoller Unschlüssigkeit und gewaltigen Mißverständnissen. Und schließlich und vor allem ist es die Geschichte einer einst mächtigen Dynastie, deren Gesetze und Traditionen nicht ausreichen, ein plötzlich auftauchendes Problem zu meistern; es ist die Geschichte einer Familie, die während der Russischen Revolution dezimiert, im Exil zerstreut und dann aufgefordert wurde, eine gebrochene, labile und Gegenbeschuldigungen erhebende Frau zu akzeptieren, die nur wenige als normal, geschweige denn als einzige Erbin des Zaren anzuerkennen bereit waren. Die Antwort auf das Rätsel Anastasia liegt nicht in Rußland, sondern im Herzen der Familie Romanow, wo Stolz und äußerer Schein jedes Mitgefühl verdrängten und das ein menschliches Wesen zu einem Leben in einer schwer erträglichen Welt aus Vorwürfen und Zweifeln verdammte. (…) Ob die Streitursache in einer Verschwörung der einen oder anderen Fraktion zu suchen war, schrieb eine Freundin von Frau Anderson, ob in einer unglücklichen Abfolge von Zufällen oder bloß in blinden Vorurteilen und Ignoranz …, eine Tatsache fällt unter allen anderen auf: Es scheint der Fluch der Romanows zu sein, daß sie unfähig sind, ein offenes Wort miteinander zu sprechen. Die Auseinandersetzung hätte niemals vor einen Gerichtshof gebracht, sondern ohne Groll friedlich und gütlich geführt und im privaten Familienrat beigelegt werden müssen. "

Lothar Nobel, Arzt im berliner Mommsen Sanatorium, schrieb in seinem Gutachten (1925): "Über ihre Vergangenheit hört man von ihr nichts. Sie ist im Gegenteil ängstlich bemüht, jeder Frage dieser Art auszuweichen. (…) Dann wiederum sagt sie mir bei meiner Unterhaltung, es sei schrecklich, sie gebe sich die größte Mühe, all das Gräßliche, was sie erlebt habe, zu vergessen, und immer wieder käme jemand, um alles wieder aufzurühren, wodurch sie dann wieder traurig und verzweifelt wäre."  

Bei der Beschäftigung mit den vorliegenen Zeugnissen ging es mir nicht darum, irgendetwas zu beweisen, vielmehr möchte ich die innere Wahrheit der Unbekannten, ihre Identität mit sich selbst, in den Vordergrund stellen. Natürlich habe auch ich mich gefragt, ob sie es ist oder nicht. Ich weiß das nicht. Aber die Fülle ihrer nuancierten und affektiv (auch ichdyston!) besetzten Erinnerungen an Aspekte des (unbewiesenen) früheren Lebens, einschließlich nonverbaler Reminiszenzen, dies über das ganze spätere Leben hinweg und unterschiedlichen Personen gegenüber, würde bei Adaptation einer fremden Biografie die kognitiven, schauspielerischen Möglichkeiten wohl jedes Menschen übersteigen, auch bei einer psychopathologischen oder bewußt hochstaplerischen Variante. Auch Anastasias kontinuierliche Neigung, potentielle HelferInnen durch taktisch unkluges Verhalten gegen sich aufzubringen, läßt sich nicht vereinbaren mit der Intention, Glaubwürdigkeit für ein angemaßtes Schicksal zu erringen. Auch widerspricht es tiefenpsychologischer Erfahrung, daß jemand eine falsche Identität affektiv und intellektuell über 60 Jahre konsistent durchhält, ohne daß die ursprüngliche Identität aus Kindheit und Jugend gelegentlich in relevanter Weise zutage tritt. Das gilt auch für Psychotraumabetroffene mit dissoziativen Amnesien.

Die kriminalistische, paläopathologische, kriminalarchäologische Bedeutung von DNA-Analysen ist nicht zu bestreiten; Möglichkeiten, Methoden und Grenzen unterliegen jedoch der fortschreitenden Erkenntnis. Auch Irrtum, interessengeleiteter Mißbrauch und Schlampigkeit kann niemals ausgeschlossen werden. All dies gilt für jede Wissenschaftsdisziplin.

Harriet v. Rathlef-Keilmanns Buch von 1928 (Titel der Originalausgabe: Anastasia. Ein Frauenschicksal als Spiegel der Weltkatastrophe) steht im Mittelpunkt auch dieser aktualisierten neuen Veröffentlichung. Harriet Ellen Siderovna v. Rathlef-Keilmann (1887–1933) war Bildhauerin. Sie wuchs auf in Riga, zu jener Zeit Hauptstadt des russischen Gouvernements Livland, in einer assimilierten, großbürgerlichen, deutsch akkulturierten jüdischen Familie. – Mit ihrem Mann Harald v. Rathlef (1878–1944) hatte sie vier Kinder. – Auf Grund der Bürgerkriegswirren floh die Familie im Dezember 1918 nach Deutschland. Dort studierte Harriet Kunst, unter anderem im Bauhaus (Weimar). Unter den Einflüssen der Bauhaus-Werkmeister Gerhard Marcks, Johannes Itten und Lyonel Feininger wandte sich die Künstlerin ab vom bildhauerischen Naturalismus hin zum Expressionismus. – Ihre Eltern sowie einer der beiden Brüder wurden Opfer der nationalsozialistischen Deutschen. Wie einige ihrer Künstlerkollegen bereitete sich Harriet auf die Emigration nach Paris vor. Ein Blinddarmdurchbruch durchkreuzte ihre Pläne. Sie starb am 1. Mai 1933, nachdem eine befreundete Ärztin noch versucht hatte, in ihrem Schöneberger Atelier (An der Apostel-Kirche 14) per Not-OP ihr Leben zu retten. – Viele ihrer Werke sind verlorengegangen.

Schwerpunkt einer Veröffentlichung zum Thema Anastasia kann im Jahr 2019 nicht mehr die juristische, kriminalistische Argumentation sein. Für den öffentlichen Mainstream gibt es die "unumstößlichen Beweise" qua DNA; nur das zählt noch. Mein Schwerpunkt ist demgegenüber, wie schon angedeutet, die zwischenmenschliche Botschaft in diesem Schicksal. Da hat eine Frau lebenslang um ihre Identität gekämpft – und die Zeugnisse dieses Kampfes dokumentieren tiefe Anteilnahme derjenigen, mit denen sie zu tun hatte; sie berühren wohl noch heute die meisten Menschen. Ob sie es jetzt "wirklich" ist oder nicht, entkräftet die zwischenmenschliche Wahrheit dieses Geschehens nicht oder kaum. Menschliche Wahrheit findet sich auch in künstlerischen Werken (was wäre sonst Kunst?) – und wird nicht dadurch obsolet, daß wir wissen, es gab keine Tosca, gab keine Anna Karenina. Manches läßt sich nicht beweisen – außer durch seine Evidenz. Dazu gehört auch Liebe, gehören spirituelle Erfahrungen.

Zweiter Schwerpunkt der neuen Veröffentlichung sind die aus fachlicher Sicht heute offensichtlichen psychotraumatischen Folgeschädigungen der Unbekannten. Die entsprechenden Zeugnisse ihres Verhalten, ihrer Aussagen, ihrer Verweigerungen, ihres bekundeten Leids sind geradezu exemplarisch für entsprechende Symptomatik. Aber was ging in dieser Unbekannten vor, falls sie nicht die Zarentochter war?

(Aus der Einleitung zur Neuausgabe)

Als historische Quelle wurde zusätzlich die Originalausgabe von 1928 (als Faksimile) wiederveröffentlicht.

Heidi schmidt: DAS AKROBATENBUCH

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Heidi schmidt war eine originäre kreative stimme der feministischen kunst & literatur in der BRD. 1974/5 erschienen von ihr drei schmale bücher mit prosa, 1979der hier wiederveröffentlichte band:szenen einer lebensgeschichte in aquarellen und zeichnungen.  

Heidi ging es darum, rollennormen und sozialisationsgrenzen, denen frauen unterworfen sind, im wirklichen leben sinnlich-emotional zu überschreiten, - selbstbestimmt erfahrungen zu machen, diese selbstbestimmt zu interpretieren und zu beschreiben.Dazu gehörte die zunehmende bewußtheit um eigene seelische verwundungen und entfremdungsformen, aber auch die abgrenzung von damals vorherrschenden ideologemen: "man sagt guck mal da kommt das politgroupie es ist noch nicht entschieden wer links ist und wer nicht ich bin nicht in der lage trennungen zu akzeptieren".

Heidi hatte bei all ihren individuellen nöten mehr autonomie, mehr revolutionäre lebendigkeit als viele der '68er-ideologInnen: "weil wir lügen sind wir unverständlich weil ein missverhältnis zwischen unseren ansprüchen von uns und uns als person besteht gibt es kompliziertheiten gibt es etwas zu verschweigen etwas 'uninteressantes' 'das private ist nicht so wichtig bei der politischen arbeit' aber ich kann doch nicht trennen ich will nicht trennen das würde mir den kopf zerreissen".

Die entfremdung im sozialen alltag und innerhalb der gesellschaftlichen strukturen hat seither zugenommen. Andererseits sind neue widerstandsformen entstanden, auch das bewußtsein über geschlechtsrollen und instrumentelle vernunft scheint im alltag angekommen zu sein. Heidi schmidts sinnlich-konkret dargestellte schrittweise bewußtwerdung der eigenen verinnerlichten entfremdung und deren korrespondenz mit der sozialen "normalität" hat an aktualität nicht verloren.Heidi war radikal - wenn auch kaum im sinne der damaligen linken gruppennormen. Ihre arbeiten kamen wohl 30 jahre zu früh.

Niemand scheint zu wissen, was aus heidi schmidt geworden ist. - - Ich mochte nicht hinnehmen, daß diese künstlerin und autorin ganz vergessen wird!

(Mit einem bibliografischen nachwort.)

Heidi schidts textbücher wurden im jahr 2019 bei A+C wiederveröffentlicht (unter dem gesamttitel "Das wahrnehmen der schwingungen und der buntheit  zwischen den geschehnissen macht das leben voll" - hier!

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HEIDI SCHMIDT: das wahrnehmen der schwingungen und der buntheit zwischen den geschehnissen macht das leben voll

Tagebücher, texte, gedichte, bilder und ein stück, entstanden 1973 bis 1976

Heidi schmidt war radikal in ihrer suche nach wahrhaftigkeit – und tapfer in ihrer einsamkeit, die sich durch solche wahrhaftigkeit gewiß nicht ändern konnte! Sie erkannte, daß die gleichaltrigen der '68er-zeit, der alternativkultur mehrheitlich nicht wahrhaftiger (nicht weniger entfremdet, verdinglicht) waren als die majorität der erwachsenen, der sie zu entfliehen suchte. Eine bittere, schmerzhafte erkenntnis, wenn zugleich die sehnsucht nach beziehung, liebe, bindung, sozialer gemeinsamkeit so stark ist wie bei heidi schmidt. "sie rufen die leute zusammen sie wollen etwas wichtiges sagen und sie erzählen nichts von sich sie achten immer darauf wie die anderen es hören was sie sagen es ist wie im kino"

Voraussetzung solch leidenschaftlicher, radikaler und sprachgewaltiger selbstbefragung (und befragung der sozialen normalität) ist wohl immer ein moment indivueller verrücktheit. Ich lass' das jetzt mal so stehen. Die damalige alternativ-scene konnte jedenfalls mit heidi schmidts büchern mehrheitlich wenig anfangen. Offenbar hat kaum jemand damals verstanden, "dass meine andersartigkeit / und mein nicht-mitmachen-wollen / eine chance wäre".

Heidi schmidts tagebücher, texte und gedichte können unter dem blickwinkel ihrer einsamkeit, ihrer beziehungslosigkeit und isolation gelesen werden, sie können aber auch gelesen werden als zeugnisse ihres lebenswillens, ihrer kritischen kreativität, ihrer achtsamkeit für momente von entfremdung, verdinglichung – nicht nur bei anderen menschen, sondern auch bei sich selbst. Durch ihre erschütternd schonungslose ehrlichkeit sich selbst gegenüber – auch im bemühen, kompensationsformen, rationalisierungen und andere selbsttäuschungen zu entlarven, ihre seelischen verrücktheiten zu verarbeiten, werden ihre texte zu einer radikalen, wenn auch äußerst egozentrischen selbsterkundung. Indem heidi vorbehaltlos ihre individuelle selbsterfahrung formulierte, spricht sie für viele, viele menschen, denen es nicht gegeben ist, so tief in ihr inneres zu loten: "es gibt innere stimmen die dir antworten die stärker sind als jede traurigkeit wenn du dich nur richtig fragen kannst". Ihr eigenes leben und leiden, hoffen und sehnen, ihre resignation und verzweiflung wurde ihr zum erkenntnisinstrument für den zustand der beziehungen von menschen in unserer gesellschaft. Antriebskraft dieser tagebücher, gedichte, textfragmente und bilder war ihr individuelles leid ebenso wie ihre kreative intention: ihr eigenes leben wurde zum kunstwerk, dessen schöpferin sie war.

Heidi schmidts AKROBATENBUCH (ihre bilder) wurde bereits früher bei A+C wiederveröffentlicht - hier!

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Helga Kaschl: FRAUEN IN VIRGINIA WOOLFS HOGARTH PRESS

Virginia Woolf (1882-1942), die bedeutende Schriftstellerin der Moderne, hat lebenslang protestiert gegen Marginalisierung kreativ arbeitender Frauen, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb ihres von den gesellschaftlichen Konvention vorgegebenen Lebens als Ehefrau und Mutter oft nicht einmal "ein Zimmer für sich" (A Room of One’s Own)hatten, um ungestört an literarischen, wissenschaftlichen, musikalischen oder bildnerischen Werken arbeiten zu können. Zusammen mit ihrem Mann Leonard Woolf gründete sie 1917 die HOGARTH PRESS, einen Verlag, in dem Werke weiblicher Autorinnen ein besonderes Gewicht hatten: Schriftstellerinnen, Dichterinnen, Wissenschafterinnen, Journalistinnen, Politikerinnen, Frauenrechtlerinnen / Feministinnen. Die in der HOGARTH PRESSE veröffentlichten Autorinnen gehören zur ersten Generation von Frauen, die sich in ihrem Schaffen nicht mehr vorrangig an männlicher Kreativität orientieren mußten.
Die österreichische Wissenschaftlerin Dr. Helga Kaschl stellt in ihrer bei A+C als Originalveröffentlichung erschienenen Arbeit 77 dieser Autorinnen in ausführlichen biobibliographischen Artikeln vor. Dabei werden jeweils alle wesentlichen Werke der Autorinnen genannt, also nicht nur die in der HOGARTH PRESS veröffentlichten. Ergänzt wird die umfangreiche Arbeit (448 Seiten) durch viele Abbildungen und einige kurze Hintergrundtexte. Helga Kaschls fachlich äußerst nuancierte Dokumentation ermöglicht uns einen speziellen Blick auf die Kreativität von Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Für A+C ist es eine Ehre, daß die Autorin ihre Arbeit bei uns veröffentlicht!

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Irene Forbes-Mosse: ALTE WEGE GEHN..

Mit Hinweisen auf Vernon Lee

Mit dieser neu zusammengestellten Sammlung erscheint bei A+C die vierte und letzte (Wieder-)Veröffentlichung von Werken der fast vergessenen Dichterin Irene Forbes-Mosse (1864-1946).

Oft liegt der Sinn ihrer Erzählungen in dem mit wehmütig-ironischem Abstand geschilderten Kaleidoskop der "Gegenstände" (wozu auch Umgangsformen, Formulierungen, Begriffe und soziale Konventionen gehören), in denen das Lebensgefühl, die Identität die Personen verwurzelt ist. – Aber es geht darüber hinaus, denn "alles hatte seine heimliche Sprache" – die von den Menschen erspürt werden kann.

Nicht selten geschieht kaum etwas in ihren Texten als das pure Leben. Ja: fast pflanzliches Leben ist es, das eben auch zu uns Menschen gehört oder gehören sollte: entschleunigte Zeit. Forbes-Mosse erzählt vom sozialen Leben kaum anders als von der sogenannten "Natur"; es gibt keine grundsätzlichen Verschiedenheiten zwischen ihren Empfindungen, ob ihr dies oder jenes herzensnah wird – das ist wohl ein Schlüssel zu dem Zauber, den ihre Geschichten in uns wecken. Denn schließlich sind wir ja – praktisch, sinnlich, gegenständlich – Momente dieser Natur.

Irene Forbes-Mosses Geschichten haben keine Moral von der Geschicht', in ihnen spricht Liebe zur Welt, eine zärtliche, achtsame Menschenliebe.Dies nicht in idealistischer Träumerei, sondern in klarem Blick auf all die menschlichen Schwächen, Einseitigkeiten und Unvollkommenheiten, die untrennbar auch zum Leben gehören. Ernst und Spaß gehen bei Forbes-Mosse oft ineinander über: Kaleidoskope des Lebens!Einseitig ist natürlich auch diese Haltung dem Leben, der Menschenwelt gegenüber – wie jede andere.

In hintergründig-versponnener, unaufdringlicher Weise ist sie eine feministische Autorin. Forbes-Mosse schreibt "Frauenbücher" – aber nicht im Sinne der Unterhaltungsliteratinnen, sondern weil sie Frauen zweifellos mehr, nein: subtiler lieben kann als Männer. Die haben in ihrem Werk oft nur eben ihre Aufgaben im Plan der Schöpfung; demgegenüber frappiert, wie selbstverständlich die Welt der Frauen beim Lesen wird: "Le palais des taupes, quoi! Gott, wie es da aussah. Überall lagen die Tanten herum, auf allen Sofas, des vieilles avec des burnous, mit gelben Babuschen an den bloßen Füßen und die Hände voll kostbarer Ringe – und die Nägel gelb von Tabak."

Abgesehen von Gedichten hat Irene Forbes-Mosse erst nach dem Tod ihres Mannes 1904 zu schreiben begonnen, da war sie vierzig. Aus einer unabweisbaren inneren Notwendigkeit, sich auszudrücken, ihr schon aus der Kindheit bezeugtes überreiches inneres Leben zu verwirklichen, aber auch um ihr Leid, den Tod geliebter Menschen, den Verlust der Kindheitsheimat zu verarbeiten, wurde sie zur Schriftstellerin – so darf vermutet werden.

Ein eigenes Gewicht haben ihre Gedichte. Viele von ihnen gehören zur bewahrenswerten deutschsprachigen Lyrik Anfang des 20. Jahrhunderts, obwohl sie zum offiziellen literaturwissenschaftlichen Kanon der "Moderne" nicht passen. Im Gegenteil: diese Gedichte (nicht alle von ihr) schlagen die Brücke zurück bis zu Goethe, sie atmen, sind unprätentiös und nichts weniger als epigonal oder bildungsbürgertümlich.

Eine besondere Bedeutung nahm in Forbes-Mosses Leben die Freundschaft mit der Essayistin und Kunsthistorikerin Vernon Lee ein, deren eigenartiges und kompromißloses Werk (und Leben) im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert wurde. Auch deshalb wurden Hinweise zu  Vernon Lee in diese Veröffentlichung aufgenommen.

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Irene Forbes-Mosse: EIN KLEINER TOD. Prosa, Lyrik, Zeugnisse

Abgesehen von einigen gedichtbänden begann Irene Forbes-Mosse (1864-1946) erst nach dem tod ihres mannes (1904) zu schreiben. Ihr werk, novellen, erzählungen und zwei kurze romane, ist mittlerweile vollständig vergessen. Erwähnt wird sie allenfalls als enkelin bettine und achim v. arnims.

Der dichter karl wolfskehl, wie sie nach 1931 im exil, schreibt ihr 1935 über ihre erzählungen:

"(…) entzückt und bewegt mich der märchenhafte Reichtum, der aus so viel sicheren und originellen Einzelzügen, so viel farbigen Tupfen, Bildern und Bilderfolgen zusammenschmilzt, die, zart und stark zugleich, in sich selber bestehen, aus sich selber zu wachsen scheinen. Was Sie alles wissen, sehen und aufspüren! Das ist nicht mehr Beobachtung oder bloßes Wissen um Charaktere, Altersstufen, menschliche Bezüge, Toilettengeheimnisse und Gastronomie (…): es ist bei Ihnen immer, als erfaßten Sie die geheimnisvollen Fäden, das gesamte Astralgewebe, aus dem Situationen und Begebnisse erst ihren Sinn erhalten. Alles Halbtonige, das "Zwischen", der abschattende Hauch, den der Gang der Dinge rückläßt, das Unausweichliche eines Schicksalswegs und das süße Mitfühlen des Lieblich-Unzulänglichen alles Erdendaseins: das sind die Elemente, aus denen Ihre Figuren gehoben und gestaltet sind, daraus sie wachsen und welken. Dabei als Gefühlsstand eine warme, mitzitternde Klarheit, sie verbirgt sich und andern nicht die kleinste Falte, verbietet sich kein Lächeln und keine Ironie –– wer kann heut noch so wundervoll boshaft sein, so fein und selbstgewiß doch auch des andern, des Angeschauten Teil und Recht mit freundlichem Achselzucken wahrend, die armen, tölpischen Kinder, genannt Erwachsene, also auf ihr Getue und Getapse hin ansehen und rubrizieren! Eigentlich gilt Ihr stärkstes, Ihr ganz mitzitterndes Schauen und Erkennen ja doch jener unheimlichen, aus Frohlocken und Trübsinn gewobenen, noch halb jenseitigen Zwischenwelt kurz vor Tage."

Diese erste wiederveröffentlichung enthält die aufzeichnungen "Der kleine Tod", ausgewählte gedichte sowie ein biografisches nachwort mit briefauszügen und anderen zeugnissen von zeitgenossen. Weitere werke irene forbes-mosses werden bei A+C folgen.

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Jeannette Lander: AUS MEINEM LEBEN

Jeannette Lander (1931-2017) war Tochter eines in die USA ausgewanderten polnisch-jüdischen Ehepaars. Sie wuchs mit Englisch und Jiddisch als Muttersprachen auf. Ab 1934 lebte die Familie in einem vorwiegend von Afroamerikanern bewohnten Viertel von Atlanta (Georgia).
1960 übersiedelte Jeannette Lander nach BERLIN und studierte Anglistik und Germanistik an der Freien Universität. 1966 promovierte sie dort mit einer Arbeit über William Butler Yeats. Sie veröffentlichte von nun an als freie Schriftstellerin ausschließlich in deutscher Sprache.
Von 1984 bis 1985 hielt sie sich in Sri Lanka auf. Ab 1995 lebte Jeannette Lander im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg; ab 2007 war sie  im brandenburgischen Landkreis Havelland ansässig.

2017 erschien in Kooperation mit der Autorin eine Neuausgabe ihres ersten Romans (EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.) bei A+C online.

In den Jahren 2011-2014 arbeitete Jeannette Lander an Lebenserinnerungen, die jedoch nur in einem Privatdruck (ohne ISBN) veröffentlicht wurden. AUS MEINEM LEBEN erscheint hier erstmalig als Ausgabe mit ISBN, online und zum kostenfreien Download.

Für Jeannette Lander war Kreativität ganzheitlich und alltäglich, sie ließ sich ein auf Möglichkeiten, Phantasie und Wagnisse. Ihre Bereitschaft zu spontanen Entscheidungen führte zu einem von Umschwüngen und Wechselduschen geprägten Leben, das in ihren Erinnerungen deutlich wird.
Lander schreibt diese Erinnerungen al fresco: als hätte sich alles vor kürzester Zeit zugetragen, als säße sie neben uns und erzählte, wie es in ihr aufsteigt. Manche Einzelheiten wären an sich belanglos – hier aber tragen sie bei zur Färbung, zur Atmosphäre, zur mitmenschlichen Nähe, die sich einstellt bei Lesen. Aber auch Momente der Persönlichkeit, der Lebenshaltung Jeannette Landers lassen sich ahnen. Oft liegt der Sinn (die Botschaft) einer Anekdote ganz in Zwischentönen, die leicht überlesen werden können in ihrem locker-anekdotischen Erzählen. Noch beim mehrfachen Lesen zeigen sich in diesen redlichen, genauen, aber zugleich locker skizzierten Erinnerungen Momente, die zu Motiven ihres Werks geworden sind.

Die Unverblümtheit, mit der Jeannette Lander in diesen Erinnerungen, mit über 80 Jahren, von ihrem Lebensweg auch anhand deprimierender Alltagserfahrungen und persönlichster, ja intimer Empfindungen und angreifbarer eigener Verhaltensweisen berichtet, lese ich nicht zuletzt als Manifest ihrer letztlichen Befreiung aus dem Prokrustesbett der gesellschaftlichen Konventionen darüber, was "man" (d.h. vielmehr: "frau"!) zu tun hat, um anerkannt zu sein. – "Das Private ist politisch!" war ein Blickwinkel, der vor allem durch die Frauenbewegung ab 1970 profiliert wurde und zweifellos auch Jeannette Landers politische Bewußtheit bestimmte.

Ein Lebensthema Jeannette Landers ist das Bemühen, das von Verdrängung und Vorurteil geprägte Verhältnis von "Opferjuden" und "Täterdeutschen" zu durchdenken. Vorschnelles Zuordnen von Schuldigen und Unschuldigen verweigert sie auch bei partnerschaftlichen Konflikten oder im Hinblick auf die bürgerkriegsähnlichen Umstände auf Sri Lanka.
Eine "Ethik der Analogie" wird Landers Arbeiten in dem hier im Anhang dokumentierten Aufsatz der Germanistin Katja Schubert zugeschrieben: gewaltförmiges Denken und Verhalten gehört zu uns Menschen, ist nicht beschränkt auf einzelne Gruppen oder Personen. Davon sollten wir ausgehen, um die Arroganz der Macht vielleicht zunehmend als solche ethisch zu diskreditieren, jenseits der Ideologien, mit denen sie sich jeweils verbrämt. Die Chancen menschenwürdigeren Verhaltens innerhalb oder am Rande solcher Gewaltzusammenhänge sind jeweils zu gewichten, zu stärken.

Neben allem anderen vermitteln Landers Erinnerungen nachdrückliche Einblicke in das Funktionieren der "Kulturindustrie" nach 1945, in das anscheinend selbstverständliche Zusammenspiel von Autor*innen, Institutionen, Verlagen, Finanzierungsmöglichkeiten, Medien und Leser*/Käufer*innen.

Die Lebenserinnerungen werden ergänzt durch zwei tiefgründige Veröffentlichungen zu Jeannette Lander: ein Interview mit der Autorin (Marjanne Goozé/Martin Kagel 1999) sowie einen Aufsatz von Katja Schubert (2012). Daneben wird eine Rezension Landers zu Doris Lessings Romanzylus KINDER DER GEWALT (in EMMA 1984) dokumentiert.

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Katalin Vidor: ALLTAG IN DER HÖLLE

Die ungarische jüdin katalin vidor (1903-76) wurde 1944 verschleppt in das vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, später kam sie zur zwangsarbeit nach Sackisch und Merzdorf, außenlagern des KZ Groß Rosen. Ihr buch erschien 1963 auf deutsch (in der DDR), wurde kaum beachtet und ist längst vergessen. Als eine von wenigen KZ-überlebenden berichtet die psychologisch ausgebildete autorin vorrangig vom menschsein der gefangenen jüdinnen, sie dokumentiert momente des niemals adäquat nachvollziehbaren geflechts von stärken und schwächen, von liebe und gleichgültigkeit, trägheit des herzens und angst, von resignation und demütigung, verzweiflung und beharren, von demut und existenzieller erschöpfung innerhalb der grundlegend traumatisierenden KZ-situation.

Es ist dies deutlich kein buch über den nazi-terror, das millionenfache leid der Shoah, über Den Tod, sondern ein bericht über die in diesem terror dennoch existierende mitmenschlichkeit: über Das Leben. Im mittelpunkt stehen die gefangenen frauen in ihrem – wiewohl bis ans seelische und körperliche zerbrechen geschädigten – autonomen menschsein. Selbst in Auschwitz erlebten sich viele von ihnen offenbar nicht nur als objekte der nazis, sondern noch immer zugleich als subjekte des eigenen lebens.

Vidor schreibt von sich, sie sei im KZ keine von den mutigen gewesen. O doch, – ihr mut bestand darin, hinzuschauen, nicht zu verdrängen, – die unmenschlichkeit der täter und das leid der opfer und ihr eigenes leid für wahr zu nehmen; es ist der mut der zeugenschaft angesichts der menschengemachten, menschengewollten hölle. Sie macht eine weisheit des lebens vorstellbar, die sich selbst unter diesen umständen an menschenwürde, menschenliebe und solidarität orientiert, nicht am "bösen", das eigentlich nur verfehltes leben ist. Diese achtsamkeit ist die eigentliche botschaft ihres buches.(Aus dem nachwort)

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Konrad Telmann: BOHÉMIENS (Berlin 1895)

Die neunzehnjährige helene aus thüringen entdeckt das weltstädtische berlin um 1890; sie selbst wird natürlich bald von den männern entdeckt. Eine anmutige biedermeiergeschichte scheint sich zu entfalten. Bald aber stolpert der leser über dissonanzen und untiefen. Konsequent bürstet telmann die ganz normalen umgangsformen jener zeit gegen den strich, indem er sie ernst nimmt (fast wie ein ethnografischer feldforscher) und dadurch das sexistische und entfremdete in ihnen sich entfalten läßt – unaufdringlich, innerhalb der zunächst noch unterhaltsamen handlung. Situation für situation wird die altbekannte kolportagefabel demontiert (denn auch klischees tragen ja eine wahrheit in sich). So liefert der kleine roman aus dem jahr 1895 eine subtile studie zum stand von geschlechtsrollen, zur anatomie der doppelmoral in jener zeit. Der buchtitel aber ist bitterste ironie; denn die angebliche "Bohème" ist nur schimäre, – projektionsmodell für gelangweilte gute bürger, wohlfeile ausrede für unterprivilegierte spießbürger, regressive oder narzißtische inszenierung.

Egoistisch-offensive männer und hilflos-hingebende frauen werden nicht klischeehaft gegeneinandergestellt. Telmann führt uns vielmehr erlernte und zueinander kompatible rollenmuster vor. Das gespinst der sozialisationsbedingten normalität, in das seine figuren hineingewachsen sind, in dem sie weitgehend bewußtlos feststecken, wird ebenso achtsam beleuchtet wie situative möglichkeiten authentischer mitmenschlichkeit und liebe, die allzuoft aus bequemlichkeit, selbstbetrug oder trägheit des herzens nicht oder nur für momente genutzt werden.

Bei männern wie frauen zeigt sich hinter den (unterschiedlichen) mustern von selbstentfremdung, verlogener rhetorik, ersatzbefriedigung und rollenspezifischer deformation, jenseits der wie geschmiert laufenden geschlechtsrollenmechanik deutlich die mehr oder weniger resignierte, unterdrückte, korrumpierte sehnsucht nach authentischer lebendigkeit und sozialer geborgenheit. Verhaltensweisen und empfindungen kommen teilweise aus einem Falschen Selbst, andererseits aber auch aus authentischen impulsen. – Situationen, dialoge und innere monologe laufen ab in gnadenloser deutlichkeit, fast lehrbuchhaft zeigen sich sozialpsychologische bedingtheiten und tiefenschichten der "normalen" verfaulten (doppel)moral im nebel der szenischen unmittelbarkeit. Dazu gehört die traditionelle frauenfeindliche doppelmoral, die auch von frauen verinnerlicht wird.

Die männlichen hauptfiguren, erfolglose schriftsteller, wirken zeitweise geradezu molluskenhaft; seelische deformationen finden sich bei ihnen in unterschiedlichen varianten einer regressiven, narzißtischen, hypochondrischen indolenz. Beide suchen sie im grunde eine mutter, keine partnerin. Die für männer angeblich typische chauvinistische selbstherrlichkeit zeigt sich eher als hilfloses (wenn auch wenig ehrenwertes) ringen um struktur und persönlichkeit angesichts gesellschaftlich vorgegaukelter, geld- und statusorientierter entfaltungs- und rollenvorgaben, durch die individuelle bedürfnisse und empfindungen verdrängt, eingelullt und zugeschüttet werden. Unverwüstlich scheint bei ihnen nurmehr ein inzwischen geradezu reflexhafter egoismus.

Der seinerzeit sehr erfolgreiche naturalistische schriftsteller konrad telmann (1854-1897) diskutiert in seinem umfangreichen werk soziale, politische, ethische und religiöse streitfragen seiner zeit, zeigt ihre exemplarische relevanz in konkreten sozialen, mitmenschlichen konstellationen und nimmt dabei durchgängig einen fortschrittlichen, aufklärerischen standpunkt ein. Im zusammenhang mit seinem gesellschaftlichen engagement wurde er mehrfach in gesellschaftliche, kirchliche und gerichtliche konflikte gezogen. - 'Bohémiens' wird hier erstmalig wiederveröffentlicht.

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Leah Nadine: TANZ UNTER DEM REGENBOGEN

Eine schwangerschaft wird bei leah nadine zum tropfen, der das faß zum überlaufen bringt. Abgespaltene ängste und erinnerungen brechen auf und überschwemmen den alltag dieser traumaüberlebenden frau. Das besondere an diesem autobiografisch begründeten buch ist die emotionale und psychologische dichte und konkretheit, mit der dieser prozeß dargestellt wird. – So oder ähnlich geht es sehr vielen traumaüberlebenden (mit oder ohne DIS), oft erst zwischen 30 und 40 jahren, und weder sie selbst noch außenstehende begreifen, was da los ist. Panik entsteht schon allein deshalb.

Die geschilderten situationen, empfindungen und erfahrungen sind exemplarisch für multiple traumaüberlebende zu beginn ihres heilungsweges. Das buch vermittelt das hohe maß an mut, an vertrauen und offenheit, die hierfür nötig sind. MitarbeiterInnen von beratungsstellen ist es sehr zu empfehlen, aber auch therapeutInnen und ärztInnen.

Mit einem vorwort von sabine marya und einem aktuellen nachwort der autorin (zehn jahre später).

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Liane Michauck & Co. / Mondrian v. Lüttichau: TAGEBUCH EINER DIS-THERAPIE

Diese Veröffentlichung dokumentiert den therapeutischen Weg einer Überlebenden schwerster Psychotraumatisierungen mit DIS (Dissoziative Identitätsstörung/ Multiple Persönlichkeit) in den Jahren 2006–2010 mit dem Dipl.-Sozialpädagogen Mondrian v. Lüttichau.

Bei einer psychotraumatologisch orientierten DIS-Therapie liegt die Aufmerksamkeit auf strukturellen und neurophysiologischen Gegebenheiten (traumatische Dissoziation, innersystemische Funktionen, Konditionierungen, Mind Control). Daneben setze ich (MvL) auf die bewegende Kraft der mitmenschlichen Beziehung; das scheint mir nahezuliegen bei KlientInnen, die vollständig über einzelne Teilpersönlichkeiten ("Ichs") mit unterschiedlichem subjektivem Lebensalter und unterschiedlichen Lebenserfahrungen organisiert sind. Therapeutische Grundhaltung war es, die dissoziativen Anteile/Persönlichkeiten/Ichs bedingungslos ernstzunehmen als Gegenüber, mit ihnen weitestmöglich in Ich-Du-Beziehung (Buber) zu gehen und gleichwohl nie die Orientierung an der Wahrheit des Ganzen, des Systems, der Klientin zu verlieren – und diese Orientierung im Austausch immer neu in angemessener Weise zu konkretisieren.

Als ich Liane Tjane Michauck im September 2006 kennenlernte, waren zumindest die erwachsenen Anteile mehr oder weniger lebensmüde im tiefsten Sinne. So viele Jahre hatten sie um ihr eigenes Leben, um Gesundheit gekämpft, so viele Jahre Therapie, eigenes ehrenamtliches Engagement, Leben als berufstätige alleinerziehende Mutter – und noch immer Ängste , Panikattacken, Suizidalität, Perspektivlosigkeit, dazu die zunehmenden somatisch-medizinischen Probleme.

Es wird beim Lesen wohl nachvollziehbar, wieso DIS-Therapie mit möglichst allen Anteilen unabdingbar ist, da sämtliche Anteile nicht nur eigene traumatische Erinnerungen bewahren, sondern zugleich unverzichtbare Ressourcen zur Heilung tragen. Bei der damals fast chronisch suizidalen und krisengeschüttelten Klientin wäre die Therapie ohne das stabile lebenszugewandte Potential der Kinderpersönlichkeiten nicht möglich gewesen! Beziehungsmäßiger Kontakt mit Kinderanteilen bedeutet also keineswegs eine Art Bemutterungsposition; selbst "kleine" kindliche Anteile sind ernsthafte TherapiepartnerInnen, die auf ihre Weise mitarbeiten wollen und können und eigene therapierelevante Ressourcen haben. Zudem stehen innere Ressourcen und entwicklungspsychologische Kompetenzen bei den Anteilen eines multiplen Systems bis zu einem gewissen Grad wechselseitig unterschiedlichen Anteilen zur Verfügung. Dies scheint plausibel, da es in der traumatischen Vorgeschichte meist keine Notwendigkeit gab, diese Freiheitsgrade amnestisch abzuspalten. Erfahrungen mit "Außenkindern" können nur sehr bedingt Vorbild sein für den Umgang mit dissoziativen Kinderanteilen.

Eine sogenannte "Alltagspersönlichkeit" ("Gastgeberpersönlichkeit") ist erstmal nichts anderes ist als ein Anteil von mehreren, also nichts systemisch Übergeordnetes. Welche strukturell bedingte Ressourcen derjenige Anteil hat, der in der Vorgeschichte vorrangig den Alltag organisiert hat, muß innerhalb der Therapie erst geklärt werden. Die strukturelle (systemische) Innenfunktion eines dissoziativen Ichs kann sehr differieren von ihrer Funktion in der sozialen Außenwelt.

Die üblichen Bereiche einer Traumatherapie sind Stabilisierung, Traumakonfrontation und Traumaintegration. Bei Betroffenen mit DIS oder DDNOS ist die therapeutisch angeleitete Weiterentwicklung (Umstrukturierung) des Persönlichkeitssystems ein hierzu gleichwertiger Bereich, keine Nebensache, die "sich von selbst versteht". Dabei geht es um Psychoedukation für die einzelnen Anteile, Co-Bewußtsein, Altersprogression, -regression, Fusion von Anteilen, das Unterscheiden einzelner Funktionen, Erkennen von Täterintrojekten und Kontaktaufbau mit ihnen, Konditionierungen, Mind Control. Deutlich wird die Relevanz dieser "DIS-Therapie" (im Rahmen einer Traumatherapie) auch in vielen alltagsbezogenen Momenten, für die einzeln (und mit den unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten) Brücken gebaut werden müssen zwischen der traumabedingten theory of mind und gesünderen Empfindungen, Konfliktlösungsmethoden, nicht zuletzt: der banalen gesellschaftlichen Realität. Deutlich wird das extrem labile seelische Gleichgewicht – nicht aufgrund eines bestimmten Störungsmusters, sondern aufgrund vieler Faktoren (mit unterschiedlicher Genese), die situativ ausgeglichen werden müssen. Auch die Heilungsfortschritte liegen wechselseitig in all diesen Faktoren; es ist wie ein Bäumchen wechsle-dich, bei dem Ressourcen und Möglichkeiten sich überall verstecken können und vom Therapeuten/der Therapeutin dort angesprochen und gestärkt werden müssen.

Solches Flottieren von Persönlichkeits- und Entwicklungsmomenten zwischen Anteilen (bzw. "Ego States") findet sich grundsätzlich genauso bei Menschen ohne DIS, nur wird es dort bei konventioneller Sozialisation (bzw. Psychotherapie) ausgerichtet am Ideal eines widerspruchslosen "erwachsenen Ich".

Unser therapeutischer Weg macht vielleicht nachvollziehbar, wie gerade der vorbehaltlose Ich-Du-Kontakt mit möglichst sämtlichen dissoziativen Teilpersönlichkeiten die Motivation zur zunehmenden Innenkooperation stärken kann. Allerdings bleibt dies eine ständige Gratwanderung, bei der die Orientierung auf das Ganze durch die therapeutischen HelferInnen immer neu ins System eingebracht werden muß! Andernfalls würden die speziellen Einzelbedürfnisse der Anteile an einen Beziehungskontakt überwiegen (mütterliche/elterliche Zuwendung, Schutz, leibliche Nähe, Orientierung an bestimmten Lerninhalten, Wunsch nach kindgerechten SpielgefährtInnen, Täterprojektionen, Ausagieren von Erfahrungen mit destruktiver Sexualität, Sehnsucht nach selbstbestimmter Sexualität).

Vorstellbar wird auch das sehr organische und individuelle Heilewachsen einzelner Anteile, das allerdings viel Realzeit erfordert. Derart umfassender, ausdifferenzierter Austausch mit den dissoziativen Ichs läßt sich mit der Zeitökonomie einer kommerziellen Psychotherapie meist nicht vereinbaren. Dieses Therapietagebuch könnte immerhin dazu beitragen, Betroffenen, Angehörigen und HelferInnen die konkrete Beziehungsdynamik zwischen Traumaüberlebenden mit DIS und HelferInnen affektiv vorstellbarer zu machen, als es Fachbücher oder nachträglich verfaßte autobiografische Berichte von Betroffenen vermögen.

(Aus dem Nachwort)

Siehe auch  von Liane Tjane Michauck & Co.:  "SCHRITTE INS LEBEN. Gedichte aus dreißig Jahren" (hier)

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Liane Tjane Michauck & Co: EINE UNGEWÖHNLICHE FAMILIE

Manche menschen mußten bereits als kleinkinder und während ihrer kindheit und jugend unvorstellbar brutale gewalttaten erdulden, meist auch von den eigenen eltern. Überleben konnten sie diese hölle oft nur, indem ihre seele sich in verschiedene persönlichkeiten teilte. - Tjane, liane, katharina, martina, jane, krissy, taralenja und ein baby sind ein solches "multiples system". Diese veröffentlichung enthält gedichte, die entstanden sind im versuch, etwas von dem leid auszudrücken, mit dem sie alle weiterleben müssen – und von dem täglich neuen widerstand gegen die erinnerungen.
Zugleich sind sie poetische dokumente bewahrter menschlichkeit, innerer schönheit und liebesfähigkeit.

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Siehe auch Liane Michauck & Co. / Mondrian v. Lüttichau: TAGEBUCH EINER DIS-THERAPIE (2021)

Die Gesamtausgabe der Gedichte ist HIER!

Liane Tjane Michauck & Co: SCHRITTE INS LEBEN

GEDICHTE AUS DREISSIG JAHREN 

Wir sind die familie Michauck - -
das heißt wir sind multipel und heutzutage leben fünf personen in einem körper.
Physische, psychische, sexuelle und rituelle gewalt haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind.
Inzwischen ist der körper 63 jahre alt und es gibt zwei erwachsene (liane und martina), zwei jugendliche (jane und krissy) und ein kind (taralenja).
Aber es war nicht immer so. Wir waren einige personen mehr, die inzwischen durch fusionen zusammen gefunden haben. Wir lebten jahrzehnte lang am rande des abgrundes. Suizidgedanken und verletzungsdruck begleiteten uns ständig.
Eine jahrelange traumatherapie stabilisierte uns nicht. Aber zumindest wurde nach einigen jahren Dissoziative Identitätsstruktur (DIS, "Multiple Persönlichkeit") diagnostiziert.
Trotzdem wurde und wird von uns erwartet, dass wir funktionieren.
Wir haben in unserem leben zwei studienabschlüsse gemacht, jahrelang gearbeitet, ein kind groß gezogen.
Später haben krankenhausaufenthalte, eine erneute traumatherapie sowie ein jahr außenwohngruppe uns sehr geholfen, uns zu stabilisieren. Seit 2020 müssen wir wegen unserer schwerwiegenden körperlichen erkrankungen in einem pflegeheim leben.

Jahrelang haben wir nach möglichkeiten gesucht, unsere vergangenheit aufzuarbeiten. Wir haben gemalt und gedichte geschrieben. Beides spiegelt alle unsere facetten wider, unsere verzweiflung, den lebensüberdruss, aber auch schönheit und lebensfreude.
Diese online-veröffentlichung enthält unsere allermeisten gedichte (und viele zeichnungen und gemälde).In manchen gedichten und bildern geht es um schreckliches – das uns geschehen ist, wie es noch unzähligen anderen menschen widerfährt, auch heutzutage, auch bei uns – vielleicht beim nachbarn!

Wir bitten alle leser*innen, auf sich aufzupassen und manche gedichte vielleicht zu überblättern.

Aber es geht auch um schönes, hoffnungsvolles, um liebevolle momente. Es ist unser leben.

jane & MARTINA & liane & krissy & taralenja

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Lillian Smith: Fremde Frucht

Lillian Eugenia Smith (1897–1966) wurde bekannt vor allem durch ihr lebenslanges Engagement gegen die Rassentrennung in den Südstaaten der USA. Ihr beim Erscheinen kontrovers diskutierter Roman ''Strange Fruit'' (1944) machte sie weltberühmt.

Lillian studierte als junge Erwachsene Musik, arbeitete pädagogisch und hielt sich für mehrere Jahre in China auf, wo sie Direktorin einer Mädchenschule war. Während dieser Zeit wurden ihr Ähnlichkeiten zwischen der Unterdrückung der chinesischen Kultur zugunsten der abendländischen, christlichen einerseits und derjenigen der afroamerikanischen Bevölkerung in den amerikanischen Südstaaten bewußt.

Sie nahm sie eine lebenslange Partnerschaft mit Paula Snelling auf. Die beiden Frauen gründeten 1936 eine kleine Literaturzeitschrift, die schwarze und weiße SchriftstellerInnen zu kritischen Stellugnnahmen ermutigte. Im Mittelpunkt standen dabei soziale Ungleichheit, Frauenfeindlichkeit, Rassismus, die Notwendigkeit von sozialen und wirtschaftlichen Reformen.
1944 erschien ihr Roman ''Strange Fruit'', in dem es um eine Liebesbeziehung zwischen einer Farbigen und einem Weißen ging. Der Titel wurde vom Verleger gewählt, nach einem gleichnamigen Lied in der Interpretation von Billie Holiday. Die Autorin betonte jedoch, daß ihr Anliegen nicht, wie in dem Lied, allein der Rassismus gegen Afromamerikaner sei, sondern vielmer die seelische Beschädigung von Farbigen wie Weißen in der "rassisistischen Kultur" der Südstaaten. Nach dem Erscheinen wurde der Roman in mehreren Regionen der Vereinigten Staaten verboten. Dieses Verbot wurde von Präsident Franklin D. Roosevelt aufgehoben. Der Roman wurde zum Bestseller und in 15 Sprachen übersetzt.

Lillian Smith tauschte sich häufig aus mit Eleanor Roosevelt, sie war befreundet mit Martin Luther King und anderen farbigen wie weißen ProtagonistInnen der Bürgerrechtsbewegung, in der sie sich selbst kontinulierlich bis zum Ende ihres Lebens engagierte. Ihr persönlicher Schwerpunkt dabei war die Situation von Frauen und Kindern. – Daneben schrieb sie Bücher (Sachbücher, Dokumentationen, einen weiteren Roman) und arbeitete journalistisch.
In den Vereinigten Staaten wurde Lillian Smith in den letzten Jahrzehnten neu entdeckt als Kämpferin für soziale Ungerechtigkeit, aber auch im Zusammenhang mit der Emanzipation lesbischer Lebenshaltung. Theaterstücke, Lesungen und Buchveröffentlichungen zeugen davon.

"Strange Fruit" (Fremde Frucht) erschien auf deutsch 1947 (in der Schweiz). Für seine Themen – Rassismus, die Situation schwarzer Amerikaner, lesbische Liebe – interessierte sich zu dieser Zeit kaum jemand in Deutschland. Für diese erste deutsche Neuveröffentlichung wurde die Übersetzung gründlich durchgesehen. Ein umfangreiches biobibliographisches Nachwort des Herausgebers kam dazu. Auch einige Fotos der Autorin.

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Margit Kaffka: FARBEN UND JAHRE

Neu im Oktober 2023

Margit Kaffka wurde am 10. Juni 1880 in Nagykároly geboren. Das Städtchen, das an der Pforte Siebenbürgens liegt, gehörte damals noch zu Ungarn; nach dem ersten Weltkrieg fiel es durch den Friedensvertrag von Trianon an Rumänien.
Kaffka wird Lehrerin, sie unterrichtet und nutzt jeden freien Augenblick, um Kurzgeschichten und Gedichte zu verfassen, die in den Zeitschriften "Hét" und "Magyar Geniusz" veröffentlicht werden. Bald bewegt sie sich in literarischen und intellektuellen Kreisen und nimmt an Treffen in bürgerlichen Salons teil, am "Sonntagskreis" etwa, dessen Mittelpunkt Georg Lukács war. Ihre Arbeiten werden auch in "Nyugat" (Der Westen) veröffentlicht. Ihr Ruf als Autorin wächst mit der Veröffentlichung ihres ersten Romans SZÍNEK ÉS ÉVEK (= FARBEN UND JAHRE) weiter. Die Rolle der Frau in einer Zeit rapider sozialer Veränderungen ist eines ihrer beiden Hauptthemen. Ebenfalls aus dem eigenen Lebenslauf motiviert, bilden die Verarmung des Landadels und die tristen Verhältnisse in der Provinz den zweiten Schwerpunkt ihres Werks.
Margit Kaffka besaß eine scharfe Beobachtungsgabe und gestaltete Erscheinungen und Erlebnisse aus ihrer unmittelbaren Umgebung, deren Zeuge sie wurde. Ihre schöpferische Tätigkeit nährte sich nicht aus der Phantasie; sie begnügte sich damit, das Geschehen der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit darzustellen, sie beschrieb Männer und Frauen, denen sie begegnete, schilderte vor allem die seelischen Krisen der Frauen und durch diese die Gesellschaft, die Erzeugerin der Krisen. Die Zeichen der Zersetzung offenbarten sich ihr vornehmlich in der Familie, im Leben der Frauen, die nach Selbständigkeit verlangten, sich aber meist noch hilflos treiben ließen, und in den Veränderungen, die das Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau erfuhr.

Mit der Verbürgerlichung, dem raschen Entstehen neuer Schichten in den Städten und dem Verfall der bisher herrschenden Klasse war eine Verschlechterung der literarischen Bildung Hand in Hand gegangen. Hatte die Leserschaft noch vor einigen Jahrzehnten bedeutende Schriftsteller zu würdigen gewußt, so begnügte sie sich jetzt häufig mit Unterhaltungsliteratur von zweifelhaftem Wert. Diesen Mißstand zu beseitigen, sah die neue Schriftstellergeneration zwischen 1900 und 1920 als ihre wichtigste Aufgabe an. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die um die Zeitschrift NYUGAT gruppierten Dichter, zu denen auch Margit Kaffka — eine der wenigen bedeutenden Schriftstellerinnen der fortschrittlichen ungarischen Literatur — gehörte. Es entbrannte ein regelrechter literarischer Freiheitskampf, und die Erneuerung der Literatur erwies sich als Vorläuferin der sozialen Erneuerung. Margit Kaffka stellte sich mit Begeisterung in den Dienst der Sache, und zwar sowohl als schöpferische Künstlerin wie auch als Publizistin.

Der Ausbruch des ersten Weltkrieges brachte einerseits Verwirrung in die Reihen der Schriftsteller, vertiefte aber andererseits die Bedeutung der fortschrittlichen Künstler. Nicht Pazifismus, sondern die klare Erkenntnis der menschlichen und nationalen Interessen ließ sie diesen Krieg verurteilen. Sie wußten, daß Ungarn, das gegen seinen Willen in den Krieg verwickelte Land, nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren hatte, ganz gleich, ob Deutschland oder die Entente den Sieg davontragen würde. Diese Einsicht führte die fortschrittlichen Intellektuellen (allen voran der Dichter und Publizist Endre Ady) immer mehr der Revolution zu.
Die Oktoberrevolution und die Ereignisse im Verlauf des verlorenen Krieges, die den Auftakt zu der Ungarischen Räterepublik bildeten, hat Margit Kaffka noch miterlebt und mitempfunden. Sie starb, ein Opfer der Spanischen Grippe, am 1. Dezember 1918, mit 38 Jahren. Ihr Werk umfaßt etliche Lyrikbände, Erzählungen, Romane und ein Tagebuch.

Das Lebensproblem der Magda Pórtelky in FARBEN UND JAHRE liegt darin, daß das Leben die möglichen Alternativen zu einer Ehe einengt; ob gut oder schlecht – die Ehe bestimmt die soziale Rolle der Frau. Magda ist voller Energie und Ehrgeiz. Doch nach dem Suizid ihres ersten Mannes muß sie diese grundlegende Abhängigkeit der Frau erkennen. Durch ihre zweite Ehe versucht sie, sich eine entsprechende Position zu sichern, jedoch mildert nicht einmal mehr diese traditionelle Geborgenheit des gesellschaftlichen Lebens ihre Enttäuschung. Magda wird zur passiven Frau in einer statischen Welt. Sie ist entscheidungsfreudig, doch ihr innerer Aufstand wird schließlich unterdrückt und zeigt sich entweder in billigen Affären oder in allgemeinem Ekel vor ihrem vergeblichen Sehnen. Kaffka zeigt hier die verfallen(d)e Welt des provinziellen Landadels aus dem Blickwinkel der besonderen Probleme von Frauen.

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Mary Jane Ward: SCHLANGENGRUBE

Die amerikanische Schriftstellerin Mary Jane Ward (1905–1981) war 1939/40 Patientin einer psychiatrischen Klinik.  Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen dort schrieb sie den hier wiederveröffentlichten Roman THE SNAKE PIT (1946). Die Veröffentlichung löste in der amerikanischen Öffentlichkeit, auch unter Psychiatern und Gesundheitspolitikern, lebhafte Reaktionen aus. Das Buch und ein nach ihm gedrehter Spielfilm führten in mehreren Staaten der USA zu Reformen der psychiatrischen Unterbringung und Behandlung. In Großbritannien wurde der Film erst nach einigen Schnitten zugelassen. In der BRD gab es keine nennenswerte öffentliche Reaktion.

Die Autorin vermittelt uns einen nuancierten, oft tief berührenden Einblick in die Erfahrungen und das Empfinden einer Frau des amerikanischen Mittelstands, die es in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts in eine "Irrenanstalt" verschlägt. Jenseits psychiatrischer Begrifflichkeit werden Momente psychotischer Verwirrung und Verlorenheit im kontinuierlichen (aber gebrochenen) Bewußtseinsstrom der Protagonistin deutlich. Unaufdringlich werden im Fluß der Handlung die kommunikativen Verknotungen, Verwirrungen zwischen psychiatrischen Patientinnen und "den Gesunden" vermittelt. Unangemessene, unsensible Kommunikationsweisen gerade in einem psychiatrischen Krankenhaus, wo Betroffene sich fachliches Verständnis versprechen, führen zur iatrogenen Zerstörung des Selbstwertgefühls – damals wie heute! Psychiatrische PatientInnen sind sich ihrer Symptomatik zeitweise durchaus bewußt. In der unsicheren Einschätzung des Grads der eigenen Gesundheit oder Krankheit schämen sie sich, versuchen kognitive Defizite zu verbergen vor anderen (insbesondere den Ärzten), sie zu rationalisieren. Nicht selten fühlen sie sich den Ärzten und klinischen Psychologen gegenüber wie SchülerInnen, die verbergen wollen, daß sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben.

Daß die paranoiden, halluzinatorischen, wahnhaften Verkennungen in der Psychose um nichts weniger evident sind als Eindrücke im nichtpsychotischen Zustand, daß in der Psychose beides in vielfältiger Abstufung ineinander übergeht, Minute für Minute, läßt sich gerade in diesem romanhaften Bericht besonders gut nachvollziehen, weil es hier durchgängig um alltägliche Umstände und Klärungsprozesse geht, – nicht um ausufernde psychotische Phantasien, wie sie üblicherweise als Beleg für das angeblich Nichteinfühlbare der Psychose angeführt werden. Deutlich wird auch, wie leicht es ist, psychiatrische PatientInnen zu verfehlen, wenn wir nur nach psychotischen Symptomen Ausschau halten und die alltäglichen Lebenserfahrungen vernachlässigen.

Bei allen kritischen, sarkastischen und ironischen Bemerkungen porträtiert die Protagonistin ihre Mitpatientinnen im allgemeinen achtungsvoll, mit soviel Einfühlung, wie sie aufbringt. Oft läßt sie uns deren Einsamkeit und die individuellen Kompensations- und Rationalisierungsversuche nachfühlen. Die ganz eigene Authentizität von PsychiatriepatientInnen stellt sie mehrfach der sozialen Normalität der Außenwelt gegenüber, wobei diese keineswegs besser abschneidet. Selbst ihrem eigenen Gesundungsprozeß steht Virginia gelegentlich ambivalent gegenüber: "Ich nähere mich dem Nichtpatientenstatus. Mein Mitgefühl verliert sich. Meine Sympathie. Ja, und meine Großzügigkeit …"

Trotz der unterschiedlichen Ausgangslage läßt sich dieser romanhafte Bericht in vielem auf die heutige stationäre Psychiatrie übertragen, auch im Hinblick auf die instititutionellen und sozialen Umstände der Betreuung.

(Aus dem Nachwort)

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Merle Müller: ZEUGNISSE AUS DER RITUELLEN GEWALT (Erster und zweiter Teil)

Organisierte Rituelle Gewalt umfaßt physische, sexuelle und psychische Formen von Gewalt, die planmäßig und über lange Zeiträume ausgeübt werden, teilweise im Rahmen von Zeremonien / Ritualen. Die Opfer werden psychisch konditioniert, um sie gefügig zu machen für Kinderpornografie, Zwangsprostitution, teilweise auch satanistisch begründetem Morden an Babys.
Infolge der seit frühester Kindheit erfahrenen Traumatisierungen kommt es bei den Opfern häufig zur Ausbildung der Dissoziativen Identitätsstruktur (DIS, "Multiple Persönlichkeit"). Diese letzte Möglichkeit der Psyche, sich zu schützen, wird von Tätern ausgenutzt, um einzelne Persönlichkeitsanteile für bestimmte Zwecke einsetzen zu können. In diesem Zusammenhang berichten Betroffene von Konditionierungen, mit deren Hilfe "Programme" (posthypnotische Befehle oder Befehlsketten) verankert wurden (Mind Control). Auf diese Weise werden Opfer auch zu Gewalthandlungen gezwungen.
Aussagen über das Täterverhalten sind aufgrund von dissoziativer Abspaltung (Amnesie) sowie der durch Täter geschürten Drohungen, aber auch Schuld- und Schamgefühle der Opfer oft nur im Rahmen psychotherapeutischer Aufarbeitung möglich. Geheimhaltung, teilweise Anonymität von Tätern, Unbekanntheit der Tatorte und der oft große zeitliche Abstand erschweren eine strafrechtliche Verfolgung.

Merle Müller ist 40 Jahre alt, auch sie ist Viele (hat eine Dissoziative Identitätsstruktur). Seit dem dritten Lebensjahr ist sie der sexualisierten Gewalt ausgeliefert, – zunächst durch einen Großvater, dann durch den Vater, der schon das kleine Kind an Kumpane weitergegeben hat. Wie bei anderen Opfern von inzestuöser sexualisierter Gewalt gehörten neben solchen Drohungen auch Tiertötungen und darauf bezogene Morddrohungen und teufliche Doppelbotschaften zu den ersten Konditionierungen.
Konsequent wurden in der Kindheit durch die Täter dissoziative Abspaltungen (Persönlichkeiten, Anteile) "hergestellt" (im allgemeinen durch bewußt herbeigeführte Todesangst/Panik) und zu bestimmten Aufgaben konditioniert.
Merle & Co. und andere Opfer solcher Tätergruppen sind lebenslang versklavt, sie kennen es nicht anders, als daß sie Objekt sind, daß es ihr Daseinszweck zu sein scheint, die Forderungen anderer zu erfüllen. Sobald sich Widerstand regt, wird die Schraube der Folter, des Terrors mal kurz angedreht; so ist es noch heute.

Bei Merle & Co, die nur in sehr eingeschränkter Weise erwachsen werden konnte, lebt letztlich noch immer die kreatürliche, kindliche Erwartung, daß tatsächlich zeitnah geholfen wird, sobald Außenstehende von den Schrecklichkeiten erfahren und "es glauben". Demgegenüber sahen und sehen sich Merles Persönlichkeiten einer Flut von organisatorisch-administrativen Zusammenhängen und Begründungen gegenüber, die alle darauf hinauslaufen, daß Hilfe auch jetzt noch von unübersehbar vielen Bedingungen abhängt und sozusagen in den Sternen steht. Das wirkt wie Verhöhnung durch denjengen, der doch beteuert, daß er helfen will!

"Ich kann nicht verstehen, warum die mich nehmen!? Was an mir falsch ist! Was mich so billig macht! Bin ich so viel dümmer, als die anderen? Es geht nicht in meinen Verstand, wie Menschen, Kinder wie Scheiße, wie Dreck, wie Abfall behandeln, benutzen können? Ständig stelle ich mir die Frage, was ich gemacht habe? Zu böse war?"– Nele (12) war zu diesem Zeitpunkt noch in der Realität der Kindheit. Der gleichalte Anteil Doris ist dagegen bereits in der Gegenwart und erinnert sich an die Kindheit, in der sie zu anderem Zweck als Nele konditioniert wurde: "Gut vielleicht bin ich ein Spätentwickler aber das die ganzen bösen Menschen mit mir Sex machen wusste ich da nicht das es falsch ist. Eben erst jetzt durch dich. Ich erinnere an einen Satz. Das machen nur die mit dir die dich ganz besonders liebhaben! Es ging darum es keinem zu sagen weil die mich dann nicht mehr lieb haben werden sondern nur sehr böse auf mich werden."

Was Opfer von jahrelanger, seit der Kindheit bestehender sexualisierter Gewalt abhält, Hilfe zu suchen, ist bei Merle & Co. und wohl auch bei anderen Opfern nicht vorrangig die Gewalt, der sie selbst ausgesetzt sind. Es gibt andere Faktoren, die jedoch manchmal zu wenig berücksichtigt werden von HelferInnen aller Professionen. Die Überzeugung, selbst schuldig geworden zu sein, selbst böse zu sein, Hilfe nicht zu verdienen, steht an erster Stelle. Dabei spielen ungewollte sexuelle Empfindungen während der sexualisierten Gewalt eine entscheidende Rolle. Scham, die Überzeugung, Außenstehende könnten sich vor ihnen nur ekeln, aber auch die Überzeugung, sie seien genauso böse wie die Täter. Dann die jahrzehntelange Erfahrung, daß Außenstehende, deren Aufgabe das Helfen ist, nicht zuhören, nichts verstehen und fehlinterpretieren. Bürokratische Mechanismen und organisatorische Begrenzungen wirken sich aus, als steckten Täterinteressen dahinter. Zumal Täter ihnen einreden, daß niemand sich für ihr Schicksal interessiert bzw. Behörden, Polizisten zu ihnen (den Tätern) gehörten. Eine andere, kaum überwindbare Hürde sind Drohungen der Täter, Angehörigen zu schaden, sie zu töten, falls das versklavte Opfer auszusteigen versucht.

Nur in Kooperation möglichst vieler Anteile kann die Befreiung von den Tätern (durch Mithilfe äußerer Helfer) organisiert werden. Jedoch ist das dazu nötige Co-Bewußtsein, also das Auflösen amnestischer Barrieren, bei bestehender Tätergewalt nur sehr eingeschränkt möglich, da ja gerade die amnestischen Abspaltungen das seelische Überleben angesichts der tagtäglichen brutalen Gewalt ermöglicht hat; – ein Teufelskreis (nicht der einzige)!

Ein besondere Schwierigkeit liegt (wie meist zu Beginn der therapeutischen Arbeit mit Multis) darin, der bisherigen Außenpersönlichkeit die Realität der Tätergewalt zu vermitteln. Merle ist am Funktionieren eines konventionellen Alltags, an den guten, liebevollen Aspekten des Lebens orientiert, ist ihrer Tochter wertschätzend, achtsam zugewandt: "Ich will doch nur eine Mama sein." Wie sollte sie die grauenhaften Tatsachen damit vereinbaren?! "Das was ich träume, kann unmöglich wirklich sein! Das ist zu schrecklich!!!!" Andererseits war sie für lange Zeit die einzige an der Außenwelt orientierte erwachsene Teilpersönlichkeit, insofern unverzichtbar für die Organisation der Befreiung.

Die Opfer sind seit ihrem Lebensbeginn isoliert von der ganzen menschlichen Gemeinschaft – sie wissen kaum etwas von ihr, gehen davon aus, die ganze Welt ist so wie die Täter. Es ist die reale Hölle, in der sie sich fühlen. Sie können sich niemandem offenbaren. Und viele von ihnen (vor allem die kindlichen Anteile) denken, sie selbst seien schuld an dem Schrecklichen. Sie tun fast alles nur mögliche, um die Bezugspersonen zufriedenzustellen, geliebt zu werden von ihnen.Der Anführer der Tätergruppe, die Merle & Co. versklavt, läßt sich aus gutem Grund "Vati" nennen. – "Vati nimt mit Past auf läst nicht allein hat ganz lieb Mus nur lieb sein nichts Sagen dürfen fein spilen dan tut nicht so weh artig sein", schreibt ein Kinderanteil im Flashback.
Daneben gibt es noch ein anderes, genauso wirkungsvolles Druckmittel, das solche Täter ihren Opfern seit der frühen Kindheit einbleuen: die Drohung, andere zu schädigen, die dem Opfer lieb sind. Bei Merle & Co. war das zunächst ein Meerschweinchen, das der Vater vor den Augen der Siebenjährigen tötete. Später wurde eine Katze gequält, aber bald kam die Drohung: "Das was ich mit dir mache ist noch lange nicht alles! Es hört nicht auf! Keiner hilft. Du sagst kein Wort sonst tun wir dasselbe mit deiner Schwester! Das alles ist allein deine Schuld! Du wolltest es so! Sei still sonst schlitze ich dich auf!"

Wir alle entwickeln in der Kindheit und Jugend Vorstellungen von uns selbst, von anderen Menschen und von der Welt, dem Leben, die auf unseren (kindlichen) Erfahrungen einschließlich der "pädagogischen" Einwirkungen anderer beruhen (theory of mind). Wenn jemand bereits als Kind in einer nahezu hermetischen Täter-Hölle ohne auch nur einigermaßen freie Entfaltung des Bewußtseins in die Welt hinaus aufwächst, kann sich bei ihm nur eine spiegelbildliche, ebenfalls hermetische, rekursive und dichotomische theory of mind entwickeln. Dies wird in der vorliegenden Dokumentation deutlich. Auch aus diesem Grund müssen wohl nicht wenige erwachsene Opfer entsprechender Tätergruppen als hilflose Personen verstanden und entsprechend (auch gemäß SGB XII) unterstützt werden.

Viele Anteile bei Merle & Co. wollen befreit werden, würden auch aussagen vor den Strafverfolgungsgehörden – wären da nicht die Drohungen der Täter, in diesem Fall die Tochter Amelie zu töten. Seit früher Kindheit haben Täter den Anteilen bewiesen, daß sie töten können. Zuerst ein Meerschweinchen, dann eine Katze, dann das erste eigene Kind, da war Merle zwölf Jahre alt. Später andere Babys, fremde wie auch eigene.

Die Existenz der Organisierten Rituellen Gewalt wird mittlerweile kaum mehr bestritten; Strafverfolgungsbehörden verweisen jedoch auf die Schwierigkeit, beweisbare Tatbestände zu finden. Nachvollziehbar, wenn die Taten viele Jahre in der Vergangenheit liegen. Hier aber geht es um gegenwärtige, tagtägliche Schrecklichkeiten! Es geht um den Hilferuf eines Opfers an die Gesellschaft, deren zufällige Adressaten die Fachkräfte der Traumastation einer Universitätsklinik und ich sind.
Befreiung in dieser Situation erfordert die tätige Unterstützung staatlicher Institutionen. Es geht um dauerhaften Schutz für Mutter und Tochter.Das ist von einzelnen HelferInnen nicht zu leisten, hierfür bedarf es der organisatorischen Kooperation verschiedener staatlicher und gemeinnütziger Stellen. Dies wiederum setzt zumindest grundlegende Kenntnisse über die psychische Situation entsprechender Überlebender voraus. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist, daß solche Opfer in mancher Hinsicht keine selbstverantwortlich entscheidungsfähigen Erwachsenen sind, sondern hilflose Personen. Dies auch dann, wenn einzelne dissoziative Anteile sehr kompetent sind innerhalb ihrer Aufgaben im Alltag. Hilflose Person ist allerdings nicht im Sinne einer psychischen, somatischen oder kognitiven Beeinträchtigung zu verstehen, vielmehr eher so, wie Kinder hilflos sind.

Anlaß dieser Veröffentlichung ist es, Merle Müllers Hilfeschrei einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, – den Menschen die Augen zu öffnen, wie Doris mehrfach betont hat. Ist es möglich, daß in einem der reichsten Länder der Erde die öffentlichen, staatlichen Stellen solche Opfer ihrem Schicksal überlassen – oder der zufälligen und unzureichenden Unterstützung einzelner TherapeutInnen und Angehöriger? Daß das staatliche Gewaltmonopol hier nicht tätig wird? Daß die polizeiliche Aufgabe der Gefahrenabwehr hier nicht trägt?
Die Mails von Merle & Co. stehen für ungeschriebene Zeugnisse hunderter Opfer. Zu wenig, um staatliches Handeln zu rechtfertigen?

Ein weiterer Schwerpunkt dieser Veröffentlichung ist es, die konkrete Situation, die Reflexion, das Empfinden von Menschen (zumeist Frauen) zu verdeutlichen, die von Tätergruppen des organisierten Verbrechens versklavt werden: Menschenhandel, Zwangsprostitution, Rituelle Gewalt, Mind Control. Das sind nicht einfach Menschen mit einer abgrenzbaren und dignostizierbaren "Störung", sondern jede von ihnen ist eine menschliche Ganzheit, die in schwer nachvollziehbarer Weise in jeder Minute um ihre Integrität, letztlich um ihr Überleben kämpft. Und dies nicht in afrikanischen oder asiatischen Kriegsgebieten oder verirrt im Dschungel, auch nicht im KZ der Nazis, sondern hier unter uns, umgeben von Mitmenschen … und doch wie unsichtbar. Im öffentlichen Diskurs kommen sie nicht (oder kaum) vor. Niemand kommt auf sie zu und reicht ihnen die Hand. Noch immer lebt tief in ihrem Innern die Überzeugung, daß "helfen" etwas Natürliches ist, ein Grundbestandteil des menschlichen Lebens, – aber es geschieht nicht. Niemand hilft, Jahr um Jahr nicht. Institutionalisierte HelferInnen wenden sich ab, sofern das entsprechende Betreuungssetting von den Betroffenen nicht genutzt werden kann oder sobald die Finanzierung ausläuft. "Wenn nicht der größte Teil der Innenpersönlichkeiten die Befreiung von den Tätern befürworten und unterstützen, ist ein Ausstieg, ist Therapie nicht möglich." So oder ähnlich steht es in Fachbüchern. Aber der Satz ist unvollständig. Ein Ausstieg ist dann angesichts der kaum vorhandenen staatlichen Unterstützung nicht möglich! – Derselbe blinde Fleck mußte überwunden werden, als es um die schulische Integration (später: die Inklusion) körperlich wie psychisch und kognitiv beeinträchtigter Mitmenschen ging. Wer würde infrage stellen, daß Merle Müller (und viele andere Überlebende derartiger jahrezehntelanger Folter und Konditionierung/Mind Control) zu dem durch die Behindertenrechtskonvention der UN gemeinten Personenkreis gehört?

Durch das hier vorliegende Zeugnis wird nachvollziehbar, daß das Eingreifen von Strafverfolgungsorganen bei erwachsenen Opfern von Ritueller Gewalt (mit DIS) sich orientieren muß an kindlichen Opfern von Straftaten: es kann nicht gewartet werden, bis das Opfer selbst sich äußert – aufgrund der Ängste und der entwicklungspsychologischen Struktur des Persönlichkeitssystems wird dies eventuell nie geschehen.Für Opfer von Ritueller Gewalt bei bestehender Tätergewalt sind spezielle Anlaufmöglichkeiten nötig. Geschützte Lebenssituationen und interdisziplinäre Vernetzungen müssen zur Verfügung stehen bereits vor der Befreiung. (Dies gilt analog zu Opfern von Zwangsprostitution, die als Erwachsene eingeschleust wurden.) Schutz, auch von eventuellen Kindern (die als Drohung genutzt werden), muß vorrangig sein (analog zu Frauenhäusern). – Die gnadenlose soziale Isoliertheit solcher versklavten Opfer (jedenfalls der allermeisten Persönlichkeitsanteile) ist ein Grundproblem, das Fehlen jeder Erfahrung mit der konventionellen Alltagswelt ein anderes. Wegen der durchgängig schlechten Erfahrungen mit anderen Menschen gibt es kaum Hoffnung auf Hilfsmöglichkeiten in der Außenwelt. Durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit sollte sowohl die Existenz solcher Tatzusammenhänge als auch von Anlaufstellen verbreitet werden. Die Tabuisierung des Themas – weil wir alle solche Schrecklichkeiten nicht wahrhaben wollen und eventuell auch aus anderen Gründen – muß aufgelöst werden.
Menschen in der Gewalt solcher Täterkreise, seien sie noch Kinder oder schon (nominell) Erwachsene, fallen offenbar durch das Netz der administrativen Unterstützungsmöglichkeiten. "Wir tun alles Menschenmögliche!" heißt es häufig bei polizeilichen Pressesprechern, sofern Gewaltverbrechen öffentliche Aufmerksamkeit erreichen. Gilt dies auch bei Gewaltopern wie Merle Müller?

Traumatherapeutische Fachbücher zum Thema Organisierte Rituelle Gewalt sind unersetzbar, über die subjektiven Empfindungen von Opfern können solche Veröffentlichungen kaum etwas vermitteln. Die Realität von multiplen Teilpersönlichkeiten in ihrer (Mit-) Menschlichkeit, ihrem Alternieren zwischen innen und außen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen unterschiedlichen Quellen von Erfahrung und Wissen wird für uns "Unos" (nicht multiple Menschen) wohl immer extrem schwer nachzuempfinden, also letztlich: glaubhaft sein. Eine grundlegende affektive Nähe zu solchen Betroffenen dürfte jedoch Voraussetzung sein, um Opfer extremer Gewalt mit DIS nachhaltig zu unterstützen. Autobiografische Zeugnisse, Selbstberichte und auch die hier vorliegende Dokumentation sind für TherpeutInnen und andere HelferInnen unverzichtbare Ergänzungen der konzeptionell und notwendigerweise verallgemeinernd angelegten Fachveröffentlichungen.

Was tun also? Die Augen zumachen, Merle Müller (und andere Opfer in vergleichbarer Situation) ihrem Schicksal überlassen – mit Verweis auf die Beschränktheit der sozialen, staatlichen, finanziellen, politischen, individuellen Hilfsmöglichkeiten? Gehen die Interessen der Täter und unsere (diejenigen der ganz normalen Bürger) hier konform? Zumindest in ihrer gnadenlosen, bewußt-losen Orientierung an einer beziehungslosen Sexualität sowie an der finanziellen Verwertung von Menschen um jeden Preis stehen diese Täter der gesellschaftlichen Normalität grundsätzlich näher als ihre Opfer.
(Aus der Einleitung)

Die beiden umfangreichen Teile der Dokumentation enthalten den (helferischen und freundschaftlichen) Mailaustausch zwischen verschiedenen Teilpersönlichkeiten von Merle Müller und mir aus den Jahren 2017 und 2018. Der Kontakt besteht fort.

Zusammenfassung in der Fachzeitschrift TRAUMA (Asanger Verlag) - hier!


Merle Müller ist noch immer in der Gewalt der Täter.

Erster Teil: WIRD KEINER HELFEN ?
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Zweiter Teil: VATI HAT MICH !
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Mondrian w. graf v. lüttichau: ALLTAG MIT TINA

Bettina ist kognitiv beeinträchtigt ("geistigbehindert"). Das buch berichtet von unserer liebesbeziehung über drei jahre. Es wird deutlich, daß auch derart schwer beeinträchtigte menschen gleichberechtigte, partnerschaftliche freundschaften, sogar liebesbeziehungen leben können, sofern ihre kognitiven und seelischen möglichkeiten als rahmen der begegnung geachtet werden. Ihnen angemessene entwicklungsbedingungen in der kindheit vorausgesetzt(und dieses glück hatte tina!), werden auch menschen mit schweren kognitiven beeinträchtigungen "erwachsen", sie entwickeln lebensreife und beziehungsfähigkeit (einschließlich erotisch-sexueller entfaltung).

Auf grundlage der erfahrungen in der beziehung mit bettina kann ich die sozialisationsbedingungen wohl der meisten "geistigbehinderten" menschen (auch hierzulande) nur als verbrechen gegen die menschlichen grundrechte sehen.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: CLARISSA und DIE LIEBE

Während meines sozialpädagogik-studiums hatte ich einen teilzeit-job als nachtwache in einer wohnstätte für erwachsene mit kognitiver beeinträchtigung ("geistigbehinderte"). Das buch berichtet von dem engen kontakt mit clarissa, einer bewohnerin mit schwerer epilepsie. Im mittelpunkt steht clarissas kampf um selbstbestimmtes leben – und mein bemühen um achtsamkeit für ihre autonomie. Deutlicher denn je wurde mir in der zeit mit clarissa, daß es bei alldem letztlich um liebe geht – und daß "mitleid" niemals grundlage sein kann für hilfe. Auch schwer beeinträchtigte menschen haben ein menschenrecht auf selbstentfaltung und selbstverantwortlichkeit.

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nina ranalter: AMORT

 

Nina ranalter wurde 1940 in tübingen geboren, wo sie auch aufwuchs. Sie arbeitete als sozialarbeiterin in gefängnissen und einem resozialisierungsprojekt. Mit karola bloch (architektin und partnerin des philosophen ernst bloch) war sie befreundet , auch mit der dichterin friederike mayröcker.
Der gedichtzyklus AMORT (1989) ist nina ranalters einzige selbständige veröffentlichung.

Am ehesten läßt sich AMORT als ein in episoden gegliedertes prosagedicht verstehen: epitaph für einen verlorengegangenen liebsten. (Daneben ist der zyklus wohl eins der schönsten parisgedichte deutscher sprache.) Von irgendwoher wird die (behauptete? mögliche? bezweifelte? irreale?) lebendigkeit einer frau berichtet. Sich selber fremd geworden – irrt diese frau (im november? im märz?) durch paris, in ihrer wortgewaltigen, schweigenden, verständnislosen, herzzerreißenden klage um den geliebten. Er, der aus prag zu stammen scheint (und mit ihr zusammen in paris westliche lebensverhältnisse kennenlernte), geistert durch ihre schattenhaften erinnerungen. Sie lotet aus, was sie in sich zu finden meint von dieser liebe, läßt das verlorene nid d'amour (liebesnest) in den straßen zurück und auf dem friedhof père lachaise, treibt vorüber an spuren der pariser geschichte, um sich an ihnen festzuhalten, gleitet von allem ab; – manchmal wörter aus der fremde: "was gefühlt fühle über sich hinaus ohne gegenrichtung" – aber vielleicht macht jedes erinnern reale erfahrungen zu etwas irrealem?

In diese neuveröffentlichung wurden weitere texte ranalters aufgenommen. Außerden enthält sie beiträge von sara päthe: fotografien und einen text. Beides versteht sich als spiegelungen oder imaginärer dialog mit dieser verloren gegangenen frau.

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Nora Waln: NACH DEN STERNEN GREIFEN

Deutschland, Österreich und Tschechoslowakei 1934-1938

Die US-amerikanische journalistin nora waln (1895-1964), aus wohlsituierter quäkerfamilie, erkundete von 1934 bis 1938 deutschland und österreich. Ihr 1939 in london und boston veröffentlichter bericht lebt von der für den leser nachfühlbaren zeugenschaft der autorin. Nora walns grundlegender blickwinkel ist ein humanistisch, idealistisch begründeter pazifismus ohne parteipolitische reflexionen, sowie eine zumindest mir sympathische affektiv besetzte gelehrsamkeit.  Immer deutlicher flackern in traulichen szenerien unvermittelt momente von gleichschaltung, unterdrückung und gewalt auf – selbst dies zunächst noch verkleidet in spießbürgerlicher ordentlichkeit, idealistischer begeisterung oder als seien es bedauerliche einzelfälle.

Nora waln zeigt sich im verlauf ihrer vier jahre in deutschland (und österreich) lernfähig, und sie dokumentiert die zögerliche wandlung ihrer zunächst sehr idealistischen einschätzung mit einem hauch bitterer ironie. Ihre zunächst naiv wirkende neutralität modifiziert sich mit den erfahrungen im nationalsozialistischen alltag zur feldforscherischen taktik. In verbindung mit ihrer sozialpsychologisch nuancierten beobachtungsgabe (und ihrer genuinen menschenliebe!) entsteht ein bericht, der nichts weniger ist als apolitisch.

Manche schilderungen harmonischer, idyllischer alltagsszenen oder auch traditioneller umgangsformen lassen sich heute kaum ohne widerwillen lesen. Nach 1945 gehörten solche erinnerungen in deutschland jedoch zu den wenigen scheinbar unkorrumpierten vorbildern für alltag und selbstgefühl. Im westen haben sie zumindest die adenauer-zeit wesentlich mitbestimmt, in der DDR scheinen sich versatzstücke daraus länger gehalten zu haben. Zur reflexion der NS-sozialisierten generationen über die verbrecherischen aspekte der nazizeit – gar noch im gespräch mit den nachgeborenen kindern – taugte entsprechendes selbstverständnis ebensowenig wie zu ihrer integration in die von massenmedien, konsum, kulturindustrie und "sexueller revolution" bestimmten gesellschaft nach 1950.

Heute, 50 jahre später, kann gerade nora walns laien-ethnografischer bericht für uns deutsche eine brücke schlagen zur welt unserer eltern, großeltern oder urgroßeltern.

Ihr augenzeugenbericht vom alltag im austrofaschismus (1936/37) läßt die spezielle österreichische mischung historischer hintergründe und innergesellschaftlicher ideologien und kräfte ahnen. Unabweisbar wird die geradezu mephistophelische raffinesse der schachzüge von NS-politik und -propaganda, mit der das öffentliche klima in österreich manipuliert wurde. Wieder ein anderer zeitgeschichtlicher blickwinkel auf die vorgeschichte des NS öffnet sich in ihrem umfangreichen kapitel zur situation in der tschechoslowakei, dem seinerzeit wohl fortschrittlichsten demokratischen impuls in mitteleuropa.

Bis in die letzten seiten des buches läßt sie die leserInnen teilhaben an ihren unvereinbaren erfahrungen und empfindungen in einem ideologischen spiegelkabinett. Gerade ihr tiefer ernst und ihre konsistente achtsamkeit über mehrere jahre ermöglichen uns, der damaligen soziodynamik in den von ihr rezipierten schichten und kreisen nachzuspüren. Solche zeitzeugenberichte aus dem blickwinkel individueller ("subjektiver") erfahrung und interpretation sind unverzichtbare erkenntnisquellen, die durch prozeßsoziologische bzw. mentalitätsgeschichtliche forschungsansätze behutsam erschlossen werden können.

Der text bietet sich nicht an zur selbstgerechten unterscheidung von bösen nazis und unschuldigen bürgern, sondern nötigt zur reflexion der vielschichtigen verstrickungen der deutschen bevölkerung jener zeit. Er ist ein atemberaubend hautnahes, geradezu intimes, einfühlsames – aber zugleich gespenstisches dokument aus dem innenleben nazideutschlands.

Nora waln engagierte sich bereits mit 20 für die 1915 fast ausgerotteten armenier, später lebte sie 20 jahre in china, schrieb darüber zwei seinerzeit populäre bücher. Nach 1945 arbeitete sie als journalistin in mehreren ländern des fernen ostens.

Das hier neuveröffentlichte buch erschien 1939 (in zwei unterschiedlichen versionen) in london und boston. Weitgehend unbeachtet kam 1947 eine deutsche ausgabe heraus.

Für diese erste deutsche neuausgabe wurde die übersetzung revidiert, gestrichene passagen wurden integriert. Ergänzt wurden zeitgeschichtliche anmerkungen sowie ein nachwort des herausgebers mondrian v. lüttichau.

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Petra Bern: LISA UND LUDWIG. Novelle einer Monumentophilie

Prägnant wird die gnadenlose soziale isoliertheit einer ohne zweifel seelisch tiefgreifend verwundeten jungen frau gezeigt, die sich in herzzerreißender konsequenz lossagt aus der gemeinschaft der lebenden menschen.

(Erstveröffentlichung 1994 - unter dem namen petra haase - in: 'VIELLEICHT blickte ich gern in die Welt. Jugendtexte zur Gegenwart.'
Hrsg. von der Jürgen Ponto-Stiftung Frankfurt/M. und dem Literaturbüro Leipzig e.V.)

Siehe auch von Petra Bern: ESCAPICTORA (2018)

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Petra Nürnberger: MEINE FREUNDIN PAULA N. – Wie es weiterging. Leben voller Hoffnung

Petra nürnberger ist überlebende von schwersten psychischen traumatisierungen in der kindheit. Neben anderen traumafolgeschädigungen entstand bei ihr eine dissoziative identitätsstörung (DIS, umgangssprachlich "multiple persönlichkeit"). Ursprünglich 36 anteile (persönlichkeiten) mußten sich in der kindheit abspalten, um die unterschiedlichsten traumaerfahrungen aushalten zu können bzw. den anforderungen des alltags gerecht zu werden.

In einer früheren veröffentlichung (2005) hatten die persönlichkeiten der gruppe nürnberger von sich selbst und den ersten jahren der traumatherapeutischen aufarbeitung berichtet. Jetzt geht um die möglicherweise abschließende phase der therapie. Im mittelpunkt stand die zunächst noch recht labile 'innenarchitektur' des multiplen systems, nicht zuletzt die solidarische und gleichberechtigte kooperation der persönlichkeiten miteinander – orientiert am leben hier und heute mit all seinen 'ganz normalen' konflikten.

Petra nürnberger ist inzwischen mit großem engagement wieder berufstätig, die traumatische kindheit ist vergangenheit geworden. Die weiterhin existierenden persönlichkeiten leben und arbeiten gleichberechtigt hand in hand; - für die gruppe nürnberger gilt ohne zweifel, daß pures "überleben" zu "leben" geworden ist!

Dieser lebens- und therapiebericht kann betroffenen mut machen und hoffnung geben, daß der schwere, von rückschlägen gesäumte weg der therapeutischen aufarbeitung, der nachreifung, des heilewachsens sich lohnt, - daß auch für überlebende so schrecklicher kindheitserfahrungen ein einigermaßen "normaler", selbstbestimmter alltag mit freude, erfolg, bestätigung und lösbaren konflikten möglich werden kann!- Außenstehenden ermöglicht er den einblick in alltagssituationen von menschen mit "multipler persönlichkeit", von denen mehr unter uns leben, als wir wohl ahnen.

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Rachel, Klaus, Moni, Lars, Habiba, Ben & Laura: UNSER SIEG ÜBER DIE RITUELLE GEWALT

Rachel war seit frühester kindheit RITUELLER GEWALT ausgeliefert. In den ersten lebensjahren galt sie als "geistig behindert", später wurde autismus diagnostiziert. Durch Gestützte Kommunikation (FC) wurde ab 1993 deutlich, daß sie nichts weniger als kognitiv beeinträchtigt ist. Als in rachels FC-botschaften zunehmend hinweise auf sexuelle gewalt auftauchten, wurde erst dies zum auslöser für erinnerungen von laura, ihrer mutter, an ihre eigene traumatische kindheit. Mutter und tochter waren opfer desselben germanofaschistischen kults gewesen, dem auch verwandte angehörten!

Bei rachel hatte sich eine dissoziative persönlichkeitsstruktur (multiple persönlichkeit) entwickelt. Sprechen wie selbständiges handeln ist für sie bis heute verknüpft mit verboten, schrecklichen erfahrungen und programmierungen der täter. Mithilfe der Gestützten Kommunikation haben verschiedene persönlichkeiten ihre systems seit 1993 auf weit über 1000 seiten umfassend über folterungen, demütigungen, programmierungen und sexuelle gewalt der täter berichtet. Neben den FC-dialogen mit der mutter entstanden selbstdarstellungen der innenpersönlichkeiten, gedichte. Auch an mehrere selbsthilfezeitschriften richtete rachel und ihr system auf austausch und unterstützung hoffende FC-briefe. Das stimmengewirr innerhalb der texte zeigt ein nuanciertes, aber orientierungsloses aufarbeitungs- und beziehungsbedürfnis. Diese botschaften sind ein überwältigender und erschütternder selbstheilungsversuch des multiplen systems.

Kaum je wurden die unterschiedlichen (und meist dazuhin irritierten) blickwinkel dissoziativer teilpersönlichkeiten auf die eigene traumatische lebensgeschichte sowie ihre schrittweise klärung und aufarbeitung über bald zwei jahrzehnte in einer publikation nuanciert dargestellt. Durch einen ebenfalls dokumentierten mailkontakt von 2011 wird die noch immer bestehende innere verwirrung eines multiplen systems nachvollziehbar, die schwierigkeit, etwas von dem grauenhaften konsistent und nachvollziehbar zu vermitteln, selbst wenn vertrauenswürdige bezugspersonen vorhanden sind.

Durch das hier vorliegende, in seiner vielschichtigkeit, nuanciertheit und stringenz singuläre zeugnis können wir vieles lernen über die psychodynamik von Struktureller Dissoziation (speziell bei DIS) wie über täterintrojekte und konditionierung bei Ritueller Gewalt, über die praxis von sexueller kinderversklavung (hier in deutschland!), aber auch über Gestützte Kommunikation (FC) und die gratwanderung zwischen fürsorge und selbstverantwortung bei menschen mit beeinträchtigungen, nicht zuletzt über lebenskräfte (resilienz), über die unabweisbare sehnsucht nach mitmenschlicher begegnung. - Wichtiger aber ist, daß diese dokumentation für laura, für rachel und alle persönlichkeiten ihres systems zum manifest einer grundlegenden abgrenzung wird: Das grauenhafte ist gewesen - aber es ist vorbei. Wir haben die Rituelle Gewalt nicht nur überlebt, - unsere menschlichkeit, lebenszugewandtheit und liebesfähigkeit hat gesiegt!

(Nachwort mondrian v. lüttichau)

Siehe auch die zweite Veröffentlichung von Rachel & Co.

Achtung - triggerwarnung!
Die dokumentation enthält durchgängig beschreibungen brutaler gewalt.

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Rachels & Blumen, Janik & Franzi , Laura & Nurse, Adele Anton: RITUELLE GEWALT, AUTISMUS UND MIND CONTROL – AUS UNSERER ERFAHRUNG

 

Vier Überlebende von Organisierter Ritueller Gewalt sind Autorinnen dieser Veröffentlichung, alle mit Dissoziativer Identitätsstruktur (DIS). Drei von ihnen zeigen dazu unterschiedliche Symptome der sogenannten Autismus-Spektrum-Störung. –
Das Grauen, dem Babys, Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene (meist Frauen) in ideologischen, satanistischen, germanofaschistischen oder sonstigen Gruppen mit Ritueller Gewalt, Zwangsprostitution, psychischer Konditionierung und anderen Formen des organisierten Verbrechens ausgeliefert sind, kann sprachlich nicht angemessen dargestellt werden. Derlei nicht nur zu überleben, sondern darüberhinaus zu einer Form von Heilung zu finden, gelingt allenfalls in vielen Jahren, begleitet von sachkundigen TherapeutInnen und unterstützt von zugewandten HelferInnen, FreundInnen, Angehörigen und (nicht zuletzt) engagierten MitarbeiterInnen von Behörden, Institutionen und Initiativen. Die meisten Überlebenden finden nur wenig von alledem.

Rachel hatte Glück (im Unglück). Seit 1993 gelang es ihr, vierzehnjährig, sich immerhin schriftlich über das seit frühester Kindheit erfahrene traumatische Leid zu äußern. Von Anfang an wurde ihr geglaubt. Der Zugriff von Tätern wurde unterbunden (1995). Rachel hat die verläßliche Unterstützung der Eltern, von TherapeutInnen/Ärzten, EinzelfallhelferInnen (Persönliche Assistenz) und anderen.

Um seelisch zu überleben, entwickelte das Kind Rachel eine Dissoziative Identitätsstruktur (DIS), wie die meisten Opfer von Organisierter Ritueller Gewalt. Jede der unterschiedlichen traumatischen Situationen konnte nur von einem weitestmöglich abgegrenzten (= abgespaltenen, dissoziierten) Bewußtsein (oder Ich) ausgehalten werden. Viele dieser als Überlebenform genuin entstandenen Ichs werden von Tätern in deren Interesse zu bestimmten Tätigkeiten und Verhaltensweisen konditioniert. Oft werden weitere dissoziative Abspaltungen durch gezielte Folter herbeigeführt. Diese haben nur wenig Bezug zu gesunden, allgemeinmenschlichen Empfindungen und Bedürfnissen; sie sind weitgehend oder vollständig orientiert an der Welt der Täterinteressen (inverse Programmierung, Mind Control). Bei Rachel kam diese untergründige Ebene der Mind Control in unserer Therapie erst ab 2014 unübersehbar zutage, – nachdem bereits seit 25 Jahren kein Täterkontakt mehr besteht. In diesem Zusammenhang entstand die vorliegende Publikation.

Rachel galt in den ersten Lebensjahren als "geistig behindert", später wurde Autismus diagnostiziert. Aufgrund der schweren "Verhaltensauffälligkeiten" lebte sie in diesen Jahren in einem Behindertenheim. Durch Gestützte Kommunikation (FC)wurde ab 1993 deutlich, daß sie nichts weniger als kognitiv beeinträchtigt ist. Als in Rachels FC Botschaften zunehmend Hinweise auf sexuelle Gewalt auftauchten – und in Zusammenhang damit die Namen von Lauras Angehörigen –, wurde erst dies zum Auslöser für die Erinnerungen der Mutter an ihre eigene traumatische Kindheit.
Im Zusammenhang mit der Arbeit am ersten Buch UNSER SIEG ÜBER DIE RITUELLE GEWALT (2012, ebenfalls hier bei A+C erschienen) entstand 2011 per Mail die weiter anhaltende online-Therapie mit Rachel & Co.

Im Jahr 2014 öffnete sich eine neue Tür zur Freiheit durch Rachels freundschaftlichen Austausch mit Janik & Franzi, einer ebenfalls autistischen und multiplen Überlebenden von Ritueller Gewalt und Mind Control. Rachels & blumen, Nurse(eine Teilpersönlichkeit der Mutter Laura) und (beratend) Janik & Franzi konnten ab jetzt zusammenarbeiten bei der Aufgabe, Mind Control-Programme im Alltag systematisch durch Gegenprogramme aufzulösen. –

Durch eine Auswahl von Mails zwischen Rachel & Co. und mir aus den Jahren 2011 – 2017/8 knüpft die neue Veröffentlichung an die damalige Dokumentation UNSER SIEG ÜBER DIE RITUELLE GEWALT an. Im Mittelpunkt stehen zwei Themen:

> Die Problematik der "inversen", also von den Tätern durch Folter erzwungenen dissoziativen Abspaltungen, die ausschließlich bestimmte Aufgaben im Tätersinn erfüllen sollen und zunächst kaum allgemein-menschliche Bedürfnisse haben (Mind control), sowie

> Erfahrungen und Hypothesen über Zusammenhänge zwischen Ritueller Gewalt (einschließlich Mind Control) und unterschiedlichen Formen der Autismus-Spektrum-Störung (ASS).

Dazu konnte die nuancierte Abhandlung einer weiteren Überlebenden hinzugefügt werden: Adele Anton (Pseudonym) war täterorientiertes Opfer: eine sogenannte "Programmiererin" innerhalb eines multiplen Systems. Die Texte von Janik & Franzi und Adele Anton sind nicht nur Erfahrungsberichte, sondern darüber hinaus bedenkenswerte Diskussionsgrundlagen der Hypothese, daß autistische Symptomatik (im Zusammenhang mit Struktureller Dissoziation einerseits und Mind Control andererseits) eine schwere Form von Traumafolgestörung darstellen kann.

Mind Control, also inverse Programmierung, wird mittlerweile auch in einigen traumatherapeutischen Fachbüchern differenziert beschrieben. Noch immer wird die Realität solcher Leidensgeschichten von manchen Menschen bezweifelt. TherapeutInnen hätten den Überlebenden etwas eingeredet, heißt es dann gerne. In der vorliegenden Dokumentation ermöglichen uns die Autorinnen Rachels & blumen, Janik & Franzi und Adele Anton einen tiefen, auch emotionalen Einblick in die Realität von Opfern dieser teuflischen Zurichtung von Menschen. Deutlich wird, daß auch sie nicht nur "autistische Multiple" sind; keine Wesen der dritten Art, sondern Mitmenschen, deren Persönlichkeitsentfaltung aufgrund schrecklichster Lebens-bedingungen spezielle Prioritäten entwickeln mußte. Wir können von ihnen lernen, sie können von uns lernen – unser Menschsein verbindet uns. Liebe ist die größte Kraft!

[Aus der Einleitung des Herausgebers Mondrian v. Lüttichau)

Eine Überlebende schrieb im Januar 2019 über diese Veröffentlichung: "Ich habe mich in den letzten Wochen viel mit diesen Seiten beschäftigt, um irgendwie einen besseren Zugang zu meinem vielschichtigen verschachtelten Innen und zu diesem sehr komplexen Thema zu bekommen. Und es ist so eine Erleichterung zu erkennen, dass ich mir das nicht eingebildet habe und dass es diese Form der Menschenabrichtung wirklich gibt! Ich habe so etwas in der Form noch nie vorher gelesen, endlich gibt es Worte für vieles, wofür es vorher nur Sprachlosigkeit gab! Seitdem ich diesen Text und andere Teile des Buches gelesen habe, habe ich den Eindruck, dass der innere Nebel sich etwas lichtet und die Richtung langsam konkreter wird."

Siehe auch die erste Veröffentlichung von Rachel & Co.

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Uta Kühn: SURAMDILILS GEFOLGE UND ANDERE GESCHICHTEN VOM LEBEN

Uta über sich:

Ein Mensch eine Frau auf dem Weg, auf der Suche, ständig lernend und gelerntes weitergebend. Literatur und Kunst sind für mich vor allem Kommunikation durch alle Zeiten. Ich glaube daran dass sie sich wie Schneebälle multiplizieren können und unsere Welt ein wenig lichter machen. Genau wie mit Liebe und Können gebackene Brötchen oder gut gebaute Tische und ein gutes Gespräch. Für mich finden sie Ausdruck im Tanz, der Literatur und in gemalten Bildern, aber auch beim Kochen und im Gespräch mit einem Kind. Alles ist offen.

Siehe auch im hauptmenü die galerie INDISCHE WEGE - HERZWEGEsowie bei den büchern den von uta herausgegebenen gedichtband von GIULIANO ASTI.

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WAHRHEIT DER SEELE – Ida v. Lüttichau (1798-1856)

ERSTER BAND + ERGÄNZUNGSBAND

Herausgegeben von mondrian v. lüttichau & petra bern

Dresden im vormärz. - Hoftheater mit verfeindeten künstlerischen koryphäen und stars, unter dem einfluß von kirche, hof und bürgertum. Zerstörte menschenleben und komplizierte ideologische fronten der revolutionszeit. - Ida v. lüttichau ist die frau des dresdner hoftheater-intendanten, vertraute des dichters ludwig tieck und dessen tochter dorothea, des universalgelehrten carl gustav carus und des historikers friedrich v. raumer. Früh tritt sie für richard wagners musik ein. Tod dreier kinder, lebenslang chronische schmerzen, ein zwiespältig-bürokratischer ehemann, von vielen verehrt wie eine heilige: Wer war diese frau? - Erst im überschauen des verstreuten schriftlichen nachlasses sowie von zeugnissen der zeitgenossInnen wird ihr stetes bemühen um achtsamkeit für feinste lebensregungen in sich und anderen deutlich. Idas grundlegende haltung dem leben gegenüber war ein horchen nach innen, um dort existenzielle antworten zu finden. Diese orientierung an der eigenen mitte entfaltete sich angesichts der vom leben an sie herangetragenen aufgaben in dresden zu umfassender tiefgründigkeit auch gegenüber der sozialen außenwelt.

Hinter dem bemühen, ida v. lüttichaus vermächtnis jetzt, 150 jahre nach ihrem tod, ans tageslicht zu bringen, steht die überzeugung, daß wir menschen wie sie unbedingt brauchen: als anstoß, als orientierung und vorbild zu menschenwürdigem leben - gegen verdinglichung unseres seelenlebens und instrumentalisierung der natur um uns.

Erster Band:
In dieser dokumentation sind nahezu alle zu verschiedenen zeiten verstreut veröffentlichten texte und zitate ida v. lüttichaus gesammelt, außerdem alle relevanten zeitgenössischen erinnerungen an sie. Dazu kommen einige hier erstmals veröffentlichten tagebuchaufzeichnungen und briefe sowie ein vorwort des herausgebers MvL. (Korrigierte und ergänzte neuauflage im januar 2017)

Ergänzungsband:
In seinem mittelpunkt stehen erstveröffentlichungen von handschriften (transkribiert für diese ausgabe von petra bern). Das sind tagebuchaufzeichnungen idas, sämtliche erhaltenen briefe an idas engen freund, den historiker friedrich v. raumer sowie auszüge aus tagebüchern einer jugendfreundin (johanne friederike v. friesen) sowie von briefen dorothea tiecks (an friedrich v. uechtritz). Aber es gibt dort noch anderes zu entdecken..

Übrigens: Die denkmalgerechte restaurierung der gräber ida v. lüttichaus und ihrer familie auf dem dresdner trinitatis-friedhof ist abgeschlossen! -Inzwischen wurde auch die direkt danebenliegende grabstätte von carl gustav carus restauriert.

Werner Milch: DIE JUNGE BETTINE UND IHR SCHWERER WEG IN DIE MENSCHENWELT

Werner Milch (1903-1950) war Germanist und Literaturhistoriker. Nach 1933 wurde er im Zuge der NS-Rassengesetze aus seinen Ämtern entlassen. Er stand in Kontakt mit Bettines Enkelin Irene Forbes-Mosse und konnte den Arnim'schen Nachlaß auswerten. 1938 wurde Milch kurzzeitig im KZ Sachsenhausen gefangengehalten; im Juni 1939 emigrierte er in die Schweiz, von dort nach Großbritannien. Nach 1945 kehrte Milch nach Deutschland zurück, wurde 1949 an die Universität Marburg berufen. Das 1936/37 begonnene Buch "Die junge Bettine" blieb liegen, bis es zu spät war. Peter Küpper, akademischer Schüler Milchs und in dessen Beschäftigung mit Brentano/Arnim einbezogen, überarbeitete Jahre nach dem Tod des Autors das Manuskript; 1968 wurde das Buch bei Lothar Stiehm, einem jungen germanistisch orientierten Verlag, veröffentlicht.

Deutlich wird Milchs nuancierte Sensibilität für seelisch-psychologische, philosophische und spirituelle Momente. Seine hermeneutische Achtsamkeit, sein Bemühen, Bettines "innere Biographie" zu erkunden und darzustellen, tragen zum besonderen Wert seines Buches bei. Er sucht in Bettines schriftlichen Äußerungen durchgängig nach authentischen Bewußtseinsprozessen. Milchs Fokussierung auf die seelische wie auch die spirituelle innere Wahrheit der jungen Bettine stand am Beginn meiner an sein Buch anschließenden Überlegungen: "Bettines schwerer Weg in die Menschenwelt".

Bettines Werke einschließlich ihrer Briefe sind in allem Wesentlichen genuine Schöpfungen ihres Innern, Resultat einer lebenslang nach außen drängenden kreativen seelischen, poetischen, spirituellen Selbstentfaltung. Diese sie selbst in gewisser Weise wohl überfordernde Flut wollte sie auf unterschiedliche Weise in die sie umgebende soziale und gesellschaftliche Normalität integrieren – die ihr jedoch zeitlebens fremd blieb (wie sie oft bekundete).

Bettine ist es wert, in ihrer menschheitlichen Eigen-Art neu entdeckt zu werden. Auch deshalb war es mir wichtig, daß in dieser Veröffentlichung nicht nur über sie geredet wird, sondern sie selbst ausführlicher zu Wort kommt: in längeren Auszügen aus Briefen und Werken sowie einigen zeitgenössischen Zeugnissen.

Eine Fortführung dieses biografisch-psychologischen Blickwinkels bildet die ebenfalls bei A+C als erweiterte Neuausgabe erschienene Dokumentation der Arbeitsbeziehung zwischen Bettine v. Arnim und Rudolf Baier (in den Jahren 1844/45).

auc-151-milch-bettine (pdf 3,9 MB)

Zivia Lubetkin: DIE LETZTEN TAGE DES WARSCHAUER GETTOS

Mit einem Beitrag vonEdith Laudowicz: Widerstand der Frauen im Warschauer Ghetto

 

Zivia Lubetkin (auch Cywia Lubetkin; Zivia Lubetkin-Zuckerman; Celina Lubetkin; Zivia Cukerman) (1914–1978) war eine jüdische Widerstandskämpferin im besetzten Polen, zionistische Funktionärin und Kibbuznik. Im Warschauer Ghetto war sie 1942 Mitgründerin der Widerstandsgruppe Jüdische Kampforganisation (ŻOB), die im Januar 1943 unter der Leitung von Mordechaj Anielewicz eine bewaffnete Widerstandsaktion gegen die Deportationen durchführte. Im April 1943 war sie eine Organisatorin beim Aufstand im Warschauer Ghetto.

Zivia Lubetkins Augenzeugenbericht DIE LETZTEN TAGE DES WARSCHAUER GETTOS erschien auf hebräisch bei En charod 1947, auf deutsch zunächst in "Neue Auslese". Hg. Alliierter Informationsdienst, 3. Jg. Heft 1, 1948, S. 1–13. Darauf folgte eine selbständige Publikation im VVN-Verlag, Berlin 1949. Als Nachwort wurde dort ein Artikel Friedrich Wolfs aus der Weltbühne hinzugefügt. Dieses Büchlein ist Quelle dieser erstmaligen Wiederveröffentlichung auf Deutsch.

Diese kostenfreie online-Ausgabe enthält neben Nachwort und Literaturhinweisen des Herausgebers einen Beitrag von Edith Laudowicz: Widerstand der Frauen im Warschauer Ghetto.

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