Alberto Albertini: ZWEI JAHRE

In diesem 1936 in österreich auf deutsch erschienenen philosophisch-spirituellen entwicklungsroman geht es zunächst um einen jungen römer im 4. jahrhundert unserer zeitrechnung, maximus, dem von gott nur noch eine lebenszeit von genau zwei jahren zuerkannt wird. Auf grundlage dieses gedankenexperiments entfaltet der italienische autor alberto albertini (1879 – 1954)auf mehreren ebenen kaleidoskopische reflexionen zum wesen von leben und tod, zur wahrheit von (christlicher) religion. Dies ist ein literarisches (kein philosophisches) werk, in dem der autor mögliche antworten auf diese existenziellen fragen in poetischer phantasie gestaltet.

In alltagsorientierten, keineswegs professoralen diskursen zwischen den zwölf personen der handlung mit ihren je eigenen blickwinkeln auf tod, leben und religion fächert sich das thema spannungsvoll und unvorhersehbar auf. Spiritualität als moment unserer wohl grundlegenden, zivilisationsübergreifenden bewußtseinsentwicklung wird dabei deutlich von organisierter monotheistischer religion abgegrenzt, wobei die möglichkeit einer versöhnung im sinne des panentheismus im verlauf der handlung vorstellbar wird.

Albertinis haltung hat nichts abstrakt philosophierendes; er bleibt den konkreten menschen achtsam, mit altersweiser, resignierter ironie zugeneigt. Unzählige facetten von menschlicher verirrung und menschlicher wahrheit werden berührt; das nachdenken atmet in den einzelnen szenen (meist sind es gespräche), die erzählung schwingt in weiten wellen. Seite für seite lädt es uns zur selbstbefragung ein. Manche szenen enthüllen jäh qualvolle momente des menschlichen alleinseins, unserer unabänderlichen selbstentfremdung vom ganzen der natur – zerreißen die kultivierte nachdenklichkeit des lesers. Aber auch die liebe spricht …

"Vielleicht sind die Rätsel des Todes, aus der Nähe gesehn, einfacher als die des Lebens", ahnt maximus. Eher noch sind die rätsel des todes in wahrheit rätsel des lebens, zeigt sich ihm post mortem.

Unbekümmert umgehen mit der tatsache der sterblichkeit können wir bekanntlich nur, solange sie abstrakt bleibt: andere sterben, nicht wir selbst, nicht unsere nächsten angehörigen. Meist erst in höherem lebensalter wird uns die begrenztheit der noch zu erwartenden jahre bewußt. Spätestens dann kommt für uns alle die frage: womit wollen wir die (wenn auch zeitlich nicht bestimmte) verbleibende lebenszeit nutzen? was hat priorität für uns? – Nicht zuletzt: wie geht das, abschied von der welt nehmen? Wir alle leben allzugerne in reminiszenzen an vergangenes, wir träumen und planen in die zukunft – das hier und jetzt, das allein leben bedeutet, achten wir im alltag kaum (vgl. osho). Auch deshalb ignorieren wir, was für uns alle in jedem augenblick unseres lebens gilt: "Jeder Atemzug bringt mich dem Verfallstag näher, jeder Pulsschlag …" Dem jungen maximus wird dies schmerzlich bewußt; er soll leben mit dem urteil gottes: nur noch zwei jahre! – Deutlich wird, wie nahe christliche versenkung buddhistischer meditation sein kann, aber auch, daß der glaube an götter nicht zuletzt eine antwort auf existenzielle fragen sein kann, die sich uns menschen aus der natur unseres bewußtseins heraus notwendigerweise stellen.

Alberto albertini (1879-1954) war ursprünglich jurist. Seit 1899 hatte er neben seinem bruder luigi leitende funktion bei der CORRIERE DELLA SERA. Diese zeitung entwickelte sich etwa zwischen 1910 und 1930 zur bis heute einflußreichsten unabhängigen tageszeitung italiens. Als mussolini 1922 die macht ergriff, opponierte luigi albertini, als herausgeber des Corriere della Sera, offen gegen den faschismus. Infolgedessen war er 1925 gezwungen, die leitung des blattes abzugeben an seinen bruder alberto. – Alberto albertini trat in seinen späteren lebensjahren vor allem mit belletristischen arbeiten hervor; in italien gibt es zunehmend neuauflagen seiner werke, außerhalb italiens ist er wohl kaum je bekannt geworden.

Das vorliegende buch von alberto albertini war auf deutsch 1936 im HERBERT REICHNER VERLAG WIEN veröffentlicht worden; nach der okkupation österreichs durch die nazis wurde der verlag aufgelöst. Für albertinis buch gab es keine deutschsprachige öffentlichkeit mehr. Die neuherausgabe etlicher werke albertinis in italien macht hoffnung, daß dieser autor nun doch noch einmal dem vergessen entrissen werden wird. Auch dazu möchte meine wiederveröffentlichung beitragen.

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Anne de Tourville: JABADAO

Anne-Marie Jeanne Nouël de Tourville de Buzonnière, die sich Anne de Tourville nannte, wurde geboren am 26. August 1910 in Bais, Ille-et-Vilaine (Bretagne). Sie starb in Vitré, Ille-et-Vilaine am 24. September 2004.
Anne de Tourvilles Geschichte rund um den alten bretonischen Tanz Jabadao liest sich wie die Nacherzählung einer bretonisch-keltischen Legende. Es geht um das ewig menschheitliche Thema: ein Junge und ein Mädchen lieben einander, jedoch sollen sie nicht zusammen kommen, weil sie verschiedenen Schichten und Dörfern angehören. Während wir das Keimen dieser Liebe, ihr Blühen, die bösartigen Gefahren und das glückliche Ende im allerletzten Augenblick verfolgen, werden wir an der Hand genommen und hineingeführt in die halb mythische, halb historische Welt bretonischer Sagen, Symbole und Zeremonien, Kleider und Speisen, Geheimnisse, Tiere und Pflanzen, Gerätschaften, Arbeitsroutinen, Namen, Überzeugungen und Traditionen, zwischen Toten, Naturmächten und Zauberei, Ängsten und Leidenschaften. Eindrückliche Frauengestalten stehen im Mittelpunkt der Erzählung.Vermutlich konnte die Autorin, die ihr Leben lang in ihrer engeren Heimat Ille-et-Vilaine (dem östlichsten Département der Bretagne) blieb, hierfür auf die mündlichen Überlieferungen ihrer Umgebung zurückgreifen. – Aber was wird heute noch davon existieren (außer touristisch funktionalisierter Versatzstücke)?

Ihr Roman erschien in Frankreich 1951 (mit Neuauflagen 1957 und 1979), auf deutsch 1953. Er wurde auch ins Englische, Italienische, Holländische und Portugiesische übersetzt.
Diese einzige deutsche Neuausgabe wird eingeleitet durch einen Text von Seth A'Peara, der sich fast kontrapunktisch bezieht auf Jabadao und doch bei sich bleibt: in wieder anderen Welten.

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Arthur Rimbaud: BRIEFE UND DOKUMENTE

Arthur Rimbaud bei Autonomie & Chaos, Teil I

Die hier in einer erweiterten Ausgabe wiederveröffentlichte kommentierte Übersetzung der meisten und wichtigsten Briefe des französischen Dichters Arthur Rimbauds (sowie von Dokumenten zu seinem Leben) erschien ursprünglich 1961 im Verlag Lambert Schneider, Heidelberg.

Der Übersetzer Curd Ochwadt schreibt in seinem Nachwort: "Rimbauds Briefe, auch die späten, müssen in aufmerksamem Hinüber- und Herüberblicken mit seinen Dichtungen zusammen gelesen werden. Denn die Briefe bieten einen ausgezeichneten Zugang zu Rimbauds eigenem Verständnis seiner Dichtung und verhelfen damit zu einer angemessenen Annäherung an diese. Andererseits ist bei wenigen Dichtern das Dasein im Ganzen so sehr vom Geschick ihrer Dichtung bestimmt wie hier — Sensation und Mythus um Rimbaud haben das bisher nur verdeckt. Darum öffnen sich auch die Briefe erst dem, der beachtet, in welchem Maße die in der Werkhinterlassenschaft niedergelegte Erfahrung das Dasein dieses Briefschreibers beherrschte."

Die vorliegende Neuausgabe wurde ergänzt durch Erinnerungen der Schwestern Vitalie und Isabelle Rimbaud (ebenfalls in Ochwadts Übertragung), Faksimile-Abbildungen und französische Transkriptionen von Briefen, die ausführliche Dokumentation des neuentdeckten bedeutsamen Briefes an Jules Andrieu (1874) (Übersetzung Petra Bern für A+C)sowie durch Abbildungen und einige Hinweise des Herausgebers. Sie steht im Zusammenhang mit einer Reihe Arthur Rimbaud bei Autonomie und Chaos, zu der noch weitere fünf Wiederveröffentlichungen gehören, die 2021 und 2022 erscheinen (werden).

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Daniel Rudman: "HALT MICH BIS ZUM MORGEN - !"

(Übersetzung und nachwort: wieland speck)

Fast vergessen ist die kometenhaft wieder verschwundene westdeutsche männerbewegung in den 70er jahren des letzten jahrhunderts. Dieses theaterstück (oder hörspiel) erschien (auf deutsch) erstmalig 1976 in westberlin und findet sich nichtmal in den beständen der Deutschen Nationalbibliothek.

Die beiden charaktere PENIS und SELBST versuchen in einem hilflos-wütend-verzweifelten gespräch, ihre gegenseitige entfremdung zu begreifen und aufzulösen. – Unzulängliches "funktionieren" im rahmen der geschlechtsbeziehungen wird deutlich als auslöser von selbstvergewaltigungs- und selbstzerstörungstendenzen (auch) bei männern. Dies wird kaschiert durch patriarchalische selbstwertgefühle – nicht nur auf kosten der sexualpartnerInnen, sondern auch der eigenen geschlechtlichkeit. Der PENIS wird zum werkzeug, - die gesellschaftlich "normale" verdinglichung vergiftet menschliche nähe und intimität. Selbsthaß wird zu haß auf das sexuelle gegenüber: "Natürlich habe ich sie/ihn ficken wollen!"

Ein tief berührendes stück, das sich noch immer sehr gut eignet zur szenischen lesung in männergruppen – aber gibt es überhaupt noch männergruppen??

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Diotíma: SCHULE DER LIEBE

(Bearbeitete neuausgabe: Mondrian graf v. lüttichau)

Dieses buch ist ein wunder! Es ist gewiß das radikalste, tiefste, liebevollste und weiseste, das in deutscher sprache je zum thema leibliche liebe geschrieben wurde. Diotímas haltung ist radikal in jeder weise: Liebe sieht sie als schrankenlose, tabulose sexuelle leidenschaft und hingabe und zugleich unbedingte und kompromißlos innigste nähe zweier menschen in ihrer individualität.

Zum thema eros im zeitalter der sexuellen revolution schreibt der sexualwissenschaftler volkmar sigusch: "Doch wenn wir genauer hinsehen, entdecken wir überall, oft hinter buntscheckigen Masken versteckt, ungestillte Sehnsucht, aufgeputschte Nerven, abgespeistes Verlangen, enttäuschte Liebe, eingeredeten oder tatsächlichen Missbrauch, Versagen, Heuchelei, Geschlechtszweifel, Sexismus, Angst, Schuld, Einsamkeit und Selbstsucht. Offenbar gähnt in unserer Kultur ein Abgrund zwischen unseren Wünschen und ihrer Befriedigung. (...) Eine in sich harmonische Möglichkeit des Erotischen und des Sexuellen ist nicht einmal theoretisch zu erkennen." ('Neosexualitäten', frankfurt/m. 2005, seite 50, 52) - Genau um solche möglichkeiten aber ging es lenore frobenius-kühn, der autorin des hier wiederveröffentlichten buches.

'Schule der Liebe' erschien 1930im Verlag Eugen Diederichs (Jena). Die neuausgabe wurde um rund 70% gekürzt. Herausgenommen wurden vor allem inhaltliche redundanzen und weitschweifige erörterungen, die vielleicht damals die funktion hatten, zensur-instanzen abzulenken. Einige zeittypische begriffe wurden durch heutzutage verständlichere ersetzt. – Die ausgabe enthält ein ausführliches nachwort des herausgebers.

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Guido mohammad jafar: AUFZEICHNUNGEN EINES SUCHENDEN. Der nicht "sterben" will

Neuausgabe Februar 2020

(Hrsg. von mondrian v. lüttichau)

Mein freund guido starb 1994. Das buch enthält texte und briefe aus den jahren 1980-86, die guido mir 1986 zur verwahrung gegeben hat, außerdem meine erinnerungen an die zeit mit ihm. Der buchtitel stammt von guido selbst. Die erweiterte neuausgabe enthält  zusätzlich fotos und einige weitere texte. –

Deutlich wird guidos lebenslange suche nach authentischem, unentfremdetem leben. Demgegenüber standen erhebliche seelische verletzungen aufgrund von traumatisierenden sozialisationsbedingungen. Guido mohammad jafar kann in seinen nachgelassenen texten und briefen mut machen, sich der allgegenwärtigen "normalen" entfremdung und verdinglichung nicht zu unterwerfen.

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Günter Steffens: DIE ANNÄHERUNG AN DAS GLÜCK

Erst 1965 publizierte Günter Steffens (1922–1985) einen kleinen Roman unter dem Titel DER PLATZ. Danach war es lange Zeit wieder still um ihn, bis 1976 ein zweites Buch herauskam, der hier erstmalig wiederveröffentlichte autobiographische Roman DIE ANNÄHERUNG AN DAS GLÜCK. Äußerer Anlaß des Buches war das unaufhaltsame Sterben seiner an Krebs erkrankten Frau. Nach ihrem Tod versinkt Leo, der Protagonist, in eine depressive Selbstzerstörung, die zur einzig möglichen Selbstbewahrung wird. Es gibt keinen Trost in sozialer Bestätigung, gar Geborgenheit; Momente von Bewältigung liegen allenfalls noch im sprachlichen Dingfestmachen des Weiterlebens. Aber es gibt kein Gegenüber für diese Erfahrungen.
Der maßlose, ausschweifende, chaotische, zärtliche, hilflose, egozentrisch-narzißtische Bewußtseinsstrom trägt seinen Sinn in sich; kein Satz ist überflüssig – oder jeder Satz könnte es sein: das rhizomatische Prinzip, - ein gewalttätiges Wurzelgeflecht des Lebens; nur so war dem Autor weiterleben noch möglich. Am Ende steht der Impuls, diese drei Jahre nach dem Tod von B zu dokumentieren. – Primum vivere, deinde scribere? Die Aporie des kreativen Menschen ist wohl das innerste Thema dieses Nicht-Romans.
Die Schublade Regression drängt sich auf, ja – aber wie Leo (der Autor?) diesen Sog der Regression (dem möglicherweise eine traumatische Sozialisation vorausging – manches deutet darauf hin) gedanklich und sprachlich formt, legitimiert die regressive Haltung als Lebensbewegung. Auch das kann Leben sein, auch so. Wieviel LEBEN ist in dieser Totenklage über ungelebtes Leben, für die B's Tod nur Anlaß war!
Das Buch läßt sich als bewußt-unbewußte Gegenbewegung zum Karzinom, dem Leben zerstörenden Lebensprozeß verstehen. Das ganze gelebte Leben wird hineingenommen in dieses Buch vom Sterben und vom Tod, wie in den mittelalterlichen Totentänzen. Der sogenannte soziale Abbau der Hauptperson, Leo (des Autors?) ist ein Ringen um Selbstachtung angesichts des schrittweisen Verlusts von Selbstachtung. Zugleich bildet Steffens' Text den Krebs selber ab – die unausweichliche Zerstörung des organischen, seelischen wie sozialen Gewebes. Hoffnungslos entfremdet waren die Beziehungen zwischen den erwachsenen Hauptpersonen seit jeher; erst jetzt wird es offensichtlich.
Sympathisch muß uns der Icherzähler nicht sein; wahrhaftig ist seine Selbstdarstellung zweifellos. Ein qualvoll ehrliches Buch ist das. Und es steht für uns alle, für die unvermeidliche Entfremdung des Menschen (aller Menschen) und der mitmenschlichen Beziehungen zumindest in unserer entwickelten Zivilisation. Für das mehr oder weniger hilflose Bemühen, im Schlamm der (Selbst-)Entfremung authentische, lebenswerte Empfindungen, Interpretationen und Entscheidungen zu erspüren. "Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, ist das ganz Normale, wie alles, was schrecklich ist."
(Aus dem Nachwort)

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Heinrich Hauser: KAMPF. Geschichte einer Jugend

Der seemann, schriftsteller, farmer, fotograf und dokumentarfilmer HEINRICH HAUSER (1901 – 1955) trat 1918 als seekadett ein in die Marineschule Flensburg. Dort war er augenzeuge der Novemberrevolution. Zum schein schloß er sich kurzfristig den revolutionären matrosen an; anschließend wurde er mitglied des Freikorps Maercker und war beteiligt am bürgerkrieg zwischen reichsregierung (freikorps) und revolutionären aktivisten (Arbeiter- und Soldatenrat).

Kurzzeitig arbeitete er anschließend in einem hüttenwerk in ruhrort. Er schloß sich einer freikorps torpedobootflottille an und erlebte ausläufer des Kapp-Putsches, mit dem er sympathisierte. Von 1920 bis 1922 arbeitet hauser unter anderem als barmann und am hochofen, er macht zwei ansätze, medizin zu studieren und erlebt seine erste liebesgeschichte. In den jahren 1923 bis 1930 war er als (leicht-)matrose auf handelsschiffen und nahm dort an fahrten in alle kontinente teil. –

1925 wurde heinrich hauser mitarbeiter der Frankfurter Zeitung. Der vor allem in den 30er jahren sehr erfolgreiche autor schrieb zahlreiche Essays, reisereportagen und romane. Für seinen zweiten roman 'Brackwasser' erhielt er 1928 den Gerhart Hauptmann-Preis. Im selben Jahr entstand die fotoreportage 'Schwarzes Revier' über das ruhrgebiet.

Von diesen ersten dreißig lebensjahren seines lebens berichtet das vorliegende, hier erstmalig wiederveröffentlichte buch. Die erstausgabe erschien 1934; spätestens seit 1933 sah hauser im nationalsozialismus eine perspektive zur verwirklichung eigener ideale – bis 1939. Im vorliegenden autobiografisch-belletristischen bericht will der autor diese parteinahme für die nazis aus seiner lebenserfahrung heraus begründen.

Heinrich hauser wanderte 1939 in die USA aus. Dort arbeitete er in verschiedenen bereichen; mit zwei aufeinanderfolgenden ehefrauen betrieb er jeweils eine farm, zunächst in south valley/roseboom (new york), dann in wittenberg (missouri). Im Jahr 1948 kehrte hauser nach deutschland zurück und wurde für wenige monate chefredakteur der gerade gegründeten zeitschrift STERN. Er konnte in der BRD an seine früheren publikumserfolge nicht mehr anknüpfen, schrieb neben erinnerungen an seine zeit als farmer am mississippi vor allem auftragswerke (meist für die industrie). Jedoch hatte hauser bis ans lebensende ideen für unterschiedlichste, meist nicht verwirklichte projekte. Vierundfünfzigjährig starb er, offenbar durch freitod.

In jüngster zeit wurden mehrere seiner bücher wiederveröffentlicht, es gab eine ausstellung seiner fotografien aus dem ruhrgebiet, einer seiner filme wurde restauriert und wird ab und zu gespielt. Es gibt eine sehr materialreiche biobibliografische dissertation. Das hier wiederveröffentlichte frühe schlüsselwerk 'Kampf.Die Geschichte einer Jugend' versteht sich als nächster schritt dieser (notwendigerweise kritischen) wiederentdeckung des menschen und des autors heinrich hauser.

Heutzutage findet sich für dieses buch öffentlich kaum mehr als der hinweis, hauser habe sich mit ihm den nazis andienen wollen. Das ist nicht ganz falsch; jedoch lädt es darüberhinaus seite für seite ein zum nachdenken über sozialpsychologische, prozeßsoziologische, mentalitätsgeschichtliche zusammenhänge jener zeit – aus einem blickwinkel, der in den bis zur ermüdung gleichlautenden zeitgeschichtlichen interpretationen der populären medien fehlt; aber es ist dezidiert kein NS-ideologischer blickwinkel. - Wer sich nur aus den zeugnissen "linker", "fortschrittlicher" und "antifaschistischer" kräfte informiert über die vorgeschichte des NS‑deutschland, wird bestimmte aspekte der sozialhistorischen realität nicht verstehen. Solche ideologisch bestimmte selektive sicht ist einer der gründe, wieso wir aus der geschichte so wenig lernen. Robert musil schrieb zu diesem thema: "Die berühmte historische Distanz besteht darin, daß von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will."

Mit einem ausführlichen nachwort des herausgebers, mondrian v. lüttichau.

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Jürgen Haug: KELLERASSEL

"Ich möcht nur wissen, warum du immer den Außenseiter spielen willst?!" - Das bekommt jörg, geboren 1943, schon als jugendlicher von der mutter zu hören. Bereits im ersten kapitel (da ist er zwölf) ahnen wir seine homosexualität.

Im mittelpunkt steht zunächst der sozialisationsdruck, der männlichen jugendlichen in der BRD der 50er- und 60erjahre nur zwei möglichkeiten einer sexuellen identität ließ: entweder ganz und gar einzusteigen in die heterosexuelle rolle des "richtigen mannes", mit all ihren banalitäten, gemeinheiten, ihrer fast schon ritualisierten beziehungslosigkeit, ihren blöden und bösen witzen, den entsprechenden vorbildern von älteren und aus den medien, - oder aber gnadenlos in die diskriminierend gemeinte schublade des "schwuli" gesteckt zu werden.

Deutlich präsentiert uns der autor die teilweise pogromhafte gewalt etablierter rollenmuster und anderer gesellschaftlicher kriterien, zwischen denen menschen, die ihnen nicht entsprechen, bereits in der kindheit von gleichaltrigen hin- und hergetrieben werden. Einer unter erwachsenen (hierzulande, heutzutage) subtileren latenten pogromstimmung (im "freundeskreis", im arbeitsleben) sind diejenigen ausgesetzt, die "sich nicht anpassen" an soziale normen, die es wagen, "außenseiter" nicht nur zu sein, sondern auf ihrem recht beharren, zu leben, wie sie es für richtig halten (ohne andere zu beeinträchtigen).

Auch bei ich-synton schwulen männern bleibt die seit der kindheit anerzogene diskriminierung von homosexualität noch lange zeit bestehen, das grundlegende bedürfnis nach sozialer zugehörigkeit sowieso. Deshalb wird mitgemacht beim alltäglichen small talk; (hetero-)sexuelle anspielungen, empfindungen und begegnungen werden inszeniert, über schwulenwitze wird mitgelacht, frauenfeindliche sprüche sollen die eigene "männlichkeit" dokumentieren. Tödlicher, lähmender Defaitismus! – schrieb eine freundin bei einer entsprechenden stelle in mein exemplar des buches. Die angst vor sozialer ausgrenzung hat sich oft verselbständigt und führt zu anpassung auch in belanglosigkeiten. Das alles verstärkt selbstverachtung und Falsches Selbst sowie die fixierung auf den platt-sexuellen aspekt des schwulseins. Der schritt in eine schwule (oder lesbische) subkultur – die es in den 70er jahren erst ansatzweise gab – hat aspekte von flucht, von schutz ebenso wie von befreiung.

Tarnen und Täuschen ist zu jener zeit das grundprinzip schwulen lebens in der normalität; das coming out bleibt verstrickt in rhetorische versuchsballons, taktische erwägungen und lügen. Schwule anmache ist genauso banal wie heterosexuelle anmache. Nur verzweifelter und deprimierender, – und immer verbunden mit der angst vor sozialer ablehnung (und schlimmerem), sofern das gegenüber keine szenetypischen signale gibt. Und daneben immer das gequatsche der anderen, der normalen.

Das coming out ist keine einmalige entscheidung, sondern muß für jede soziale situation, oft für jeden vertrauten menschen einzeln durchgestanden werden, - jedesmal mit unterschiedlichen argumenten, empfindungen (auf beiden seiten) und unterschiedlichen gefahren, abgelehnt zu werden. 'Kellerassel' ist neben allem anderen eine sozialpsychologische studie zur kommunikation unter schwulen jungen männern (zu jener zeit), - zugleich liest sich das buch (das aus einem hörspiel entstanden ist) wie ein film, spannungsvoll, atemlos und soghaft präsent; – wie schade, daß bislang kein regisseur es entdeckt hat!

Letztlich geht es jedoch um mehr, - um die soziale, gesellschaftliche "normalität", erfahren aus dem blickwinkel des "außenseiters".

Jürgen haugs figuren haben allesamt nahezu keine individuelle lebensperspektive, sie spüren kaum intentionen in sich außer den anforderungen vorgegebener sozialer rollen und ziele entweder zu ent- oder zu widersprechen; – das ganze leben wird ihnen zur "gewohnheitssache". Sie sind "ganz normal" – auch und gerade der schwule (unfreiwillige) "außenseiter" jörg. So ein leben hat seinen preis. Es stabilisiert sich über alltägliche trägheit des herzens, unsensible grenzüberschreitung und oberflächlichkeit im umgang der menschen miteinander, über lebenslügen, selbstbetrug, rationalisierungen. Durch "normale" suchtformen (zigaretten, kino, alkohol, sex, konsum, karriere) oder illegale drogen, durch die assoziationsreflexe des small talk nur notdürftig kaschierte innere und äußere leere und beliebigkeit des alltagslebens gehören zu diesem teufelskreis der entfremdung. Weil individuelle ressourcen für situationen ohne eindeutige konsensuelle empfindungs- und verhaltensvorgaben kaum zur verfügung stehen, wird dann in reflexhafter selbstverständlichkeit gelogen. In verhängnisvoller solidarität werden verletzende, unsoziale verhaltensweisen aneinander hingenommen, mitmenschliche ansprüche senken sich zunehmend. Noch das ehrlichste ist (manchmal) eine ahnung, daß irgendwas daran nicht stimmt.

Auf grundlage des Falschen Selbst (winnicott) können nur falsche, unechte begegnungen und beziehungen entstehen. Es sind nichtbeziehungen, leer wie in theaterstücken samuel becketts, wie bilder von edward hopper. Jürgen haug verdeutlicht gestörte, unwürdige zwischenmenschliche kontakte als normalität; – und nicht selten bricht sich die hilflose sehnsucht nach authentischen begegnungen bahn in lächerlichmachen, selbsthaß und gegenseitiger verachtung. – Auf einer anderen ebene liegt pure gewalt, der in besonderem maße menschen ausgeliefert sind, die auf solidarität und hilfe ihrer mitmenschen kaum hoffen können, weil sie "anders" zu sein scheinen. Vor allem in kindheit und jugend haben entsprechende erfahrungen mit gleichaltrigen nicht selten traumatisierendes gewicht und führen im weiteren leben zu sozialem rückzug, alpträumen und depressiver grundstimmung. Das vorliegende buch macht eine derartige kontinuität nachvollziehbar.

Jürgen lothar harald haug wurde 1940 geboren. 1962 begann er, sich in der BRD als hörspielautor zu etablieren. 1975 erschien seine dokumentation 'Aufzeichnungen aus einer Wandererherberge'. (Auch sie wurde bei AUTONOMIE UND CHAOS BERLIN wiederveröffentlicht.)Das vorliegende buch erschien 1981. Trotz einiger wohlwollender, sogar begeisterter rezensionen fanden beide werke keine nachhaltige öffentliche aufmerksamkeit. – Jürgen haug starb am 2. juli 2012.

(Aus dem nachwort von mondrian v. lüttichau)

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Jürgen Haug: AUFZEICHNUNGEN AUS EINER WANDERER-HERBERGE

Diese 1975 erschienene und hier erstmalig wiederveröffentlichte erzählende dokumentation bietet eine bis heute seltene gelegenheit, selbstempfinden und selbstdarstellung von "pennern", "berbern", "landstreichern" – wie immer wir sie, politisch korrekt oder nicht, nennen wollen, in jedemfall: dauerhaft obdachloser menschen (männer) anhand ihrer mündlichen äußerungen ahnend nachzuvollziehen, – ihre argumentationsmuster, rationalisierungen und bekenntnisse, – um menschen mit solchem schicksal auf diese weise etwas näherzukommen.

In den szenen werden regressive momente deutlich, symptome von psychotraumatisierungen (auch als NS-opfer), kognitive beeinträchtigungen, psychosen, depression, delirium tremens und das ebenfalls alkoholbedingte korsakow-syndrom; kompensation von schlimmen erfahrungen, leid, wut, verbitterung, menschenscheu; selbstunterdrückung und unterwürfigkeit, projizierte selbstverachtung und menschenverachtende, rassistisch-nazistische und sadistische impulse, schwulenhaß, abgestumpftheit, hilflose versuche, sich abzugrenzen, zu profilieren und ein mindestmaß an selbstachtung und identität zu bewahren; verfestigte soziale rollen und inszenierungen, zugehörigkeitsgefühle, feindbilder, loyalitätsreflexe; daneben aber auch selten offenbarte rudimente innerer werte, guter erinnerungen – und verschämte, vorsichtige momente mitmenschlicher solidarität. In aller kumpanei schwingt ein moment von verachtung (und selbstverachtung) mit, aber andersrum genauso.

Jürgen haug berichtet von all dem empathisch und doch nüchtern, ohne voyeuristischen oder diskriminierenden unterton.

Deutlich wird bei manchen männern eine grundlegende getriebenheit, rastlosigkeit und wurzellosigkeit, die immer wieder zum abbruch einer möglichen perspektive geführt haben dürfte. Nicht selten auch flucht und scheinbarer neuanfang als hauptsächliches problemlösungsmuster; manchmal verbunden mit der sehnsucht nach regressivem rückzug aus der welt, die durch die paternalistische versorgung in der herberge teilweise im sinne einer hospitalisierung befriedigt wird. Bei anderen jedoch ist zu ahnen, daß die nichtseßhaftigkeit, das unabhängige herumziehen genuiner ausdruck ihrer individuellen entfaltung geworden ist: selbstbestimmung, abenteuer (in der allzu stark durchreglementierten sozialen umwelt).

Jürgen haug (geboren 1940) begann 1962, sich in der BRD als hörspielautor zu etablieren. Die 'Aufzeichnungen aus einer Wandererherberge' basieren auf erfahrungen, die der autor während seines zivildienstes als wehrdienstverweigerer in einer solchen institution sammeln konnte.
Jürgen haug starb am 2. juli 2012.

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Konrad Telmann: BOHÉMIENS (Berlin 1895)

Die neunzehnjährige helene aus thüringen entdeckt das weltstädtische berlin um 1890; sie selbst wird natürlich bald von den männern entdeckt. Eine anmutige biedermeiergeschichte scheint sich zu entfalten. Bald aber stolpert der leser über dissonanzen und untiefen. Konsequent bürstet telmann die ganz normalen umgangsformen jener zeit gegen den strich, indem er sie ernst nimmt (fast wie ein ethnografischer feldforscher) und dadurch das sexistische und entfremdete in ihnen sich entfalten läßt – unaufdringlich, innerhalb der zunächst noch unterhaltsamen handlung. Situation für situation wird die altbekannte kolportagefabel demontiert (denn auch klischees tragen ja eine wahrheit in sich). So liefert der kleine roman aus dem jahr 1895 eine subtile studie zum stand von geschlechtsrollen, zur anatomie der doppelmoral in jener zeit. Der buchtitel aber ist bitterste ironie; denn die angebliche "Bohème" ist nur schimäre, – projektionsmodell für gelangweilte gute bürger, wohlfeile ausrede für unterprivilegierte spießbürger, regressive oder narzißtische inszenierung.

Egoistisch-offensive männer und hilflos-hingebende frauen werden nicht klischeehaft gegeneinandergestellt. Telmann führt uns vielmehr erlernte und zueinander kompatible rollenmuster vor. Das gespinst der sozialisationsbedingten normalität, in das seine figuren hineingewachsen sind, in dem sie weitgehend bewußtlos feststecken, wird ebenso achtsam beleuchtet wie situative möglichkeiten authentischer mitmenschlichkeit und liebe, die allzuoft aus bequemlichkeit, selbstbetrug oder trägheit des herzens nicht oder nur für momente genutzt werden.

Bei männern wie frauen zeigt sich hinter den (unterschiedlichen) mustern von selbstentfremdung, verlogener rhetorik, ersatzbefriedigung und rollenspezifischer deformation, jenseits der wie geschmiert laufenden geschlechtsrollenmechanik deutlich die mehr oder weniger resignierte, unterdrückte, korrumpierte sehnsucht nach authentischer lebendigkeit und sozialer geborgenheit. Verhaltensweisen und empfindungen kommen teilweise aus einem Falschen Selbst, andererseits aber auch aus authentischen impulsen. – Situationen, dialoge und innere monologe laufen ab in gnadenloser deutlichkeit, fast lehrbuchhaft zeigen sich sozialpsychologische bedingtheiten und tiefenschichten der "normalen" verfaulten (doppel)moral im nebel der szenischen unmittelbarkeit. Dazu gehört die traditionelle frauenfeindliche doppelmoral, die auch von frauen verinnerlicht wird.

Die männlichen hauptfiguren, erfolglose schriftsteller, wirken zeitweise geradezu molluskenhaft; seelische deformationen finden sich bei ihnen in unterschiedlichen varianten einer regressiven, narzißtischen, hypochondrischen indolenz. Beide suchen sie im grunde eine mutter, keine partnerin. Die für männer angeblich typische chauvinistische selbstherrlichkeit zeigt sich eher als hilfloses (wenn auch wenig ehrenwertes) ringen um struktur und persönlichkeit angesichts gesellschaftlich vorgegaukelter, geld- und statusorientierter entfaltungs- und rollenvorgaben, durch die individuelle bedürfnisse und empfindungen verdrängt, eingelullt und zugeschüttet werden. Unverwüstlich scheint bei ihnen nurmehr ein inzwischen geradezu reflexhafter egoismus.

Der seinerzeit sehr erfolgreiche naturalistische schriftsteller konrad telmann (1854-1897) diskutiert in seinem umfangreichen werk soziale, politische, ethische und religiöse streitfragen seiner zeit, zeigt ihre exemplarische relevanz in konkreten sozialen, mitmenschlichen konstellationen und nimmt dabei durchgängig einen fortschrittlichen, aufklärerischen standpunkt ein. Im zusammenhang mit seinem gesellschaftlichen engagement wurde er mehrfach in gesellschaftliche, kirchliche und gerichtliche konflikte gezogen. - 'Bohémiens' wird hier erstmalig wiederveröffentlicht.

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Kurt Münzer: DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN

EIN ENTWICKLUNGSROMAN

DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN ist ein Buch über die Liebe… dieses ewige Menschheitsthema. Aber was ist "Liebe"? Es gibt in diesem Entwicklungsroman die Mutterliebe (als Liebe der Mutter wie der Liebe zur Mutter), die Liebe als Suche nach Bindung, Geborgenheit, sozialer Versorgung, die Liebe als Synonym für Sexualität, es gibt homosexuelle Liebe und Liebe als Sehnsucht, Traum und Utopie, als Moment von Selbsterfahrung bis hin zu (weiblicher) Emanzipation und poetischer Tiefe, es gibt die rigide Trennung zwischen "reiner Liebe" und "Kampf der Geschlechter" oder spirituell anmutende Inszenierungen und es gibt eine (mehr oder weniger ehrliche) kameradschaftliche Liebe in Erkenntnis der eigenen begrenzte Liebes- und Beziehungsfähigkeit. Die konventionell-ideologischen Geschlechtsrollen geistern durch die Begegnungen und Beziehungen – jedoch nicht als starre Stereotype, sondern amalgamiert mit individuellen Bedürfnissen und Lebenserfahrungen. – Kolportage (was Münzers Werk oft vorgeworfen wurde) ist eher die Flut heutiger Romane und Spielfilme, bei denen in immer neuen Varianten die immergleiche dichotomische Konzeption von (romantischer) "Liebe" versus "Sex" exerziert wird.

Nicht zuletzt stellt der Autor in diesem 1914 veröffentlichten Roman für seinen männlichen Protagonisten eine Form sozialen Leids dar, das üblicherweise einseitig Frauen zugeordnet wird: "Für sie[die Frauen] war er nichts als schön: Gegenstand ihrer Sehnsucht und Befriedigung. Seine Existenz bedeutete, daß man Forderungen an ihn stellte, und verpflichtete ihn, sie zu erfüllen. All das empfand Lucian wohl und empfand es als Schimpf, allen nur als Symbol von Mannesschönheit und Mannestum zu gelten." – Daß auch Männer darunter leiden können, ist – unter richtigen Männern – bis heute Tabuthema.

Kurt Münzers Texte erzählen meist von Menschen, die durch ihre individuellen seelischen Verwundungen hindurch ein ihnen selbst einigermaßen angemessenes Leben suchen, manchmal finden. Dabei werden auch seelische Verkrüppelungen, Einseitígkeiten, neurotische Verhärtungen zum Material dieser individuellen Lebensweisen. – So ist es auch in dem Märchen, der Parabel vom Ladenprinzen. Dies gilt nicht nur für den Protagonisten Lucian Flamm, sondern auch für die meisten anderen relevanten Figuren; daß dies alles Frauen sind, ist kaum Zufall. Auch bei ihnen (deren Lebensdynamik jeweils nur angedeutet wird) geht es um problematische Konstellationen, die für sie jedoch Wahrheit sind, in der ihr subjektiver Lebenssinn sich ausspricht. Solche ganz und gar subjektiven Wahrheiten stellt Kurt Münzer uns vor; darin liegt meines Erachtens das Kostbare vieler seiner Werke.

DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN (erschienen 1914) haben vermutlich viele Menschen nicht gemocht – weil sie die Handlung nicht verstehen (oder nur mißverstehen) konnten in seiner subtilen Darstellung seelischer Haltungen und Empfindungen, für die es zu jener Zeit noch keine Alltagssprache gab. Allenfalls tiefenpsychologisch orientiertes Problembewußtsein hätte hierfür Ansätze geboten; aber selbst die damalige Psychoanalyse verstand z.B. Homosexualität als krankheitswertige Störung. – Heutzutage, im Zeichen der Genderdiskussionen und nachdem "divers" zur amtlichen Kategorie geworden ist, dürften schrittweise neue Momente beziehungsmäßiger Realität Thema von Reflexion und künstlerischer Darstellung werden; und vielleicht wird einmal auch Kurt Münzer als einer der Vorläufer dieser Regenbogen-Menschlichkeit erkannt werden!

Lucian Flamms Interesse an (hetero-)sexuellen Kontakten scheint eher Moment gesellschaftlicher Sozialisation zu sein: um "seine Schuldigkeit als Mann zu tun"; woanders: "(…) nicht aus Lust am Ende, sondern um sich und anderen sein Mannestum zu beweisen."Diese Leistung vollzieht er in zunehmend virtuoser Weise, begünstigt durch seine leibliche "Schönheit", die ihm das Begehren der Frauen einträgt. Seine anhaltende Entfremdung (?) – Empfindungslosigkeit (?) –Blockiertheit (?) im Bereich der Sexualität wird zum Spiegel etlicher Varianten des Umgangs mit "Liebe"/Sexualität bei den jeweiligen Partnerinnen. – Jedoch steht im Mittelpunkt des Romans Lucian Flamms Leid an seiner eigenen Isolation vom Leben.

Diese siebte Kurt Münzer-Wiederveröffentlichung bei A+C enthält ein ausführliches biobibliographischen Nachwort: "Mutmaßungen über Kurt Münzer und Lucian Flamm".

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Lillian Smith: Fremde Frucht

Lillian Eugenia Smith (1897–1966) wurde bekannt vor allem durch ihr lebenslanges Engagement gegen die Rassentrennung in den Südstaaten der USA. Ihr beim Erscheinen kontrovers diskutierter Roman ''Strange Fruit'' (1944) machte sie weltberühmt.

Lillian studierte als junge Erwachsene Musik, arbeitete pädagogisch und hielt sich für mehrere Jahre in China auf, wo sie Direktorin einer Mädchenschule war. Während dieser Zeit wurden ihr Ähnlichkeiten zwischen der Unterdrückung der chinesischen Kultur zugunsten der abendländischen, christlichen einerseits und derjenigen der afroamerikanischen Bevölkerung in den amerikanischen Südstaaten bewußt.

Sie nahm sie eine lebenslange Partnerschaft mit Paula Snelling auf. Die beiden Frauen gründeten 1936 eine kleine Literaturzeitschrift, die schwarze und weiße SchriftstellerInnen zu kritischen Stellugnnahmen ermutigte. Im Mittelpunkt standen dabei soziale Ungleichheit, Frauenfeindlichkeit, Rassismus, die Notwendigkeit von sozialen und wirtschaftlichen Reformen.
1944 erschien ihr Roman ''Strange Fruit'', in dem es um eine Liebesbeziehung zwischen einer Farbigen und einem Weißen ging. Der Titel wurde vom Verleger gewählt, nach einem gleichnamigen Lied in der Interpretation von Billie Holiday. Die Autorin betonte jedoch, daß ihr Anliegen nicht, wie in dem Lied, allein der Rassismus gegen Afromamerikaner sei, sondern vielmer die seelische Beschädigung von Farbigen wie Weißen in der "rassisistischen Kultur" der Südstaaten. Nach dem Erscheinen wurde der Roman in mehreren Regionen der Vereinigten Staaten verboten. Dieses Verbot wurde von Präsident Franklin D. Roosevelt aufgehoben. Der Roman wurde zum Bestseller und in 15 Sprachen übersetzt.

Lillian Smith tauschte sich häufig aus mit Eleanor Roosevelt, sie war befreundet mit Martin Luther King und anderen farbigen wie weißen ProtagonistInnen der Bürgerrechtsbewegung, in der sie sich selbst kontinulierlich bis zum Ende ihres Lebens engagierte. Ihr persönlicher Schwerpunkt dabei war die Situation von Frauen und Kindern. – Daneben schrieb sie Bücher (Sachbücher, Dokumentationen, einen weiteren Roman) und arbeitete journalistisch.
In den Vereinigten Staaten wurde Lillian Smith in den letzten Jahrzehnten neu entdeckt als Kämpferin für soziale Ungerechtigkeit, aber auch im Zusammenhang mit der Emanzipation lesbischer Lebenshaltung. Theaterstücke, Lesungen und Buchveröffentlichungen zeugen davon.

"Strange Fruit" (Fremde Frucht) erschien auf deutsch 1947 (in der Schweiz). Für seine Themen – Rassismus, die Situation schwarzer Amerikaner, lesbische Liebe – interessierte sich zu dieser Zeit kaum jemand in Deutschland. Für diese erste deutsche Neuveröffentlichung wurde die Übersetzung gründlich durchgesehen. Ein umfangreiches biobibliographisches Nachwort des Herausgebers kam dazu. Auch einige Fotos der Autorin.

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Norbert Frýd: KARTEI DER LEBENDEN

Der autor berichtet in unaufgeregter ausführlichkeit von unzähligen organisatorischen einzelheiten eines zum KZ Dachau gehörenden arbeitslagers, dessen gefangener er war. Jeder mensch funktionierte dort wie das zahnrad eines uhrwerks, um größtmögliche vorteile und sicherheit für sich und/oder die soziale gruppe, der er angehört, zu erzielen. In frýds romanhaftem bericht scheint oft nur eine graduelle abgrenzung zwischen tätern, mitläufern und opfern möglich.

Herrschaft argumentiert in der entwickelten zvilisation mehr und mehr mit sachzwängen und verzichtet auf ethisch-moralische legitimationen. Gerade im NS-regime gingen bürokratie und verbrechen besonders nahtlos ineinander über. Auch im vorliegenden buch wird das übergroße gewicht instrumenteller vernunft (in form von logistischer und bürokratischer logik) nachvollziehbar – und wie sie zum instrument höchst individueller interessen wird; grundsätzlich nicht anders als bei uns heute.

Norbert fried wurde 1913 in einer familie tschechischer juden in budweis geboren; er starb 1976. Seit den 30er jahren war er mitglied einer fortschrittlichen politisch-kulturellen bewegung um emil františek burian, verkehrte vorrangig in jüdischen künstlerkreisen und kooperierte mit dem komponisten karel reiner. Er gehörte zum kreis um die im prager exil von franz carl (f.c.) weiskopf geleitete antifaschistische Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), später unter dem namen Volks-Illustrierte. Ab 1936 arbeitete fried als redakteur und drehbuchschreiber für den filmkonzern Metro Goldwyn Mayer. 1942 kam er ins Ghetto Theresienstadt, wo er am geheimen kulturellen leben beteiligt war. 1944 wurde norbert fried zusammen mit allen anderen künstlern aus Theresienstadt ins KZ Auschwitz deportiert . – Am 10. oktober 1944 kam er ins arbeitslager Dachau-Kaufering (kategorie "Jude, Schutzhäftling"); von dieser zeit handelt das vorliegende buch. Im april 1945, als die SS begann, das lager zu räumen, gelang es fried zu flüchten.

Norbert frieds vater, sein bruder, seine frau und seine tochter wurden in den KZ ermordet; er überlebte die Shoah als einziger seiner familie.

1945 unterstützte er die amerikaner als dolmetscher bei den verhören der SS-wächter von Dachau, später war er einer der zeugen beim ersten dachauer kriegsverbrecherprozeß. Norbert fried arbeitete als journalist und beamter, war mitglied der tschechoslowakischen kommunistischen partei. 1946 änderte er seinen namen zu "frýd". 1947 wurde er kulturattaché in mexiko. Während dieser zeit nahm er teil an einer expedition in den tropischen regenwald. Später war frýd in verschiedenen diplomatischen stellungen in anderen ländern lateinamerikas und in den USA. Zeitweise reiste er mit einem puppentheater nach asien und amerika. Nach kurzer beschäftigung beim tschechoslowakischen radio wurde frýd freier schriftsteller. Zugleich war er 1951 bis anfang der 70er jahre delegierter bei der UNESCO.

Eine grundfrage des buches ist: Welche haltungen sind angemessen im KZ oder allgemein: während der NS-zeit? Neben mörderischen NS-tätern und gläubigen nazis gab es eine vielzahl moralischer, ideologischer und emotionaler beurteilungen einzelner situationen, von gefährdungen, interessen und eigenem handlungspielraum, – bei den gefangenen wie bei den NS-funktionären. Aus der zugehörigkeit zu einer sozialen gruppe ließ sich offenbar selbst im KZ nicht direkt auf die mentalität und das verhalten konkreter menschen schließen. Innerhalb des kleinen außenlagers waren vielschichtigere interaktionen überschaubarer, deutlicher darstellbar und nachvollziehbarer als durch berichte aus den weitaus anonymeren größeren KZ.

Das rührt an eine bis heute tabuisierte frage: In welchem maße sind KZ-gefangene als funktionshäftlinge direkt oder indirekt zu handlangern der NS-interessen geworden? Dabei geht es nicht nur um gefangene mit bereits zuvor ausgelebten kriminellen intentionen. Es geht um interessengeleitetes (auch politisch motiviertes) taktieren, um das prinzip des eine hand wäscht die andere, um balance of power: es mit niemandem ganz zu verderben, den man noch einmal brauchen könnte. Es geht – dies wird bei frýd deutlich – gegebenenfalls auch darum, daß NS-opfer in eigenem interesse zu tätern an anderen NS opfern werden.

KRABICE ŽIVÝCH erschien in prag 1956, wurde dort viel gelesen und in mehrere sprachen übersetzt. Eine DDR-ausgabe erschien 1959. Allerdings dürfte frýds buch in deutschland kaum größeres interesse erregt haben. So genau wollte man es damals bekanntlich nicht wissen, in der DDR so wenig wie in der BRD. Aber auch später wäre diese darstellung, bei der die beruhigenden eindeutigkeiten von genuin guten und bösen menschen, von opfern und tätern in so irritierender weise aufgelöst werden, vom medialen mainstream kaum akzeptiert worden..

(Aus dem nachwort des herausgebers mondrian v. lüttichau)

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Paul Verlaine: BRIEFE GEDICHTE TEXTE

Arthur Rimbaud bei Autonomie und Chaos, Teil V

Während der Arbeit an den Veröffentlichungen von und zu Arthur Rimbaud bedrängte mich immer wieder die Frage nach dem Dichter Paul Verlaine, mit dem Rimbaud in einem so verwirrenden Verhältnis gestanden hatte. – Schon 1870, noch in Charleville, hatte er Verlaines Gedichte für sich entdeckt, im September 1871 nahm er brieflich Kontakt zu ihm auf, schickte eigene Texte. Verlaine reagierte enthusiastisch, lud den zehn Jahre Jüngeren zu sich nach Paris ein. Offensichtlich fühlten sich beide voneinander im Innersten berührt und angesprochen. Eine leidenschaftliche Beziehung entstand. Aber grade in solcher Nähe und Unbedingtheit werden wir verwundbar, zeigen sich früher oder später Fremdheiten, die manchmal unüberwindbar sind. So war es auch hier. Während Rimbaud 1876 Europa floh, wurde Verlaine auf einem von Leid, Einsamkeit, Selbstzerstörung und später Religiosität bestimmten Weg zu einem anerkannten, ja berühmten Dichter eines Werkes, das weitab lag von der früheren literarischen Verbundenheit zwischen ihm und Rimbaud. Und obwohl Rimbaud nicht nur von seinem eigenen Werk, sondern auch von dem Freund nichts mehr wissen wollte, setzte sich Verlaine bis zum Lebensende publizistisch und persönlich ein für Rimbauds Werk. Ohne Verlaines spätere Popularität wäre es ihm kaum möglich gewesen, erfolgreich für Rimbauds Werk einzutreten. Und ohne Paul Verlaine wären Rimbauds Gedichte zweifellos zerstoben und für die Menschheit verloren. – Alles in allem eine seltsame lebenslange schicksalhafte Verbindung zwischen den beiden, über die wir nur staunen können!

Gerhart Haugs Buch Paul Verlaine. Die Geschichte des armen Lelian erschien 1944 in einem Schweizer Verlag. Es wird hier erstmalig wiederveröffentlicht – wesentlich erweitert um Gedichte, Texte, Abbildungen und Faksimiles und unter einem neuen Titel.

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Victor Kravchenko: ALS FUNKTIONÄR IM SOWJETISCHEN STALINISMUS

("I Chose Freedom", 1946)

Victor A. Kravchenko wurde geboren am 11. Oktober 1905 in Jekaterinoslaw (heute Dnipro/Ukraine); er starb am 25. Februar 1966 in Manhattan. Er war ein sowjetischer Ingenieur und späterer Handelsdiplomat in Washington, D.C., der dort 1944 um politisches Asyl gebeten hatte. Sein 1946 veröffentlichtes Buch I CHOSE FREEDOM war das erste umfassende Zeugnis zur terroristischen Bürokratie des sowjetischen Stalinismus jener Zeit. Es erregte weltweites Aufsehen und wurde in viele Sprachen übersetzt.

Für Menschen in westlichen Ländern, die damals oft in gläubiger Unbedingtheit an ihrem Ideal einer fortschrittlich menschenwürdigen Sowjetgesellschaft hingen, bedeutete Kravchenkos Zeugnis Skandal und Tabubruch – wogegen eine Vielzahl auch prominenter Intellektueller und Künstler mit allen Mitteln der medialen Öffentlichkeit Einspruch erhob. In einer kommunistisch orientierten französischen Zeitung erschien ein diffamierender Artikel, in dem nicht nur die Aussagen des Kravchenkobuches insgesamt bestritten, sondern auch der Autor in jeder nur möglichen Weise persönlich diffamiert wurde. Deshalb verklagte Kravchenko die Zeitung wegen Verleumdung. In einem ebenfalls aufsehenerregenden Prozeß (1949) wurde monatelang gestritten – nicht eigentlich um ein Buch oder Kravchenkos Persönlichkeit, sondern um die Situation im sowjetischen Staat!
Victor Kavchenkos Zeugnis in Verbindung mit dem von ihm angestrengten Prozeß (den er gewann) lenkte erstmals die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die menschenverachtenden, die mörderischen Zustände in der stalinistischen Sowjetunion.

Auf Grundlage des Prozesses konzipierte Kravchenko sein zweites buch: I CHOSE JUSTICE (New York 1950). Es bleibt wohl die gewichtigste Veröffentlichung zum Prozeß und ist zugleich eine bedeutende Ergänzung zum ersten Buch.
I CHOSE JUSTICE stellt den Pariser Prozeß, Kravchenkos Recherchearbeiten im Vorfeld und den grundsätzlichen Ablauf übersichtlich dar. Jedoch liegt der Schwerpunkt in Kravchenkos zweitem Buch deutlich auf den Zeugnissen der überlebenden Stalinismus-Opfer (sei es im Zusammenhang mit der Zwangskollektivierung oder der Verschleppung in Zwangsarbeitslager). Hier stand Gerechtigkeit für die schuldlosen Opfer dieses Regimes im Mittelpunkt – die vielleicht allenfalls durch das öffentliche Zeugnis, das Urteil der Geschichte möglich ist! Hier konnten Menschen einfach von dem Leid berichten, dem sie ausgesetzt waren und das sie vielleicht für den Rest des Lebens begleiten sollte – ohne kritische Befragungen und diskriminierende Zweifel. (Der Anhang der vorliegenden Veröffentlichung enthält eine kurzgefaßte Übersicht der ausführlicheren Zeugenaussagen sowie Namen vieler Opfer, die in jenem Buch genannt wurden.)

Spätestens nach dem russischen Überfall auf die Ukraine läßt sich die Frage nicht verdrängen, inwieweit es innere Verwandtschaften geben könnte zwischen dem sowjetischen Stalinismus (auch der Zeit nach Stalin) und dem von Wladimir Putin bestimmten aktuellen politischen System in Rußland. Ich meine, wir (im Westen) sollten uns bemühen, mehr zu verstehen von unserem Nachbarn Rußland, von der Entwicklung der russischen Gesellschaft, vom Lebensgefühl und Lebenssituation auch der dörflichen und kleinstädtischen Bevölkerung dieses größten Flächenstaates der Welt, um von daher den an der Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft in Rußland Interessierten solidarisch die Hand reichen zu können.

Victor Kravchenko lebte in den 50er Jahren meistens in Südamerika, wo er einen Großteil seines (durch die unzähligen Auflagen seines ersten Buches verdienten) Vermögens nutzte, um Silber- und Kupferminen zu finanzieren. Auch Projekte zur Organisation der armen Bauern in Genossenschaften scheint er dort unterstützt zu haben. Angeblich hatte er zunächst beträchtlichen Erfolg als Prospektor und Bergwerksunternehmer. Zeitweise hielt er sich in New York und auf der Ranch seiner Gefährtin Cynthia Earle in Arizona auf, bei seinen Söhnen Anthony und Andrew. Die Unternehmungen in Südamerika waren auf lange Sicht erfolglos, Kravchenko scheint deshalb viel Geld verloren zu haben.
In dieser Zeit erreichten ihn Gerüchte, daß seine Verwandten in den Lagern umgekommen seien.
Kravchenko hatte offenbar auf das mit Chruschtschow verbundene "Tauwetter" in der Sowjetunion gehofft. Dessen Sturz (1964) deprimierte ihn tief.
Am 25. Februar 1966 wurde Kravchenko mit einer Schußwunde in seiner Wohnung in Manhattan gefunden.

Kravchenkos Buch I CHOSE FREEDOM erschien auf Deutsch 1947 in Zürich, zwei Jahre später kam eine Ausgabe in Hamburg heraus, dann war Schweigen in der ja keineswegs kommunistenfreundlichen jungen BRD. Auf dem Hintergrund der kollektiv verdrängten NS-Vergangenheit tat sich die westdeutsche Öffentlichkeit möglicherweise besonders schwer damit, über eine menschenverachtende, terroristische Diktatur nuancierter nachzudenken.
Die hier vorliegende Ausgabe beim Verlag Autonomie und Chaos (2023) ist die einzige deutschsprachige Wiederveröffentlichung des Buches. (Demgegenüber gibt es zwei englische und eine französische Wiederveröffentlichungen.)

Der Anhang der vorliegenden Veröffentlichung enthält neben einer ausführlichen inhaltlichen Übersicht zu Kravchenkos zweitem Buch  einen Aufsatz des Historikers Sebastian Voigt (zur Bedeutung des Kravchenkoprozesses für die Dissidentin und GULAG- wie KZ-Überlebende Margarete Buber-Neumann), Exzerpte aus Veröffentlichungen von Swetlana Alexijewitsch (zur Situation im nach-sowjetischen Rußland) sowie von Arthur Koestler (einem seinerzeit prominenten Dissidenten). Von einer russischen Website stammt Alex Klevitskys Bericht zu Victor Kravchenkos nachgelassenem Archiv. Die Literaturliste enthält vor allem Hinweise zu autobiographischen und belletristischen Werken russischer und sowjetischer Autor*innen; auch auf Dokumentationen zu Kravchenkos Prozeß sowie andere Arbeiten zum Thema Stalinismus wird im Anhang hingewiesen. Die Neuveröffentlichung enthält außerdem Fotos aus dem Prozeß sowie ein Nachwort des Herausgebers (MvL), in dem mögliche Kontinuitäten der russischen Gesellschaft (von der Zarenzeit bis zum Putin-Regime) zur Diskussion gestellt werden.

Zum Thema "Stalinismus" siehe auch das bei A+C wiederveröffentlichte Buch von Moshe Zalcman: Als jüdischer Arbeiter in Polen und im stalinistischen GULAG.

!- Grundlegender Widerspruch der "Söldnergruppe Wagner" zu den taktischen Begründungen des Putin-Regimes für den Krieg gegen die Ukraine! (23./24.6.23) ! - Der Anführer der Gruppe (Jewgeni Prigoschin) kam bei einem ungeklärten Frlugzeugabsturz ums Leben (August 2023).

! - Der oppositionelle Politiker Alexei Anatoljewitsch Nawalny ist seit 2021 inhaftiert und muß eine mehrjährige Gefängnisstrafe absitzen. Im August 2023 wurde ein weiteres Urteil gegen Nawalny bekannt gegeben und die Zeit im Straflager auf 19 Jahre Haft erhöht.- !  Kam im Februar 2024 im Gefängnis ums Leben.

 

 

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William Quindt: GERECHTIGKEIT oder APOKALYPSE DER TIERE

Neu im Januar 2024

William Quindt (1898 – 1969) kommt aus einer bäuerlichen Familie; er verlor früh seine Eltern und schlug sich ab dem 15. Lebensjahr in verschiedenen Berufen durchs Leben. Schließlich wurde er Journalist, später Pressechef bei großen Zirkusunternehmen wie Sarrasani und Busch, mit denen er Europa bereiste. Weitere Reisen brachten ihn nach Afrika und Indien.
Ab 1932 veröffentlichte er eine Vielzahl von Romanen, die (unter der Kategorie Tiergeschichten und Abenteuerromane) fast ausnahmslos zu Bestsellern wurden . Einige Bücher blieben bis heute dauerhaft lieferbar, vor allem STRASSE DER ELEFANTEN (1939), in dem sich Quindt kritisch mit der Elfenbein-Wilderei auseinandersetzte und eindringlich für den Schutz der Elefanten eintrat.
Die meisten seiner Romane sind nicht zuletzt Allegorien – begründet in verbitterter, resignierter Sehnsucht nach der Möglichkeit authentischen, menschenwürdigen Lebens, wobei im Mittelpunkt fast immer Tiere stehen. Das hier wiederveröffentlichte späte Hauptwerk GERECHTIGKEIT legt den Schwerpunkt ganz und gar auf das Leid der Tiere in einer Welt der Menschen und die Notwendigkeit, sich dieser Zerstörungsnormalität zu widersetzen.
Quindts lebenslange Annäherung an die Welt der Tiere, seine lebenslange Auseinandersetzung mit der Realität der Menschen auf diesem blauen Planeten wird in GERECHTIGKEIT nicht zusammengefaßt (sprich: verallgemeinert), vielmehr entfaltet in all seinen Nuancen.

Der Tiermaler Hans Froment lebt für seine Kunst, Tiere in der Schönheit ihrer Lebenswirklichkeit zu porträtieren. Er erhält den Auftrag, für einen großen Verlag über sechs Jahre in Afrika, Asien und Nordamerika zu reisen, um die dortige Tierwelt für großangelegte Buchveröffentlichungen zu zeichnen und zu malen. Während dieser Reise nähert er sich dem Leben wilder Tiere auf ihrem heimatlichen Kontinent in einer für ihn umwälzenden und irritierenden Weise. Nach der Rückkehr nach Europa wird ihm schrittweise, in unzähligen Situationen, Begegnungen, Konfrontationen (mit Tieren und Menschen) erschreckend deutlich, in welchem Maße Tiere in der Menschenwelt (zumal in der zivilisierten Gesellschaft) mißachtet, versklavt, gefoltert, entwürdigt und zerstört werden. Sacht erkennt er, daß auch in der von einer (scheinbaren) Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier bestimmten Welt des Zirkus, auch in der Realität von Zoos, selbst im Umkreis des organisierten "Tierschutzes" die Tiere zumeist als Objekte der Menschen benutzt werden. – Diese Zusammenhänge werden von Quindt nicht als Streitschrift publiziert, sondern verwoben in eine romanhafte und zugleich essayistische Erzählung von im Original 732 enggedruckten Seiten.

Verwoben wie in einem rhizomatischen Wurzelwerk sind in diesem wortgewaltigen Buch alle Themen, Assoziationen, Erinnerungen, Reflexionen, und durch alles flutet der Blick auf die legitime Wahrheit der Tiere: nicht abgeleitet von der Wirklichkeit der Menschen. Im Lesen – Satz für Satz, Passage für Passage – entfaltet sich uns ein eigener Blick auf diesen blauen Planeten. Wir erkennen, daß das biblische "Paradies" ja diese Erde gewesen ist! – Die Welt der Tiere ist uns offensichtlich fremder als alle außerirdischen Lebenswelten, die SF-Autoren erfinden: das wird deutlich an Quindts Roman GERECHTIGKEIT, einem Buch, das sich selbst naturwüchsig zu entfalten scheint; dabei ist es Szene für Szene, Gedankengang für Gedankengang folgerichtig aufgebaut bis zur letzten Seite.

Das Buch erschien 1958 , im Jahr 1982 wurde eine stark gekürzte Taschenbuchausausgabe veröffentlicht. Der vorliegenden einzigen Wiederveröffentlichung (2024) unter dem neuen Titel GERECHTIGKEIT oder APOKALYPSE DER TIERE liegt die Originalausgabe zugrunde. Hinzugefügt wurde ein Nachwort , Hinweise auf andere Arbeit Quindts, ein Werkverzeichnis sowie Literaturempfehlungen, außerdem einige Abbildungen.

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William Quindt: Kater Hinz und ich

Neu im April 2024

William Quindt (1898 – 1969) kommt aus einer bäuerlichen Familie; er verlor früh seine Eltern und schlug sich ab dem 15. Lebensjahr in verschiedenen Berufen durchs Leben. Schließlich wurde er Journalist, später Pressechef bei großen Zirkusunternehmen wie Sarrasani und Busch, mit denen er Europa bereiste. Weitere Reisen brachten ihn nach Afrika und Indien.
Ab 1932 veröffentlichte er eine Vielzahl von Romanen, die (unter der Kategorie Tiergeschichten und Abenteuerromane) fast ausnahmslos zu Bestsellern wurden. Einige seiner Bücher blieben bis heute dauerhaft lieferbar, darunter vor allem DIE STRASSE DER ELEFANTEN (1939), in dem sich Quindt kritisch mit der Elfenbein-Wilderei auseinandersetzte und eindringlich für den Schutz der Elefanten eintrat.
Die meisten seiner Romane sind nicht zuletzt Allegorien – begründet in verbitterter, resignierter Sehnsucht nach der Möglichkeit authentischen, menschenwürdigen Lebens, wobei im Mittelpunkt fast immer Tiere stehen. Sein spätes Hauptwerk mit dem Titel GERECHTIGKEIT ODER APOKALYPE DER TIERE (bereits wiederveröffentlicht bei A+C) legt den Schwerpunkt ganz und gar auf das Leid der Tiere in einer Welt der Menschen und die Notwendigkeit, sich dieser Zerstörungsnormalität zu widersetzen.

Das hier wieerveröffentlichte Buch vom "Kater Hinz" erschien 1946. Diese damals einzige Ausgabe ist auf billiges Papier gedruckt, das mittlerweile zerfällt. Der Ich-Erzähler berichtet (wohl im wesentlichen autobiografisch) von seiner Nähe zu Tieren in der Kindheit. Dieser Kern seiner Identität wird wieder geweckt durch die Begegnung mit dem Kater Hinz. Schritt für Schritt entfaltet sich jetzt die Entscheidung, die Welt der Tiere zum Mittelpunkt des eigenen Lebens und Wirkens zu machen.

Quindts humanistisches Engagement wurzelt in einem paradoxalen, extrem außenseiterischen Blick auf die Menschenwelt. Im KATER HINZ ringt der Autor um seelische Momente seiner Erkenntnis der Welt und der eigenen Existenz, die sich in Alltagssprache kaum angemessen formulieren lassen – die jedoch für Quindts Leben und Werk von grundlegender Bedeutung waren. Dazu gehört implizit eine bedenkenswerte ästhetische Auffassung.

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