Albert Lamm: BETROGENE JUGEND

Ab 1926 arbeitet der maler albert lamm (1873-1939) als zeichenlehrer in einem tagesheim für (männliche) jugendliche erwerbslose in berlin-treptow. Der kritische außenseiter, lebenslang auf der suche nach sozialer wie künstlerischer wahrhaftigkeit, entwickelt geduldiges jugendfürsorgerisches/sozialpädagogisches engagement. Gerade in ihrer früh vom leben enttäuschten und verwundeten widerborstigkeit waren diese jungs ihm vermutlich näher, als er selbst wußte. Zu beginn versucht er noch in treuherziger spießbürgerlichkeit, den jungs die werte der gutbürgerlichen gesellschaft einfach überzustülpen. Aber lamm lernt in beeindruckender stringenz, sich in die situation der desillusionierten, von entsprechenden lebenserfahrungen abgestumpften jugendlichen einzufühlen.

Die gerade in den 20er jahren verbreitete hoffnung auf neue lebens- und gemeinschaftsformen kommt selbst bei dem in anderen aspekten konservativ wirkenden albert lamm an, der über seine jungs schreibt: "Sie sind mit nichts mehr verwachsen und werden mit dem alten Leben nirgends mehr verwachsen, mit dem sie nur noch die Lohndüte, die Stempelkarte und der Unterstützungsbetrag verbindet; aber in ihrer Gemeinschaft wächst eine neue Verbundenheit, die ausreicht, sie sich selber als eine neue und ganze Welt fühlen zu lassen, in der man nach neuen Formen eines den Menschen ausfüllenden Lebens sucht." - Aber er spürt durchaus auch die kehrseite solcher sehnsucht: "Es ist ein ungeheures gährendes Wünschen, was in dieser Jugend arbeitet - umschlossen von dem Zwange der großen Not der Zeit. Wer sich nicht dazu aufzuraffen vermag, zu fühlen, daß Gerechtigkeit und Menschlichkeit hier ein Helfen fordern, der sieht vielleicht wenigstens ein, daß Sicherheitsventile notwendig sind, um nicht einmal unsinnige Entladungen hochgespannter Kräfte heranwachsen zu lassen, um das Anwachsen des Chaos hintanzuhalten, von dessen unterirdischer Ausdehnung und vulkanischer Gewalt unter unserer alt gewordenen Welt leider die wenigsten eine rechte Vorstellung zu gewinnen sich bemühen mögen." 

Albert lamms bericht wurde 1932 im Bruno Cassirer Verlag Berlin veröffentlicht, - - als "adolf hitler"  im berliner volksmund erst eine sprichwörtliche bezeichnung war für ungebärdig herumbrüllende männer!

Das projekt selbst war zu diesem zeitpunkt schon kaputt, - stanguliert von sozialadminstativen vorgaben, mittelkürzungen und gleichgültigkeit der höheren bürokratie; auch hiervon berichtet lamm. Das buch durfte nach dem machtantritt der nazis nicht mehr vertrieben werden. - Aber was ist wohl aus diesen, aus solchen jungs geworden?

"Lamms Schrift gestattet teilweise soziologische Erfassung und Auswertung der Gestalt des aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß herausgeschleuderten jugendlichen Erwerbslosen", wurde 1933 in max horkheimers 'Zeitschrift für Sozialforschung'  betont. - Heute ist das büchlein vor allem in den östlichen bundesländern in mancher hinsicht wieder aktuell; welche gesamtgesellschaftlichen folgen werden diesmal aus den entsprechenden sozialen zerstörungen erwachsen?

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Anna Langfus: SALZ UND SCHWEFEL

Neu im November 2023

Anna Langfus (gestorben am 12. Mai 1966 in Paris) wurde als Hanka Regina Szternfinkiel am 2. Januar 1920 als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie in Lublin (Polen) geboren. Zusammen mit ihrem Ehemann Jakub Rais und ihren Eltern wurde sie im Frühjahr 1941 in das neu errichtete Ghetto von Lublin deportiert. Von dort flohen sie und lebten illegal in der Stadt. Der Vater kam in Lublin ums Leben, die Mutter im Warschauer Ghetto, wo sie sich mehr Sicherheit versprochen hatte. Auch das Ehepaar Rajs war 1942 nach Warschau geflohen. Sie blieben zunächst im Ghetto, versteckten sich dann auf der "arischen" Seite. Anna engagierte sich im polnischen Untergrund. Im November 1944 wird sie von der Gestapo verhaftet. Anna Rajs und ihr Mann werden als russische Spione verdächtigt und im Gefängnis von Nowy Dwór gefoltert. Jakub Rajs wird erschossen. Anna wird ins Gefängnis Płońsk überstellt, sie entgeht nur knapp einer Massenexekution und wird von der sowjetischen Besatzung freigelassen.

Anna Rajs-Szternfinkiel kehrt zunächst nach Lublin zurück, wo keine Verwandten mehr lebten. Sie beginnt dort ein Schauspielstudium. Etwa Mitte 1946 verläßt sie Polen und läßt sich in Frankreich nieder.
Als eine der ersten jüdischen Überlebenden der Shoah begann sie, literarisch ihre ihre Erfahrungen von Verfolgung, Verrat, Folter, Mord und Überleben zu veröffentlichen.In Frankreich entstanden bis zu ihrem Tod drei Romane sowie mehrere Theaterstücke, Erzählungen und Hörspiele.

Anna Langfus starb an einem Herzinfarkt im Alter von 46 Jahren. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Bagneux begraben.
Trotz Literaturpreisen und der Übersetzung ihrer Werke in fünfzehn Sprachen geriet sie ab den 1970er Jahren allmählich in Vergessenheit (heißt es in der französischen Wikipedia). In Deutschland wurde ihr Werk kaum zur Kenntnis genommen.

Die Autorin hat mehrfach betont, daß es sich bei SALZ UND SCHWEFEL nicht um eine Autobiografie handelt, sondern um einen "autobiografischen Roman". Der Roman zeigt unzählige Situationen, die nicht verarbeitet werden können mithilfe der Erfahrungen, der Empfindungen und Kriterien, der Moral, die wir für das mitmenschliche Leben gelernt und verinnerlicht haben: eine alltägliche Kette von Schmerzen und Demütigungen, die es jeweils zu überleben galt – irgendwie. Manchmal zeigt sich der innere Widerstreit zwischen Lebenswille und dem tiefen Wunsch, daß dieses schreckliche Leben endlich vorbei sein solle, egal auf welche Weise.
Literarische Gestaltung ist eine wichtige Verarbeitungsmöglichkeit traumatischer Erfahrungen. Empfindungen und Reflexionen können poetisch und in fiktiven Situationen distanzierter und dadurch oft nuancierter dargestellt und entfaltet werden als in einem in allen Einzelheiten an den tatsächlichen Abläufen orientierten Bericht.
Ein Wunder bleibt das sprachliche, literarische Niveau der Autorin, das tiefe Einblicke in menschliches Seelenleben ermöglicht: subtilste Beobachtung menschlicher Körpersprache, tiefe Einfühlung in zwischenmenschliche Situationen, die sie umsetzen kann in stimmige (theatermäßige bzw. filmische) Dramaturgie. Für existentielle Momente findet sie oft poetische Bilder.

Über die Realität der völkermörderischen Deutschen während der NS-Zeit enthält dieses Buch nichts, das nicht auch durch viele andere Zeugnisse bekannt wäre. Sein Wert liegt – wie jeder Bericht einer oder eines Überlebenden dieser Schrecklichkeiten – in dem Zeugnis eines Menschen, dieser jungen Frau, die – wie jeder Mensch, jedes Opfer – eine Welt für sich ist und als solche wert, bewahrt zu werden in ihrem Schicksal, ihren Empfindungen. Bewahrt zu werden auch im mitmenschlichen Protest gegen solche Taten. Deshalb müssen solche Zeugnisse weiterhin immer wieder neu veröffentlicht werden!

SALZ UND SCHWEFEL erscheint hier auf Grundlage der deutschen Erstausgabe (1964) als einzige deutsche Neuausgabe.
 Die Veröffentlichung enthält im Anhang einen zusätzlichen Text der Autorin, Literaturhinweise zum Thema "Juden und Polen" sowie ein Nachwort des Herausgebers (MvL).

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Anne Moody: ERWACHEN IN MISSISSIPPI

Anne Moody (1940 – 2015)war das älteste von acht Kindern einer afro-amerikanischen Familie in Mississippi. Das Leben war bestimmt von materieller Not. Bereits als Kind begann sie, für weiße Familien in der Gegend zu arbeiten, ihre Häuser zu putzen und deren Kindern für wenig Geld bei den Hausaufgaben zu helfen. Später absolvierte sie ein akademisches Studium am Tougaloo College. Seit dieser Zeit engagierte Anne sich beim Congress of Racial Equality (CORE), der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und dem Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC). Sie nahm an einer Vielzahl von gewaltfreien Protestformen wie Märschen und Sitzstreiks teil. Als zentrale Aufgabe wurde darin gesehen, die Schwarze Bevölkerung zu motivieren, sich als Wähler*innen zur Wahl des Gouverneurs von Mississippi einschreiben zu lassen. (Freedom Summer, 1964) Dieses grundlegende demokratische Wahlrecht wurde kontinuierlich von Störmanövern, massiven Bedrohunen und bürokratischen Finessen hintertrieben. Es war den meisten Afro-Amerikaner*innen in den Südstaaten zu dieser Zeit kaum möglich, ihre begründete Angst vor der (gelegentlich auch tödlichen) Bedrohung durch die Weißen zu überwinden, um den Weg zur Wählerregistrierung zu wagen.

Anne Moody berichtet in ihrer hier erstmalig seit 50 Jahren auf Deutsch wiederveröffentlichten Autobiografie umfassend vom Kampf der Bürgerrechtsbewegungen, soweit sie daran beteiligt war.
Nach 1964 mußte sie sich wegen chronischer Erschöpfung (und auch Resignation) von der aktiven Arbeit in den Bewegungen zurückziehen. Sie zog nach New York. 1965-67 schrieb sie ihr hier vorliegendes Buch COMING OF AGE IN MISSISSIPPI.

Anne Moody steht für den Übergang zwischen dem gewaltlosen Engagement Martin Luther Kings und vieler anderer einerseits und dem in Erbitterung und Haß auch zu Gegengewalt übergehenden Kampf von Menschen wie Angela Davis, Assata Shakur (und anderen) bzw. den Black Panthers. Dennoch hatte Moody zunehmend Zweifel an einer einseitig an der Situation der Afro-Amerikaner* innen orientierten Bürgerrechtsbewegung. Sie sagte: "I realized that the universal fight for human rights, dignity, justice, equality and freedom is not and should not be just the fight of the American Negro or the Indians or the Chicanos. It’s the fight of every ethnic and racial minority, every suppressed and exploited person, everyone of the millions who daily suffer one or another of the indignities of the powerless and voiceless masses."
In den folgenden Jahren arbeitete Anne Moody an der privaten Cornell University Ithaka, NY., engagierte sich später auch in der Anti-Atomkraft-Bewegung und als Beraterin für das New York City Poverty Program.

Anne Moodys nuancierte und unmittelbar nachfühlbare Darstellung der vielfältigen Formen sozialer Kontrolle, Diskriminierung und Unterdrückung geht weit über das Thema Segregation und Rassismus gegen die Farbigen in den USA hinaus. Diese und ähnliche Mechanismen wurden und werden zu allen Zeiten und in jeder Gesellschaft, jedem sozialen Verbund angewandt, um Menschen dem Diktat der jeweils Stärkeren zu unterwerfen, sei es auch nur zu deren situativer Bequemlichkeit: in Schulen und Kindergärten, in Arbeitsstellen, Vereinen und politischen Parteien, in Wohnheimen, Krankenhäusern, in Familien und in der Nachbarschaft. Zeugnisse wie das hier vorliegende können dazu sensibilisieren, solche Mechanismen zu erkennen, sie nicht mitzutragen, können Mut machen, Widerstand gegen sie zu leisten.

Bei all den widerwärtigen Erfahrungen, die sie mit Weißen, gelegentlich aber auch mit Farbigen in Kindheit und Jugend machen mußte, blieb Anne Moodys Selbstbild das eines Menschen von eigenem Recht. Sie identifizierte sich weder mit dem Leid, das ihr angetan wurde, noch mit einer schematischen Frontstellung gegen die Weißen. Sie zeigt Menschen in ihren unvereinbar scheinenden Aspekten, legt sie nicht fest auf (moralisch bestimmte) Rollen, wie es oft geschieht in derlei Erinnerungen. Haß und Selbsthaß, Verletztsein und verletzen wird in ihrem Bericht deutlich in seinem unauflösbaren Zusammenhang. Ihre politische Autobiographie enthält eine Fülle von Einzelheiten zum Leben der Farbigen in den Südstaaten der USA in den 50er und 60er Jahren; wir lesen von Menschen, die zerrieben werden zwischen den Ideologemen, dem Haß, den Traditionen einer durch und durch zerstörten Gesellschaft, zerrieben oft auch von der Unmöglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Seelisch zerstört sind aber auch die Weißen in dieser rassistischen Gesellschaft. –

COMING OF AGE IN MISSISSIPPIerschien 1968, wurde von Anfang an hochgelobt und (in den Südstaaten) medial bekämpft, es wurde in etliche Sprachen übersetzt; in den Vereinigten Staaten ist es bis heute eines der bekannten Bücher zum Thema, bei (vor allem studentischen) Leser*innen wie in der Presse, in Fachveröffentlichungen und unter Bürgerrechtler*innen. – Der Kampf gegen die Segregation (in ihren "zeitgemäßen" Varianten) ist in den USA noch keineswegs beendet.

Auf Deutsch erschien das Buch 1970 (S. Fischer) sowie 1971 in der DDR (Verlag Neues Leben), jeweils in der Übersetzung von Annemarie Böll, mit Vorwort von Heinrich Böll. Eine Taschenbuchausgabe bei S. Fischer von 1972 sollte dann für 50 Jahre die letzte deutsche Ausgabe des Buches sein, – bis zu der hier vorliegenden kostenfreien online-Veröffentlichung (Text und Übersetzung weitestgehend nach der früheren Ausgabe) beim Verlagsprojekt Autonomie und Chaos.

Die Neuausgabe enthält als Anhang das Script eines Interviews, das Anne Moody 1985 gab; es handelt auch von ihrem Leben in den 10 Jahren seit Erscheinen ihrer politischen Autobiografie.

Hier direkt angehört und heruntergeladen werden kann die Audiodatei eines Interviews von 1969, aus Anlaß der Veröffentlichung ihres Buches:

Und hier ist das Buch:

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Hinweis: Zum Thema Segregation / Rassismus in den USA ist bei A+C wiederveröffentlicht worden der Roman Fremde Frucht ("Strange Fruit")von Lillian Smith, einer weißen Bürgerrechtlerin. Die Neuausgabe enthält einen umfassenden Anhang zum Thema.

Anne-als-sie-selbst. Anne Franks Botschaft

Wir alle wissen, was Anne Frank ist: "Das Tagebuch der Anne Frank gilt als ein historisches Dokument aus der Zeit des Holocaust und die Autorin Anne Frank als Symbolfigur gegen die Unmenschlichkeit des Völkermordes in der Zeit des Nationalsozialismus", steht bei Wikipedia. Aber wer war Anne Frank? Überlebende Freunde und Bekannte betonten manchmal, sie sei "trotzdem ein ganz normales junges Mädchen" gewesen; auch Rezensenten des Tagebuchs und Biografen sprechen gern von "normalen Gemütsschwankungen der Jugend". Anne selbst hätte es wohl anders gesehen; auch das ist dem Tagebuch zu entnehmen – nur mögen Erwachsene derlei ungern ernstnehmen, wenn sie ihren eigenen Anspruch an Authentizität und Selbstidentität längst verloren haben.

Annes Vater schrieb über seine Begegnung mit dem Tagebuch seiner Tochter: "Eine ganz andere Anne enthüllte sich mir aus diesen beschriebenen Seiten als das Kind, das ich verloren hatte. Ich hatte keine Ahnung von der Tiefe ihrer Gedanken und Gefühle gehabt."

Anne Frank wollte bekanntlich Journalistin oder Schriftstellerin werden; ihre schriftstellerische Begabung ist offensichtlich. Als grundlegendere individuelle Kompetenz erlebe ich jedoch ihre tiefgründige psychologische und spirituelle Achtsamkeit, die in diesen Lebensjahren (ihren letzten) erblühte. Um diese Anne Frank ging es mir in dieser Zusammenstellung von Passagen aus ihren Tagebüchern.

Die im zweiten Teil dokumentierten Zeugnisse von Annes (überlebenden) Schicksalsgefährten aus den Monaten in Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen bezeugen die Integrität ihrer kompromißlosen Mitmenschlichkeit auch dort. "Das völlig belanglose Tagebuch eines jungen Mädchens, das von sich selbst so völlig eingenommen und von seiner Intelligenz so dermaßen überzeugt ist, dass man sie nicht mal sympathisch finden kann" (wie eine amazon-Kundin kommentierte), war eben nicht nur pubertärer Widerspruchsgeist oder literarische Ambition. Auch in den kritischen Aufwallungen gegen die Mutter hatte Anne Frank nicht eigentlich gegen diese gekämpft, sondern ist, innerhalb ihrer Möglichkeiten, für ein höheres Niveau an Mitmenschlichkeit eingetreten.

Nicht selten wird Anne Frank mehr oder weniger deutlich als Symbol für die Millionen Opfer der Shoah profiliert. Dies ist unangemessen; jeder dieser Menschen repräsentiert sein einmaliges, unverwechselbares Leben. – Anne stand ein für Möglichkeiten menschenwürdiger Integrität, menschlichen Potentials angesichts schrecklicher, menschenunwürdiger Lebensumstände. Dies ist ihre Flaschenpost, als Moment einer nunmehr in jeder Generation unabdingbaren Erziehung nach Auschwitz.

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Emilia Mai: BERICHT

Emilia Mai ist jetzt Anfang 20. Seit frühester Kindheit war sie sexueller Gewalt und anderer Folter unterworfen – zunächst durch den Vater, später durch eine Vielzahl fremder Männer, denen sie vom Vater (zweifellos für Geld) weitergegeben wurde. Menschenhandel, Zwangsprostitution, Folter, Sadismus, kollektive Vergewaltigungen, Produktion von Kinderpornografie: Dieser bei A+C veröffentlichte Bericht ist repräsentativ für den Leidensweg vieler Kinder und Jugendlicher, auch bei uns in Deutschland.

Emilia Mais Bericht zeigt repräsentative Nuancen, die woanders nicht so deutlich werden – und kann dadurch HelferInnen oder andere Außenstehende dabei unterstützen, sich vorzustellen, wie es Überlebenden geht, und auch: aufmerksam zu werden im Alltag, im Berufsleben (als KindergärtnerIn oder LehrerIn, als Kinderarzt, Hausarzt oder NotfallmedizinerIn).
Da sind Eltern, die als Pädagoge und Psychotherapeutin möglicherweise zu Recht anerkannt werden, die vielleicht tatsächlich Einfühlungsvermögen zeigen im Berufsleben. Daß sie andererseits eigene Kinder mißachten, vernachlässigen und im Stich lassen (wie die Mutter) bzw. foltern, vergewaltigen und "verkaufen", läßt sich zumindest hypothetisch erklären durch unterschiedliche Ichanteile (Ego States), die wiederum mit der kindlichen Sozialisation dieser Eltern zu tun haben.
Bei Emilias Eltern werden grundlegende Elemente dysfunktionaler Familien überdeutlich. Der gnadenlose Sadismus des Vaters (Täters) kann durch nichts relativiert werden. Aus prophylaktischem, epidemiologischem Blickwinkel ist es jedoch wichtig, psychische Umstände zu benennen und zu erforschen, die Grundlagen derartiger Gewaltätigkeiten sein können.

Derartige sadistische, krankhaft narzißtische oder anderweitig schwerstgestörte Väter (und andere primäre Bezugspersonen) stehen wohl oft am Anfang einer entsprechenden Leidensgeschichte. Im nächsten Schritt wird das Kind an andere Täter "verliehen" – und gelegentlich findet sich als "Abnehmerin" auch eine Kultgruppe der Rituellen Gewalt. Selbst wenn jetzt der ursprüngliche Täter (Vater/Eltern) altersmäßig ausscheidet, ist das Opfer weiterhin gefangen. Sofern sich eine multiple Persönlichkeit (DIS) entwickelt hat, passen sich die verschiedenen Teilpersönlichkeiten (Anteile) an das umfassendere Spektrum zwischen Gewalttaten und alltäglichem Leben an – als einzige Möglichkeit, unter diesen Bedingungen zu überleben. Eine derartige Konstellation dürfte das Verbindungsglied sein zwischen der zweifellos häufiger vorkommenden sexuellen Gewalt ausschließlich innerhalb der Familie (Inzest) und Gruppen der organisierten/rituellen Gewalt.

Emilia Mai bezeugt in ihrem Bericht auch eine in der medialen Öffentlichkeit noch immer gerne bezweifelte Tatsache, nämlich die Existenz von nichtregistrierten Säuglingen und Kindern. Viele von ihnen werden vornehmlich aus Osteuropa eingeschleust und hier den teuflischen Bedürfnissen entsprechender Täter geopfert.

Deutlich wird beim Vater, aber auch bei anderen Tätern, die schrittweise Steigerung der Perversion, – das Ausprobieren, das Lernen der Täter durch die eigenen Empfindungen beim Ausleben von sadistischer Gewalt, der Genuss der Macht.

Spontan möchte ich jeden Mitmenschen davor bewahren, diese Veröffentlichung zu lesen, – aber es muß auch solche Zeugnisse geben. Wie sollten Außenstehende sonst auch nur ahnen können, wie es den Opfern der organisierten, rituellen Gewalt ergeht – nicht einem, nicht hundert, nein, vielleicht tausenden allein in Deutschland. Wie sollten wir ganz normale Bürger sonst auch nur ahnen, was für ein Doppelleben manche von uns führen.

(Aus dem Nachwort)

ACHTUNG – TRIGGERWARNUNG!
Dieser Bericht enthält konkrete Darstellungen schwerster sexualisierter Gewalt!

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Erna Saenger: GEÖFFNETE TÜREN. Lebenserinnerungen 1876-1976

Neu im Dezember 2023

Erna Wehr, geboren im September 1876 in Kensau (Westpreußen) , gestorben im November 1978 in Berlin, stammte aus einer großbürgerlichen Gutsherrenfamilie. Bestimmend für ihr Leben war ihr alltäglich gelebtes Christentum sowie ihr Engagement für Kindererziehung und Sozialarbeit. So absolvierte sie ab 1896 eine Berufsausbildung im Pestalozzi-Fröbel-Haus (P.F.H.) Berlin, einer der ersten Ausbildungsstätten für das damals neue Berufsbild Sozialarbeit. Durch ihre Ehe mit dem preußischen Staatsbeamten Konrad Saenger lebte sie ab 1911 in Berlin in bildungsbürgerlichen Verhältnissen.
Kern ihrer Lebenserinnerungen waren Auszüge aus ihrem (lebenslang geführten) Tagebuch. Sie wurden von der Autorin organisch eingebunden in die direkt für das Erinnerungsbuch verfaßten Passagen. Das Buch ist ein Dokument der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit: zur Situation der Gutsherrschaft in Westpreußen (heute Polen) und zugleich zum Lebensgefühl preußischer Staatsbeamten und etablierter Akademiker in Berlin. Deutlich wird eine wie selbstverständliche Amalgamierung von preußischem Nationalismus (einschließlich des Glaubens an "das Urdeutsche") und christlichem Ethos mit Momenten der nazistischen Ideologie. So ist das Buch ideologiegeschichtlich möglicherweise repräsentativ für die entsprechende Schicht von Großbürgern, Beamten und Adligen in Deutschland (vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, im Nationalsozialismus sowie dann noch einmal aufflammend in den ersten Jahrzehnten der BRD).

Das Einzigartige liegt in der bis ins hundertste Lebensjahr ungebrochenen vitalen Reflexionsfähigkeit der Autorin, in die ihre lebenslang geführten Tagebücher einbezogen werden. Es entsteht ein seltenes Gleichgewicht der reflexiven Präsenz ihrer Lebenserfahrung, dies nicht als nostalgisch orientierte Rückschau, vielmehr nimmt die Autorin damalige Blickwinkel, Erfahrungen, Einschätzungen mit in die Gegenwart, konfrontiert heutige soziale, gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten mit ihnen und lädt ihre Leser*innen ausdrücklich zum Mitdenken ein. Dabei gelingt ihr ein "beidäugiges Sehen", aus dem wir viel lernen können. Dies wäre kaum möglich ohne eine ungebrochene Lebenszugewandtheit, die bei ihr viel mit ihrer Beheimatung im christlichen Glauben zu tun hat, aber auch in der Verbundenheit mit der Familie liegt. Kostbare Zeitzeugin ist sie auch, weil sie (subjektiv, mit Herz und Verstand) das politisch-soziale Leben spiegelt – einschließlich der Ideologeme und Verirrungen, denen auch sie unterworfen war. Erna Saenger hat lebenslang weitergelernt, jedoch ohne ihre Vergangenheit (wie sie in den Tagebüchern dokumentiert war) retrospektiv umzuinterpretieren.

Schwerpunkte der Lebenserinnerungen sind Kindheit und Jugend auf dem westpreußischen Gutshof – Aufenthalte in Berlin – Die Anfänge der Sozialarbeit – Erster Weltkrieg (nationalistisch-preußischer Taumel) – tätige Nächstenliebe in Kensau – Leben in Berlin (Dahlem) –Kirchenkampf im NS – lebendige Christlichkeit – Alltag im Zweiten Weltkrieg – Familienleben.

Saengers einfühlsame, genuin sozialarbeiterische Haltung zeigt sich nicht zuletzt in der nuancierten Darstellung des dörflichen Lebens in Kensau. Leid und Freude, Probleme, Begrenztheiten und persönliche Ressourcen der Kleinbauern und Landarbeiter werden in den skizzierten Dialogen vorstellbar.

Gespenstisch alltäglich liest sich der Bericht vom kollektiven Wahn zu Beginn des Ersten Weltkriegs, einem Wahn, mit dem die Autorin offenkundig noch 60 Jahre später identifiziert ist. Nachvollziehbar wird auch, wie die affektiv besetzte Deutschtümelei in den Kriegsjahren weiterging und, entsprechend pointiert, die Verinnerlichung der nazistischen Ideologie im Volk begünstigte und stabilisierte. Politik wird in Saengers Buch jedoch nicht problematisiert; sie schreibt: "Politik also nicht — historisches Geschehen umso mehr." Diese eigenartige Abgrenzung zieht sich durch Erna Saengers Buch. Politik ist das Parteiengerangel, menschliches Irren und Wirren, historisches Geschehen ist das Dauerhafte, womit "man" sich identifizieren möchte.

Während der NS-Zeit war Erna Saenger eingebunden in den Dahlemer Kreis der "Bekennenden Kirche" (um Martin Niemöller). Nicht nur in diesem Zusammenhang dokumentiert sie christliche Diskussionsprozesse und Kontroversen, so zwischen deutsch-völkischen ("heidnischen"), deutsch-christlichen und traditionellen christlichen Haltungen und den Positionen des "Kirchenkampfs".Die Bedeutung dieses Zeugnisses liegt nicht zuletzt darin, daß Erna Saenger sich auch hier ihr Selbstdenken erhalten hat und sich offenbar keiner der Gruppierungen pauschal angeschlossen hat. Selbst die "einseitige, prinzipielle Verurteilung der DC" (NS-nahe, antisemische Gruppierung Deutsche Christen) wollte sie "nicht mitmachen".

Nachvollziehbar wird für mich, wieviel Kraft (Ressourcen) es Menschen gegeben haben kann, für die der christliche Glaube, die Orientierung an christlichen Texten, Sprüchen und Liedern tatsächlich das alltägliche Leben mitbestimmt hat.
Sinnlich nachvollziehbar wird allerdings auch die Kehrseite dieser Christlichkeit. Mit den Ideologemen des christlichen Weltbild läßt sich alles menschlich Verwerfliche integrieren – nämlich als das zu Überwindende, wofür die christliche Religion die Werkzeuge selbstverständlich zur Verfügung stellt; das Böse, das sind Aufgaben Gottes. Auch das christliche Weltbild ist ein geschlossenes System, in dem alles seinen Platz findet, sobald es einmal geschehen ist: auch der Nazismus, der Stalinismus, jedes Verbrechen. Für jede Lebenssituation gibt es ein Bibelzitat, wodurch das entsprechende Phänomen in den Gesamtzusammenhang des christlichen Weltbilds gestellt werden kann; es liegt dann nur noch am Einzelnen, eine biblisch legitimierte Umgangsweise dafür zu finden; die Autorin macht es uns vor.

In Erna Saengers Buch entsteht der Eindruck, daß die Ablehnung der Nationalsozialisten in ihrem Kreis (auch innerhalb des sogenannten "Kirchenkampfes") zunächst vorrangig damit begründet wurde, daß die Nazis die beiden Amtskirchen nicht anerkannten. "Dem Nationalsozialismus stand Saenger ablehnend gegenüber. Insbesondere missfiel ihm, dass der Staat die evangelische Kirche immer mehr beeinflusste", heißt es in einer ausführlichen Würdigung Konrad Saengers. War das nun wirklich das Schlimmste, was den Nazis vorzuwerfen wäre?
Hitlers Buch MEIN KAMPF (1925/27) wurde offenbar weder von dem professoralen Philosophen Eduard Spranger noch im Umkreis der hochgebildeten Familie Saenger rezipiert.
Im Anhang des Nachworts werden beispielhaft einige Passagen aus Hitlers programmatischer Schrift dokumentiert. Ihre gnadenlose, wahnsinnige, in der Konsequenz mörderische Rationalität war die Kehrseite einer an christlicher Nächstenliebe und unbedingter Lebenszugewandtheit orientierten Gutbürgerlichkeit, von der Erna Saenger glaubwürdig und sympathisch erzählt.

(Aus dem Nachwort)

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Frances V. Rummell: DIANA … EINE BEFREMDLICHE AUTOBIOGRAPHIE

Neu im September 2023

1939 erschien in den USA ein Buch mit dem Titel: "DIANA – A STRANGE AUTOBIOGRAPHY". Als Autorin wurde "Diana Fredericks" genannt. Es war die erste in den Vereinigten Staaten veröffentlichte Darstellung eines individuellen lesbischen Coming Out.
Etwa 1960 erschien eine deutsche Ausgabe im Weltspiegel-Verlag (der vorrangig Pornoliteratur verlegte), unter dem Titel "DIANA – MEIN LEBEN - MEINE LIEBE - MEIN SCHICKSAL", hier unter dem Autorinnennamen "Diana Francis". Sie wurde vermutlich kaum wahrgenommen. (Dieser – sehr sorgfältig übertragene –Ausgabe liegt die hier vorliegende erste deutsche Neuveröffentlichung zugrunde.)

Die Identität der Autorin von "Diana" blieb unbekannt bis zum Jahr 2010. – Es handelt sich um Frances Virginia Rummell (1907-1969), eine promovierte Pädagogin und Kolumnistin.

Vieles scheint sich grundlegend geändert zu haben im Umkreis von Sexualität und Geschlechtsrollen (Gender) und dem möglichen und menschengmäßen weiten Spektrum innerhalb und jenseits der traditionellen Dichotomie von Hetero- und Homosexualität. Ein Grundproblem junger Menschen mit ihnen selbst noch unklarer "Geschlechtsidentität" bleibt jedoch gleich – und hat sich sogar verkompliziert in unserer pluralistischen Welt: das ist der quälende Zwiespalt zwischen der zunächst in der konventionellen Sozialisation angenommenen "normalen" Geschlechtsidentität und den hiervon (offenbar) abweichenden eigenen Empfindungen und Bedürfnissen.
Die Sozialisierung im Jugendalter hin zu einer selbstbestimmten "Geschlechtsidentität" ist und bleibt ein persönlicher, intimer Prozeß, der seine Zeit benötigt.

Die Autorin, eine hochintelligente, akademisch gebildete junge Frau, berichtet, wie sie sich in den zurückliegenden Jahren über ihre Empfindungen, ihre Situation in der sozialen Welt der 1930er Jahre und gegenüber dem Phänomen "Lesbischsein" klarzuwerden versuchte – noch ohne den Hintergrund einer lesbischen Community. Außer den wenigen frühen sexualwissenschaftlichen, medizinischen und psychoanalytischen Ansätzen zum Thema Homosexualität hatte sie nichts als ihre Lebenserfahrungen, über die sie dazuhin kaum mit Außenstehenden sprechen konnte.
Rummells Buch ist alles in allem der lebenskluge, anrührende, lehrreiche Bericht einer individuellen Entwicklungszeit, in der es keineswegs nur um sexuelle Neigungen geht. Es zeigt erschütternde Situationen menschlicher Wahrheit und menschlicher Hilflosigkeit. Auch die nuancierte Darstellung eigener Ressentiments, Ängste, Vorlieben, Überzeugungen und Schlußfolgerungen macht uns die Persönlichkeit der Autorin (die hierbei zweifellos mit ihrer Protagonistin identisch ist) auch in Momenten vorstellbar, die keinen direkten Bezug zu ihrer psychosexuellen Entwicklung haben, jedoch natürlicherweise zu deren Grundbedingungen gehören.
Dargestellt wird die kontinuierliche Orientierungssuche der Protagonistin zwischen den Vorgaben der "normalen" Gesellschaft und den Erfahrungen mit dem Lesbischsein. Dabei werden subtilste Schwankungen des Selbstwertgefühls und der inneren Impulse nachvollziehbar. Sachte wandelt sich der Blickwinkel der Protagonistin im Verlauf der Handlung. Zunächst geht sie vorbehaltlos von der übergeordnet legitimierten heterosexuellen Normalität aus, dann entwickelt sich schrittweise ihr Selbstverständnis einer ebenso natürlichen potentiellen Normalität des Lesbischseins. Dies geht allerdings nicht so weit, daß sie demgegenüber jetzt die heterosexuelle Gesellschaft in Frage stellt.

Nachvollziehbar wird in Frances Rummells Buch, wie Lesben damals alle sozialen Üblichkeiten überprüfen mußten: Vieles mußte zuerst pauschal abgelehnt werden (weil es zur "normalen" Gesellschaft gehörte), bevor im Einzelfall entschieden werden konnte, daß es durchaus auch für Lesben (bzw. für die konkret reflektierende Frau) akzeptabel sein könnte (z.B. mit Frauen zu tanzen). Das gesamte Gefüge der innerhalb der "normalen" (heterosexuell orientierten) Gesellschaft verinnerlichten kindlichen/jugendlichen Sozialisation mußte Stein für Stein umgebaut werden.
Deutlich wird in diesem Bericht auch der gnadenlose normative Druck der gesellschaftlichen Sozialisation, dem sich nur wenige Menschen, und auch die nur mühsam, entziehen können.

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Franz X. Graf v. Zedtwitz: FELDMÜNSTER. Roman aus einem Jesuiteninternat

Franz Xaver Graf von Zedtwitz (1906 Wien – 1942 bei Sewastopol)war von 1915 bis 1920 Schüler des Jesuitengymnasiums Stella Matutina in Feldkirch (Österreich). Er absolvierte ein Studium der Zoologie und promovierte 1929 an der Universität Berlin. Er war verheiratet mit Ilse Woit; das Ehepaar hatte drei Kinder. Zedtwitz lebte als Schriftsteller in Krugsreuth bei Asch im Sudetenland.

Neben zoologischen Werken verfaßte Franz Zedtwitz erzählende Tier- und Jagdbücher. Seinen größten Erfolg erzielte er mit dem 1940 erschienenen, seit langem vergessenen und hier erstmalig wiederveröffentlichten Roman FELDMÜNSTER. Das Buch erschien im von der SS betriebenen Nordland-Verlag, erlebte bis 1943 mehrere Nachauflagen und galt in nationalsozialistischen Kreisen offenbar als Pflichtlektüre im Kampf gegen den Jesuitenorden.

Der offensichtlich autobiografisch fundierte Roman spielt im Jahr 1919, seine Handlung liegt vorrangig in der seelischen Entwicklung des 15jährigen Robert als Zögling eines Jesuiteninternats. Liturgische Riten, Segenszeichen und Dogmen der katholischen Kirche werden den Schülern mit Wirkung einer seelischen Konditionierung oktroyiert; dies gehört(e) offenbar zur Intention der Ordensgemeinschaft Gesellschaft Jesu (Societas Jesu, S.J.), die sich als Kämpfer für das Reich Gottes verstanden (oder verstehen). Der Autor vermittelt uns die immanente Logik dieses kirchlich-religiös begründeten Bedeutungssystems. Für die von ihren Eltern getrennten Kindern und Jugendlichen ist es allerdings nicht nur ein Gerüst sozialer Normen, wie wir alle es in der Kindheit gelernt haben; aufgrund der hermetischen (und strafbewehrten) Konditionierung im Zwangsalltag der Jesuitenschule wird diese Logik ihnen evident genauso, wie unter anderen Sozialisationsbedingungen die existenzielle Bedeutung der Mutter, etwas später auch des Vaters evident ist.

FELDMÜNSTER ist ein bedeutender Entwicklungsroman – allerdings mit einer Thematik, für die es heutzutage kaum mehr Interesse geben dürfte; zu Unrecht, denn das Wesentliche dieser Konstellation ist überzeitlich relevant, ist nicht beschränkt auf religiöse Sozialisationsformen. Die emotionale Innensicht eines menschen-verachtender schwarzpädagogischer Konditionierung ausgesetzten Kindes ist selten derart subtil dargestellt worden. Die machtpervertierte katholische Dogmatik des damaligen Jesuiteninternats steht hier pars pro toto.

Kinder sind zur seelischen Entwicklung angewiesen auf erwachsene Bezugspersonenen, an denen sie sich – auch zu ihrem eigenen Schaden – orientieren. Die natürliche Sehnsucht junger Menschen nach Vertrauen, Geborgenheit, Zuwendung, Orientierung kann deshalb fast unbegrenzt mißbraucht werden; das gilt für einzelne bösartige Eltern genauso wie für kirchlich-religiöse Indoktrination, für politisch ideologische Sozialisation oder für die Konditionierung durch Gruppen der organisierten rituellen Gewalt.Aufgrund dieser entwicklungspsychologischen Gegebenheiten übernehmen Kinder die Regeln, Kriterien, Argumentationen und emotionalen Zuordnungen der Bezugspersonen; kindliche Opfer gewalttätiger Eltern verinnerlichen die Zuschreibungen ihrer Väter oder Mütter ("Du bist selber schuld!" – "Du warst böse, ich muß dich bestrafen!" – "Es ist zu deinem eigenen Besten!"). Wegen der entwicklungsbedingten Notwendigkeit einer konsistenten theory of mind (eines Weltbilds) vervollständigt, verdichtet das Kind, der Jugendliche zwangsmäßig vorgegebene ideologische Formeln zu einer affektiv-kognitiven "Welt", in der es, das Kind, die existenziell notwendige Geborgenheit findet.

FELDMÜNSTER ist ein ernstzunehmendes ethnographisches Quellenwerk – denn ein derart subtiler, kenntnisreicher Blick ins Seelenleben von Zöglingen einer Jesuitenschule vor 100 Jahren dürfte nicht noch einmal dokumentiert worden sein.Zudem ist dieser Roman eine kirchengeschichtliche Dokumentation, die vermitteln kann, wie katholische Dogmatik entgleisen kann zu selbstgerechtem Machtmißbrauch. (Dies erhält einen aktuellen Bezug zu den bekanntgewordenen Fällen von sexualisiertem Mißbrauch auch durch kirchliche Würdenträger.) Zedtwitz verzichtet auf jede plakativ-heroische Attitüde; in tiefem Einfühlungsvermögen vermittelt er in jeder Situation die unvereinbaren, ambivalenten, irritierenden Empfindungen junger Menschen angesichts solcher überfordernder Erfahrungen mit der Erwachsenenwelt. Zugleich ermöglicht es die souveräne sprachliche Gestaltung des Autors auch nichtchristlichen LeserInnen (wie mir), sich ansatzweise einzufühlen in das Lebensgefühl gläubiger Katholiken, wie beispielsweise einzelne Geistliche oder die Mutter des Protagonisten Robert.

Dieser Roman zeigt zwei miteinander verflochtene Entwicklungsprozesse: zum einen Roberts schrittweise Ablösung aus den Konditionierungen der katholischen Dogmatik (in ihrer pervertierten, machtorientierten Form), zum anderen das wachsende Selbstverständnis des Jungen als Künstler: als Maler. Nicht die gewalttätige Sozialisation, vielmehr Roberts über alle Schwierigkeiten hinweg sich entfaltende kreative Lebenskraft ist das unaufdringliche Leitmotiv dieses Romans; in zwiespältiger Weise steht es wohl auch für das im NS-Deutschland zerstörte kreative Leben des Autors.

Franz Zedtwitz hat außer diesem Roman 24 naturkundliche Bücher über Tiere in Wald und Flur veröffentlicht. Seine geschmeidige, farbige, flüssige und prägnante Sprache stand zweifellos immer im Dienst tiefer Achtsamkeit für das Leben. "Ehrfurcht vor dem Leben", Albert Schweitzers Satz, ist auch die Haltung des Franz Graf Zedtwitz. Seine Tierbücher sind antiquarisch noch erhältlich; besonders empfehlen möchte ich WUNDERBARE KLEINE WELT. DAS BUCH VOM HEIMISCHEN GETIER (Berlin 1934: Safari-Verlag).

Bei aller überragenden Qualität auch seiner Tierbücher läßt sich hinter dem Verzicht dieses Schriftstellers auf andersartige literarische Werke eine qualvolle innere Emigration ahnen: Nach einer Jugend in der Gewalt der katholischen Diktatur das (allzu kurze) Erwachsenenleben in der NS-Diktatur! Die letzte Tätigkeit als Frontberichterstatter kann ich nur als endgültige Resignation verstehen. Im Juni 1942 kam Zedtwitz um, innerhalb der Schlacht um Sewastopol, 36jährig. Daß FELDMÜNSTER offenbar von der Nazi-Agitation funktionalisiert werden konnte, war eine bittere Pointe. - Daß Franz Zedtwitz dann bis heute entweder vergessen oder, wo nicht, als NS-Parteigänger zu gelten scheint, ist die bitterste Pointe.

(Nachwort 2019)

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Gerlinde Elke Occhidivento / Mondrian v. Lüttichau: DAS BUCH TANI MARA

1970 war ich, mondrian – damals noch wolfgang (oder wolfi) -, achtzehn jahre alt. Ein außenseiter aus gründen, die ich erst viel später verstehen gelernt habe. Seit anfang 1969 hatte ich in zunehmendem maße kontakt gefunden zu gassenkindern in der kleinen württembergischen stadt, in der ich (im elternhaus) lebte. Von ihnen habe ich mich angenommen gefühlt – ganz einfach da sein dürfen, in der gegenwart, - stunden zusammen verbringen in selbstverständlichkeit, bißchen reden, bißchen freude, "gummihupfen" (wobei ich nur im gummi stand und manchmal schiedsrichter spielte), - stille, aber auch momente von solidarität, trost und trauer miteinander teilen.. dies meist wegen der eltern, der erwachsenen. Augenblicke von nähe, von zärtlichkeit, einander geborgenheit geben für momente.
Zu sexuellen grenzüberschreitungen meinerseits kam es nicht – ich habe entsprechende gefühle dafür kaum gehabt, war in meinen empfindungen eher selbst wie zehn oder zwölf. Wo darüber hinausgehende empfindungen und phantasien auftauchten, hab ich auf das, was der authentischen lebendigkeit der kinder angemessen war, vermutlich mehr geachtet als auf alles andere. Seelische grenzüberschreitungen durch ältere (durch eltern) kannte ich selbst zu gut. (Siehe hierzu bei A+C meine tage-bücher "Außenseiter-Allüren!"  und "Schweinisch wird kritisch und physisch" sowie die anmerkungen zum thema pädosexualität hier auf der titelseite.)
Aber natürlich argwöhnten manche erwachsene schlimmes. Immer wieder wurde einzelnen kindern der umgang mit mir verboten; einige hielten sich dran, die meisten nicht.

Elke (oder gerlinde) war eines dieser gassenkinder. Zwischen uns war es mehr, von anfang an. Und doch wußten wir beide, wo die grenze unserer beziehung war, in jener zeit. 1971-73 war ich im internat in heidelberg; jetzt gingen briefe zwischen uns hin und her. Gesehen haben wir dann nur noch selten. Sie hatte einen "richtigen" freund, ich eine "richtige" freundin. Dann wurde gerlinde heroinabhängig. In unseren briefen der folgenden jahre stand dieses thema im mittelpunkt. 1980 ging elke in eine stationäre drogentherapie. - -

Tagebücher geschrieben habe ich seit dem vierzehnten lebensjahr. Aus ihnen habe ich im jahr 1980/81 die geschichte der begegnung und beziehung mit gerlinde herausgeschrieben und, in verbindung mit unserem damaligen briefwechsel, DAS BUCH TANI MARA zusammengestellt. Es erschien 1982 als buchhandelsausgabe (und begründete meinen damaligen selbstverlag AUTONOMIE UND CHAOS HEIDELBERG). Tagebücher und briefe wurden im wesentlichen unverändert wiedergegeben, nur einzelne (meist unklare) stellen wurden minimal korrigiert. – Jetzt, 36 jahre später, kann es, in absprache mit gerlinde, eine neue ausgabe geben.

Weltweit bekanntgeworden ist christiane felscherinows bericht über die "Kinder vom Bahnhof Zoo". In dieser noch immer durch nichts zu ersetzenden dokumentation kommen tiefenschichten der seelischen befindlichkeit dieser jungen menschen zu kurz. In lindes briefen aus ihrer drogenzeit steht genau dies im mittelpunkt. Nicht zuletzt deshalb bin ich froh, daß Das Buch Tani Mara jetzt noch einmal veröffentlicht werden kann.

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Guido mohammad jafar: AUFZEICHNUNGEN EINES SUCHENDEN. Der nicht "sterben" will

Neuausgabe Februar 2020

(Hrsg. von mondrian v. lüttichau)

Mein freund guido starb 1994. Das buch enthält texte und briefe aus den jahren 1980-86, die guido mir 1986 zur verwahrung gegeben hat, außerdem meine erinnerungen an die zeit mit ihm. Der buchtitel stammt von guido selbst. Die erweiterte neuausgabe enthält  zusätzlich fotos und einige weitere texte. –

Deutlich wird guidos lebenslange suche nach authentischem, unentfremdetem leben. Demgegenüber standen erhebliche seelische verletzungen aufgrund von traumatisierenden sozialisationsbedingungen. Guido mohammad jafar kann in seinen nachgelassenen texten und briefen mut machen, sich der allgegenwärtigen "normalen" entfremdung und verdinglichung nicht zu unterwerfen.

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Heike Skrabs: PAUSENSPIEL

Diese 1989 in der DDR erstveröffentlichten Erzählungen handeln von Kindern und Jugendlichen zwischen dem Bemühen, ihr Eigenes in der sozialen Umgebung zu bewahren und zu entfalten – und den teilweise längst verinnerlichten Mechanismen der (Selbst-)Konditionierung. In Kindheit und Jugend kollidiert beides noch, oft in subjektiv unlösbarer Weise, führt dann zu tiefgreifender Irritation und Identitätsdiffusion, zu Scham, Demütigung, Hilflosigkeit, Unterwürfigkeit oder Stolz. Bei Erwachsenen haben sich solche Störfaktoren der Normalität meist abgeschliffen.

Die Autorin Heike Skrabs steht offensichtlich durchgängig auf der Seite marginalisierter und gesellschaftlich ausgegrenzter Menschen, – generell: der Schwächeren, und zu denen gehören in jedemfall die Kinder (zumindest so lange, bis sie gesellschaftskonform sozialisiert sind).

Ihre Geschichten spielen in der von kleinbürgerlichen Konventionen geprägten Welt kleiner Städte der DDR Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Oft geht es um das Dickicht der familiären Interaktion: Kontrollbedürfnisse, Schuldgefühle, Geborgenheitsbedürfnisse, Abgrenzungsbedürfnisse, Überforderung – all dies bei Kindern wie Eltern. Jedoch stehen diese alltäglichen Konflikte bei Kindern/Jugendlichen meist für etwas Grundsätzlicheres: sie sind Schritte in die Welt hinaus, und jede Erfahrung, die Kinder mit der Welt machen, hat zugleich symbolische Bedeutung: So ist es auf der Welt! So sind die Menschen (die Erwachsenen)!

Es sind ganz normale Situationen und Probleme in der normalen Alltagswelt "ganz normaler" Leute – aber Heike Skrabs läßt die Untiefen dieser Normalität aufscheinen, auch dies ohne Lösungen, ohne "Happy end". Es ist einfach so. Die meisten geschilderten Konstellationen sind uns altvertraut; dennoch ist es nötig, solche Zusammenhänge immer neu zu erzählen, in ihren unterschiedlichen Facetten. In jeder Generation neu muß die Frage gestellt werden: Was ist eigentlich "Normalität"? Wo endet ihr Recht? Auf welche Weise kann die individuelle Eigenart sich entfalten, die mit jedem Neugeborenen auf die Welt kommt?

Was meint "Pausenspiel", der Titel einer der Geschichten wie des Buches? – eine Pause wovon? vom alltäglichen Leben in Familie, Schule oder Arbeit? Möglicherweise entfaltet sich das wirkliche, das existentielle Leben von jungen Leuten nicht selten gerade in solchen Pausen, die der angeblichen "Realität" mit dem Blick auf die Uhr abgerungen werden müssen. Und ist "Spiel" (zumal unorganisiertes, nichtkollektiviertes Spiel – wir sind in der DDR!) denn etwas Nebensächliches?

Die Gewalt der öffentlichen Sozialisation (Meinungsmache, Vorurteile, Diffamierungen und Unterstellungen, bösartige Phantasie) zeigt die Autorin besonders deutlich in "Hinter sieben Bergen", der Geschichte eines schwulen Coming out. Die Erzählung gehört zu den seltenen literarischen Darstellungen zum Thema Homosexualität in der DDR.

"Das Leben" ist die zeitlose Geschichte einer existentiellen Grenzsituation. Aus ihm könnte unbedingt ein Film werden.

Heike Skrabs wurde 1961 in Bad Liebenstein geboren und verbrachte ihre Kindheit in Thüringen und Mecklenburg. Sie lebt in Rudolstadt.

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Heinrich Hauser: KAMPF. Geschichte einer Jugend

Der seemann, schriftsteller, farmer, fotograf und dokumentarfilmer HEINRICH HAUSER (1901 – 1955) trat 1918 als seekadett ein in die Marineschule Flensburg. Dort war er augenzeuge der Novemberrevolution. Zum schein schloß er sich kurzfristig den revolutionären matrosen an; anschließend wurde er mitglied des Freikorps Maercker und war beteiligt am bürgerkrieg zwischen reichsregierung (freikorps) und revolutionären aktivisten (Arbeiter- und Soldatenrat).

Kurzzeitig arbeitete er anschließend in einem hüttenwerk in ruhrort. Er schloß sich einer freikorps torpedobootflottille an und erlebte ausläufer des Kapp-Putsches, mit dem er sympathisierte. Von 1920 bis 1922 arbeitet hauser unter anderem als barmann und am hochofen, er macht zwei ansätze, medizin zu studieren und erlebt seine erste liebesgeschichte. In den jahren 1923 bis 1930 war er als (leicht-)matrose auf handelsschiffen und nahm dort an fahrten in alle kontinente teil. –

1925 wurde heinrich hauser mitarbeiter der Frankfurter Zeitung. Der vor allem in den 30er jahren sehr erfolgreiche autor schrieb zahlreiche Essays, reisereportagen und romane. Für seinen zweiten roman 'Brackwasser' erhielt er 1928 den Gerhart Hauptmann-Preis. Im selben Jahr entstand die fotoreportage 'Schwarzes Revier' über das ruhrgebiet.

Von diesen ersten dreißig lebensjahren seines lebens berichtet das vorliegende, hier erstmalig wiederveröffentlichte buch. Die erstausgabe erschien 1934; spätestens seit 1933 sah hauser im nationalsozialismus eine perspektive zur verwirklichung eigener ideale – bis 1939. Im vorliegenden autobiografisch-belletristischen bericht will der autor diese parteinahme für die nazis aus seiner lebenserfahrung heraus begründen.

Heinrich hauser wanderte 1939 in die USA aus. Dort arbeitete er in verschiedenen bereichen; mit zwei aufeinanderfolgenden ehefrauen betrieb er jeweils eine farm, zunächst in south valley/roseboom (new york), dann in wittenberg (missouri). Im Jahr 1948 kehrte hauser nach deutschland zurück und wurde für wenige monate chefredakteur der gerade gegründeten zeitschrift STERN. Er konnte in der BRD an seine früheren publikumserfolge nicht mehr anknüpfen, schrieb neben erinnerungen an seine zeit als farmer am mississippi vor allem auftragswerke (meist für die industrie). Jedoch hatte hauser bis ans lebensende ideen für unterschiedlichste, meist nicht verwirklichte projekte. Vierundfünfzigjährig starb er, offenbar durch freitod.

In jüngster zeit wurden mehrere seiner bücher wiederveröffentlicht, es gab eine ausstellung seiner fotografien aus dem ruhrgebiet, einer seiner filme wurde restauriert und wird ab und zu gespielt. Es gibt eine sehr materialreiche biobibliografische dissertation. Das hier wiederveröffentlichte frühe schlüsselwerk 'Kampf.Die Geschichte einer Jugend' versteht sich als nächster schritt dieser (notwendigerweise kritischen) wiederentdeckung des menschen und des autors heinrich hauser.

Heutzutage findet sich für dieses buch öffentlich kaum mehr als der hinweis, hauser habe sich mit ihm den nazis andienen wollen. Das ist nicht ganz falsch; jedoch lädt es darüberhinaus seite für seite ein zum nachdenken über sozialpsychologische, prozeßsoziologische, mentalitätsgeschichtliche zusammenhänge jener zeit – aus einem blickwinkel, der in den bis zur ermüdung gleichlautenden zeitgeschichtlichen interpretationen der populären medien fehlt; aber es ist dezidiert kein NS-ideologischer blickwinkel. - Wer sich nur aus den zeugnissen "linker", "fortschrittlicher" und "antifaschistischer" kräfte informiert über die vorgeschichte des NS‑deutschland, wird bestimmte aspekte der sozialhistorischen realität nicht verstehen. Solche ideologisch bestimmte selektive sicht ist einer der gründe, wieso wir aus der geschichte so wenig lernen. Robert musil schrieb zu diesem thema: "Die berühmte historische Distanz besteht darin, daß von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will."

Mit einem ausführlichen nachwort des herausgebers, mondrian v. lüttichau.

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Jeannette Lander: AUS MEINEM LEBEN

Jeannette Lander (1931-2017) war Tochter eines in die USA ausgewanderten polnisch-jüdischen Ehepaars. Sie wuchs mit Englisch und Jiddisch als Muttersprachen auf. Ab 1934 lebte die Familie in einem vorwiegend von Afroamerikanern bewohnten Viertel von Atlanta (Georgia).
1960 übersiedelte Jeannette Lander nach BERLIN und studierte Anglistik und Germanistik an der Freien Universität. 1966 promovierte sie dort mit einer Arbeit über William Butler Yeats. Sie veröffentlichte von nun an als freie Schriftstellerin ausschließlich in deutscher Sprache.
Von 1984 bis 1985 hielt sie sich in Sri Lanka auf. Ab 1995 lebte Jeannette Lander im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg; ab 2007 war sie  im brandenburgischen Landkreis Havelland ansässig.

2017 erschien in Kooperation mit der Autorin eine Neuausgabe ihres ersten Romans (EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.) bei A+C online.

In den Jahren 2011-2014 arbeitete Jeannette Lander an Lebenserinnerungen, die jedoch nur in einem Privatdruck (ohne ISBN) veröffentlicht wurden. AUS MEINEM LEBEN erscheint hier erstmalig als Ausgabe mit ISBN, online und zum kostenfreien Download.

Für Jeannette Lander war Kreativität ganzheitlich und alltäglich, sie ließ sich ein auf Möglichkeiten, Phantasie und Wagnisse. Ihre Bereitschaft zu spontanen Entscheidungen führte zu einem von Umschwüngen und Wechselduschen geprägten Leben, das in ihren Erinnerungen deutlich wird.
Lander schreibt diese Erinnerungen al fresco: als hätte sich alles vor kürzester Zeit zugetragen, als säße sie neben uns und erzählte, wie es in ihr aufsteigt. Manche Einzelheiten wären an sich belanglos – hier aber tragen sie bei zur Färbung, zur Atmosphäre, zur mitmenschlichen Nähe, die sich einstellt bei Lesen. Aber auch Momente der Persönlichkeit, der Lebenshaltung Jeannette Landers lassen sich ahnen. Oft liegt der Sinn (die Botschaft) einer Anekdote ganz in Zwischentönen, die leicht überlesen werden können in ihrem locker-anekdotischen Erzählen. Noch beim mehrfachen Lesen zeigen sich in diesen redlichen, genauen, aber zugleich locker skizzierten Erinnerungen Momente, die zu Motiven ihres Werks geworden sind.

Die Unverblümtheit, mit der Jeannette Lander in diesen Erinnerungen, mit über 80 Jahren, von ihrem Lebensweg auch anhand deprimierender Alltagserfahrungen und persönlichster, ja intimer Empfindungen und angreifbarer eigener Verhaltensweisen berichtet, lese ich nicht zuletzt als Manifest ihrer letztlichen Befreiung aus dem Prokrustesbett der gesellschaftlichen Konventionen darüber, was "man" (d.h. vielmehr: "frau"!) zu tun hat, um anerkannt zu sein. – "Das Private ist politisch!" war ein Blickwinkel, der vor allem durch die Frauenbewegung ab 1970 profiliert wurde und zweifellos auch Jeannette Landers politische Bewußtheit bestimmte.

Ein Lebensthema Jeannette Landers ist das Bemühen, das von Verdrängung und Vorurteil geprägte Verhältnis von "Opferjuden" und "Täterdeutschen" zu durchdenken. Vorschnelles Zuordnen von Schuldigen und Unschuldigen verweigert sie auch bei partnerschaftlichen Konflikten oder im Hinblick auf die bürgerkriegsähnlichen Umstände auf Sri Lanka.
Eine "Ethik der Analogie" wird Landers Arbeiten in dem hier im Anhang dokumentierten Aufsatz der Germanistin Katja Schubert zugeschrieben: gewaltförmiges Denken und Verhalten gehört zu uns Menschen, ist nicht beschränkt auf einzelne Gruppen oder Personen. Davon sollten wir ausgehen, um die Arroganz der Macht vielleicht zunehmend als solche ethisch zu diskreditieren, jenseits der Ideologien, mit denen sie sich jeweils verbrämt. Die Chancen menschenwürdigeren Verhaltens innerhalb oder am Rande solcher Gewaltzusammenhänge sind jeweils zu gewichten, zu stärken.

Neben allem anderen vermitteln Landers Erinnerungen nachdrückliche Einblicke in das Funktionieren der "Kulturindustrie" nach 1945, in das anscheinend selbstverständliche Zusammenspiel von Autor*innen, Institutionen, Verlagen, Finanzierungsmöglichkeiten, Medien und Leser*/Käufer*innen.

Die Lebenserinnerungen werden ergänzt durch zwei tiefgründige Veröffentlichungen zu Jeannette Lander: ein Interview mit der Autorin (Marjanne Goozé/Martin Kagel 1999) sowie einen Aufsatz von Katja Schubert (2012). Daneben wird eine Rezension Landers zu Doris Lessings Romanzylus KINDER DER GEWALT (in EMMA 1984) dokumentiert.

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Jeannette Lander: EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.

Georgia, USA, 1944/45. – Jeannette Landers erster Roman bewahrt Momente einer Lebenswelt, die bald darauf verlorenging im zunehmend aggressiven Kampf der farbigen Amerikaner um ihre Bürgerrechte und gegen die traditionelle, strukturelle Gewalt der Weißen. Das Buch handelt von einer wohl seltenen lokalen Konstellation in den Südstaaten der USA, in der Fremdenfeindlichkeit, Rassismus sich aufzulösen schien, in der eine Heilung der babylonische Sprachzersplitterung vorstellbar schien. Aber es war nur eine dünne, wenig tragfähige Schicht Humanität über der Gewalt, dem Rassenhaß, der vorteilsbedachten gegenseitigen Ausgrenzung – auf seiten der Weißen wie der Schwarzen.

Erzählt wird durchgängig aus dem kognitiven und affektiven Blickwinkel der vierzehnjährigen Itke. Die drei Lebenskreise ihrer Kindheit, "der jiddischamerikanische, der schwarzafrikanische und der weißprotestantische", nicht zuletzt die Sprachwelten verdichten sich zu vielfältig-schamanischen Bedeutungszusammenhängen, einer Alchimie der Erfahrungen. Zwei Schwerpunkte hat diese Kindheit (im wesentlichen zweifellos diejenige der Autorin): die Sehnsucht all dieser Menschen nach einem einfachen Leben miteinander, nach Frieden und mitmenschlicher Wärme, – und andererseits die Auswirkungen einer Welt der Jim Crow-Gesetze, der Rassentrennung: Mißachtung, Gewalt, Mißtrauen, Demütigung, Resignation, hilfloses situatives Aufbegehren. Daneben die informellen Hierarchien: zwischen helleren und dunkleren Farbigen, besser und schlechter Ausgebildeten; es gibt die Verordnungen einer indolent-menschenverachtenden Bürokratie, dann das lokale Establishment der Weißen, davon abgegrenzt die armen Weißen, und nochmal darunter die Juden (also auch Itkes Elternhaus), mit denen zumindest bestimmte angloamerikanische Weiße sich nicht abgeben mögen. Doch auch zwischen Diaspora-Juden und in Amerika geborenen bestehen hierarchische Abgrenzungen. Dazu kommen Warenbeschränkungen und andere Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs. Es gibt rituelle jüdische Vorschriften, die jedoch nur sehr flexibel eingehalten werden. Und das geschäftsbedingte Taktieren beim Vater, dem "karitativen Kaufmann" mit seiner "brüchigen Humanität". Dann das ganz Fremde der Farbigen: die gnadenlose Armseligkeit vieler, die Ekstase ihrer Gottesdienste, ihrer Tänze, Hoodoo Rituale. Hilflose Wut flackert auf zwischen einzelnen Menschen. Ahnungen von politischer, struktureller, traditioneller – ungreifbarer – Ungerechtigkeit und Gewalt. Und Sex – für manche AfroamerikanerInnen einzige Möglichkeit, selbstbestimmte Lebendigkeit zu entfalten; wodurch sie Weiße faszinieren und ihnen gelegentlich zum Vorbild werden. Basso continuo zu alldem ist die archaische, grell-heiße, üppige Natur des Südens.

In der Sprache dieses Romans kobolzt die kindliche Freude, Varianten, Assoziationen, Alliterationen und Neologismen auszuprobieren.Regeln zu Syntax, Zeitenfolge und Zeichensetzung haben nur periphere Bedeutung. Darin liegt die für Itke (das Kind) zweifellos vor allem kreative sprachliche Vielstimmigkeit, das teils regelhafte, teils spontan-zufällige soziale Durcheinander ihrer heimatlichen Szenerie: es sind Sprachbilder, nicht zuletzt Sprachwelten. Manche Szenen erinnern (mich) an James Joyce, an surrealistische oder dadaistische Kurzfilme, in anderen zerreißt jedes soziale Miteinander, brutal zeigt sich die Realität menschlicher Entfremdung und läßt uns hilflos am Rand des Textes zurück. Itkes polnisch-jiddische Eltern läßt die Autorin jiddisch reden – auch mit den afroamerikanischen KundInnen, deren Slang verblüffend authentisch ins Deutsche übertragen wurde.

Ein Sommer in der Woche der Itke K. erschien 1971 bzw. 1974. Diese erste Neuausgabe entstand in Kooperation mit der Autorin. Bestandteil der Wiederveröffentlichung ist die Audio-Datei ihrer Lesung aus dem Buch (siehe hier unterhalb).

2023 erschienen bei A+C als Erstausgabe Jeannette Landers Erinnerungen: "Aus meinem Leben" - Hier !

Jeannette Lander starb am 20. Juni 2017.

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Jeannette Lander • Lesung aus
EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.

Jo Imog: DIE WURLIBLUME

Die Erzählerin, ein etwa 12jähriges Mädchen, lebt in einem Dorf am See, im bayrischen Voralpenland, in einem einigermaßen dysfunktionalen Elternhaus. Zuwendung erfährt sie fast nur in Form unterschiedlicher Grenzüberschreitungen und sexualisierter Gewalt. Immerhin Momente dieser verstörenden, traumatischen Entwicklungsbedingungen scheint sie in Form von phantastischen Inszenierungen und Racheaktionen zu verarbeiten. Eine unbändige "polymorph perverse" Wut richtet die Protagonistin auf alles, was ihr als Opfer unter die Hände kommt: Gegenstände, Ameisen, Schnecken, gelegentlich auch Menschen. Im Morast dieser großangelegten Opfer-Täter-Umkehr entfaltet sich aber zugleich die kreative Lebenszugewandtheit des Mädchens – das ist das schauerlich Wundersame dieses zweifellos autobiografisch fundierten Romans.Nahezu Satz für Satz sind zerstörerische und lebenszugewandte Impulse verbunden. Momente ihrer spröden Liebesfähigkeit richten sich allerdings zumeist nur auf die erwachsene lesbische Freundin, Ersatzmutter und Verbündete Wurio.

Die Wurliblume erkundet und genießt das Leben – abgesehen von all den zwiespältigen sexuellen Erfahrungen – vorrangig in seinem Zusammenhang mit Zerstörung und Tod, in Stinkendem und Verwestem, im Gegenständlichen. Sie befördert Kleintiere vom Leben in den Tod, sammelt Dinge, erprobt ihre Eigenschaften … Ihre vibrierende affektive Besetzung bei all dem ist offensichtlich, Empfindungen wie Mitleid (gegenüber gequälten und getöteten Kleintieren) fehlt gänzlich.

Aber es gibt auch anderes. Sie begegnet einem Kätzchen, mit dem sie Freundschaft schließt, und einmal wollte auch dieses Mädchen ein Leben retten: einen Igel, der sich das Bein gebrochen hatte. Er starb dennoch; jetzt gehört er zu ihren tot lebenden "niemals langweiligen, immer unvollständigen Schätzen". Abseits einer seltsamen Orgie von Erwachsenen tröstet die Wurliblume eine phantasierte Entenfrau, sodaß "sie nicht mehr traurig ist, weil sie mir glaubt, wenn ich sage, daß sie schön ist". Sie spielt mit Hühnern ("Ihre Federn sind schneeweiß") und die Volkslieder, die manchmal in der Familie gesungen werden, bedeuten ihr etwas; wenn nur die Mutter singen und die Texte behalten würde! Viel Lebendigkeit liegt in ihrer Sprachphantasie, in lautmalerischen Wortklumpen und Neologismen, nicht zuletzt den dialektalen Momenten; die barocke Blumigkeit der bairischen Schimpfwörter zieht sich durch das Buch; Abzählreime, Volks- und Kirchenlieder klingen an, Duette mit Vogelstimmen entstehen...

Weg von der familiären Umgebung, zu Besuch beim Onkel, entdeckt sie ein Storchennest und winkt aus dem Auto anderen Kindern. In etlichen Momenten wird die tiefe Sehnsucht dieses Mädchens nach – ja, wonach? nach dem Gegenteil von Oberflächlichkeit, Verlogenheit, Egoismus deutlich. Aber sie hat ja selbst kaum anderes gelernt in ihrem jungen Leben. Immerhin schreibt sie Erfahrungen und Empfindungen in ein verschlossenes, verstecktes Tagebuch, kompliziert verschlüsselt gegen die feindliche Welt. Manchmal hat die Wurliblume einfach Angst, – auch "Angst vor Mutti". Manchmal gehen Alpträume und Realität ineinander über. Aber sie kämpft weiter um ihr weitestmöglich autonomes Leben.

Es ist Sándor Ferenczis "Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind", der wir in dieser Geschichte zuschauen. Die Protagonistin kriegt alles mit, ist teilweise beteiligt – und versteht doch nicht, worum es diesen Erwachsenen geht. Ihre sadistischen Impulse haben eher mit trotzig-verbissenem Erkunden der Welt zu tun, andererseits mit dem kompensatorischen Ausagieren realer (sexualisierter) Gewalt – manchmal in der Hoffnung, es würde doch sowas wie Zuwendung daraus.

Nur selten wurde Sigmund Freuds Begriff von der "polymorph-perversen" Lebendigkeit nachvollziehbarer dargestellt in einem literarischen Text. Bei Freud geht es ebensowenig einseitig um Sexualität im engeren Sinn wie bei der Wurliblume. Die Kreativität des Mädchens entfaltet sich in sämtlichen Sinnen: Gerüchen und Geschmacksmomenten, taktiler Beschaffenheit, Hitze und Kälte, Blumenzartheit, Gefühlen, Farben und Empfindungen, Hitze und Kälte, in den körperlichen, auch sexuellen Selbsterfahrungen. –

Es gehört zum kleinen Einmaleins der Psychotraumatologie: Ein Mensch in unausweichlichen und unerträglichen Lebensbedingungen, der diese psychisch nicht verarbeiten kann, hat nur drei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: mit Flucht, Kampf oder Unterwerfung. Dies gilt umso mehr bei Kindern bei krass unangemessenen, zerstörerischen Sozialisationsumständen. Ihnen bleibt im allgemeinen nur die dritte Variante; sie unterwerfen sich den Erwachsenen (wobei es sich zumeist um Bezugspersonen handelt, von denen die Kinder sich auch aus entwicklungsbedingten Gründen nicht distanzieren können); ihre seelische Entwicklung erleidet tiefgreifende Schäden. – Unsere Wurliblume jedoch kämpft! So selten das ist: es kommt vor und ist auch von anderen Überlebenden von Entwicklungstraumata dokumentiert. Seelische Verletzungen können dennoch nicht ausbleiben und führen bei unserer Protagonistin zu den im Buch geschilderten krassen Einseitigkeiten, zu Haß und Rachegefühlen, eigener Verlogenheit (die einzige Form, in der sie unter den gegebenen Umständen ihre Intelligenz einsetzen kann, um sich zu schützen) und Mord – als letzter Möglichkeit, Momente einer als unerträglich empfundenen Erfahrung zu zerstören. Vieles davon blieb vermutlich Phantasie; verwirklicht wurde es dennoch: durch das Schreiben des Buches. Real ist aber zweifellos das Leid eines Mädchens – der Autorin – aufgrund von unangemessenen, lieblosen und gewalttätigen Sozalisationsbedingungen.

Dieses Mädchen ist Opfer, aber zum Opfer ist sie nicht geboren ; vermutlich rührt auch daher unsere Solidarität über alle Entsetzlichkeiten hinweg.

Deswegen auch kann sie zur Täterin werden. Dieses Buch ist die grandioseste Rache sexuell traumatisierter Kinder und Jugendlicher an der Erwachsenenwelt, in der bekanntlich gerade sexualisierte Gewalt normal ist. Rache ist keine Lösung, nein, aber was erwarten wir von einer kindlichen Überlebenden? Daß sie sich in ihr Leid verkriecht, ihr Leben zerstört, weil es ihr zerstört wurde? Um Hilfe bittet – aber wen?

Auch ihre Empfindungen und Verhaltensweisen sind natürliche, also letztlich gesunde Reaktionen auf ungesunde (traumatisierende) Lebensumstände: orientiert an der Selbststabilisierung des psycho-physischen Systems. Dieses Mädchen fühlt sich im Krieg, das ist sicher nicht weniger angemessen, als sich zum hilflosen Opfer machen zu lassen.

Es gibt (auch hierzulande) viele Tausende Kinder und Jugendliche, die vergleichbaren traumatischen Zerstörungen durch die soziale Umwelt ausgesetzt sind. Zweifellos finden die allermeisten von ihnen andere Kompensations- und Überlebenswege. Meist entwickeln sie ein Selbstbild als Opfer, werden prostituiert, unterwerfen sich gewalttätigen Partnern, sie fliehen in Drogenwelten, bleiben in Persönlichkeitsstörungen oder psychischen Krankheiten stecken oder werden ggf. selbst TäterInnen. Angemessene, nachhaltige Unterstützung finden die wenigsten.

DIE WURLIBLUME ist traumapsychologische Fallstudie, aber nicht nur. Uta Haaks Vermächtnis ist nichts weniger als halbbewußtes Ausagieren kindlicher Traumatisierungen; die rasante Szenenfolge ist von Anfang bis Ende durchkomponiert, hat weder Längen noch Redundanzen, keine überflüssigen Adjektive, jedes Wort ist sinnlich aufgeladen; – in seiner kompromißlosen Poesie ist es große Literatur!

DIE WURLIBLUME erschien 1969 im Gala Verlag Hamburg. 1973 erschienen englische und niederländische Ausgaben des Buches. Die Autorin, Uta Haak, lebte auf Ibiza (Spanien), arbeitete unter dem Namen Ute Schroeder als bildende Künstlerin. (1997 waren ihre Environments bei der Biennale d’art contemporain de Lyon vertreten.) Sie starb im Februar 2014.

(Aus dem Vorwort der Neuausgabe)

Achtung: Das Buch enthält Schilderungen sexualisierter Gewalt! Sie können triggern!

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Jürgen Haug: KELLERASSEL

"Ich möcht nur wissen, warum du immer den Außenseiter spielen willst?!" - Das bekommt jörg, geboren 1943, schon als jugendlicher von der mutter zu hören. Bereits im ersten kapitel (da ist er zwölf) ahnen wir seine homosexualität.

Im mittelpunkt steht zunächst der sozialisationsdruck, der männlichen jugendlichen in der BRD der 50er- und 60erjahre nur zwei möglichkeiten einer sexuellen identität ließ: entweder ganz und gar einzusteigen in die heterosexuelle rolle des "richtigen mannes", mit all ihren banalitäten, gemeinheiten, ihrer fast schon ritualisierten beziehungslosigkeit, ihren blöden und bösen witzen, den entsprechenden vorbildern von älteren und aus den medien, - oder aber gnadenlos in die diskriminierend gemeinte schublade des "schwuli" gesteckt zu werden.

Deutlich präsentiert uns der autor die teilweise pogromhafte gewalt etablierter rollenmuster und anderer gesellschaftlicher kriterien, zwischen denen menschen, die ihnen nicht entsprechen, bereits in der kindheit von gleichaltrigen hin- und hergetrieben werden. Einer unter erwachsenen (hierzulande, heutzutage) subtileren latenten pogromstimmung (im "freundeskreis", im arbeitsleben) sind diejenigen ausgesetzt, die "sich nicht anpassen" an soziale normen, die es wagen, "außenseiter" nicht nur zu sein, sondern auf ihrem recht beharren, zu leben, wie sie es für richtig halten (ohne andere zu beeinträchtigen).

Auch bei ich-synton schwulen männern bleibt die seit der kindheit anerzogene diskriminierung von homosexualität noch lange zeit bestehen, das grundlegende bedürfnis nach sozialer zugehörigkeit sowieso. Deshalb wird mitgemacht beim alltäglichen small talk; (hetero-)sexuelle anspielungen, empfindungen und begegnungen werden inszeniert, über schwulenwitze wird mitgelacht, frauenfeindliche sprüche sollen die eigene "männlichkeit" dokumentieren. Tödlicher, lähmender Defaitismus! – schrieb eine freundin bei einer entsprechenden stelle in mein exemplar des buches. Die angst vor sozialer ausgrenzung hat sich oft verselbständigt und führt zu anpassung auch in belanglosigkeiten. Das alles verstärkt selbstverachtung und Falsches Selbst sowie die fixierung auf den platt-sexuellen aspekt des schwulseins. Der schritt in eine schwule (oder lesbische) subkultur – die es in den 70er jahren erst ansatzweise gab – hat aspekte von flucht, von schutz ebenso wie von befreiung.

Tarnen und Täuschen ist zu jener zeit das grundprinzip schwulen lebens in der normalität; das coming out bleibt verstrickt in rhetorische versuchsballons, taktische erwägungen und lügen. Schwule anmache ist genauso banal wie heterosexuelle anmache. Nur verzweifelter und deprimierender, – und immer verbunden mit der angst vor sozialer ablehnung (und schlimmerem), sofern das gegenüber keine szenetypischen signale gibt. Und daneben immer das gequatsche der anderen, der normalen.

Das coming out ist keine einmalige entscheidung, sondern muß für jede soziale situation, oft für jeden vertrauten menschen einzeln durchgestanden werden, - jedesmal mit unterschiedlichen argumenten, empfindungen (auf beiden seiten) und unterschiedlichen gefahren, abgelehnt zu werden. 'Kellerassel' ist neben allem anderen eine sozialpsychologische studie zur kommunikation unter schwulen jungen männern (zu jener zeit), - zugleich liest sich das buch (das aus einem hörspiel entstanden ist) wie ein film, spannungsvoll, atemlos und soghaft präsent; – wie schade, daß bislang kein regisseur es entdeckt hat!

Letztlich geht es jedoch um mehr, - um die soziale, gesellschaftliche "normalität", erfahren aus dem blickwinkel des "außenseiters".

Jürgen haugs figuren haben allesamt nahezu keine individuelle lebensperspektive, sie spüren kaum intentionen in sich außer den anforderungen vorgegebener sozialer rollen und ziele entweder zu ent- oder zu widersprechen; – das ganze leben wird ihnen zur "gewohnheitssache". Sie sind "ganz normal" – auch und gerade der schwule (unfreiwillige) "außenseiter" jörg. So ein leben hat seinen preis. Es stabilisiert sich über alltägliche trägheit des herzens, unsensible grenzüberschreitung und oberflächlichkeit im umgang der menschen miteinander, über lebenslügen, selbstbetrug, rationalisierungen. Durch "normale" suchtformen (zigaretten, kino, alkohol, sex, konsum, karriere) oder illegale drogen, durch die assoziationsreflexe des small talk nur notdürftig kaschierte innere und äußere leere und beliebigkeit des alltagslebens gehören zu diesem teufelskreis der entfremdung. Weil individuelle ressourcen für situationen ohne eindeutige konsensuelle empfindungs- und verhaltensvorgaben kaum zur verfügung stehen, wird dann in reflexhafter selbstverständlichkeit gelogen. In verhängnisvoller solidarität werden verletzende, unsoziale verhaltensweisen aneinander hingenommen, mitmenschliche ansprüche senken sich zunehmend. Noch das ehrlichste ist (manchmal) eine ahnung, daß irgendwas daran nicht stimmt.

Auf grundlage des Falschen Selbst (winnicott) können nur falsche, unechte begegnungen und beziehungen entstehen. Es sind nichtbeziehungen, leer wie in theaterstücken samuel becketts, wie bilder von edward hopper. Jürgen haug verdeutlicht gestörte, unwürdige zwischenmenschliche kontakte als normalität; – und nicht selten bricht sich die hilflose sehnsucht nach authentischen begegnungen bahn in lächerlichmachen, selbsthaß und gegenseitiger verachtung. – Auf einer anderen ebene liegt pure gewalt, der in besonderem maße menschen ausgeliefert sind, die auf solidarität und hilfe ihrer mitmenschen kaum hoffen können, weil sie "anders" zu sein scheinen. Vor allem in kindheit und jugend haben entsprechende erfahrungen mit gleichaltrigen nicht selten traumatisierendes gewicht und führen im weiteren leben zu sozialem rückzug, alpträumen und depressiver grundstimmung. Das vorliegende buch macht eine derartige kontinuität nachvollziehbar.

Jürgen lothar harald haug wurde 1940 geboren. 1962 begann er, sich in der BRD als hörspielautor zu etablieren. 1975 erschien seine dokumentation 'Aufzeichnungen aus einer Wandererherberge'. (Auch sie wurde bei AUTONOMIE UND CHAOS BERLIN wiederveröffentlicht.)Das vorliegende buch erschien 1981. Trotz einiger wohlwollender, sogar begeisterter rezensionen fanden beide werke keine nachhaltige öffentliche aufmerksamkeit. – Jürgen haug starb am 2. juli 2012.

(Aus dem nachwort von mondrian v. lüttichau)

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Kurt Münzer: DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN

EIN ENTWICKLUNGSROMAN

DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN ist ein Buch über die Liebe… dieses ewige Menschheitsthema. Aber was ist "Liebe"? Es gibt in diesem Entwicklungsroman die Mutterliebe (als Liebe der Mutter wie der Liebe zur Mutter), die Liebe als Suche nach Bindung, Geborgenheit, sozialer Versorgung, die Liebe als Synonym für Sexualität, es gibt homosexuelle Liebe und Liebe als Sehnsucht, Traum und Utopie, als Moment von Selbsterfahrung bis hin zu (weiblicher) Emanzipation und poetischer Tiefe, es gibt die rigide Trennung zwischen "reiner Liebe" und "Kampf der Geschlechter" oder spirituell anmutende Inszenierungen und es gibt eine (mehr oder weniger ehrliche) kameradschaftliche Liebe in Erkenntnis der eigenen begrenzte Liebes- und Beziehungsfähigkeit. Die konventionell-ideologischen Geschlechtsrollen geistern durch die Begegnungen und Beziehungen – jedoch nicht als starre Stereotype, sondern amalgamiert mit individuellen Bedürfnissen und Lebenserfahrungen. – Kolportage (was Münzers Werk oft vorgeworfen wurde) ist eher die Flut heutiger Romane und Spielfilme, bei denen in immer neuen Varianten die immergleiche dichotomische Konzeption von (romantischer) "Liebe" versus "Sex" exerziert wird.

Nicht zuletzt stellt der Autor in diesem 1914 veröffentlichten Roman für seinen männlichen Protagonisten eine Form sozialen Leids dar, das üblicherweise einseitig Frauen zugeordnet wird: "Für sie[die Frauen] war er nichts als schön: Gegenstand ihrer Sehnsucht und Befriedigung. Seine Existenz bedeutete, daß man Forderungen an ihn stellte, und verpflichtete ihn, sie zu erfüllen. All das empfand Lucian wohl und empfand es als Schimpf, allen nur als Symbol von Mannesschönheit und Mannestum zu gelten." – Daß auch Männer darunter leiden können, ist – unter richtigen Männern – bis heute Tabuthema.

Kurt Münzers Texte erzählen meist von Menschen, die durch ihre individuellen seelischen Verwundungen hindurch ein ihnen selbst einigermaßen angemessenes Leben suchen, manchmal finden. Dabei werden auch seelische Verkrüppelungen, Einseitígkeiten, neurotische Verhärtungen zum Material dieser individuellen Lebensweisen. – So ist es auch in dem Märchen, der Parabel vom Ladenprinzen. Dies gilt nicht nur für den Protagonisten Lucian Flamm, sondern auch für die meisten anderen relevanten Figuren; daß dies alles Frauen sind, ist kaum Zufall. Auch bei ihnen (deren Lebensdynamik jeweils nur angedeutet wird) geht es um problematische Konstellationen, die für sie jedoch Wahrheit sind, in der ihr subjektiver Lebenssinn sich ausspricht. Solche ganz und gar subjektiven Wahrheiten stellt Kurt Münzer uns vor; darin liegt meines Erachtens das Kostbare vieler seiner Werke.

DAS MÄRCHEN VOM LADENPRINZEN (erschienen 1914) haben vermutlich viele Menschen nicht gemocht – weil sie die Handlung nicht verstehen (oder nur mißverstehen) konnten in seiner subtilen Darstellung seelischer Haltungen und Empfindungen, für die es zu jener Zeit noch keine Alltagssprache gab. Allenfalls tiefenpsychologisch orientiertes Problembewußtsein hätte hierfür Ansätze geboten; aber selbst die damalige Psychoanalyse verstand z.B. Homosexualität als krankheitswertige Störung. – Heutzutage, im Zeichen der Genderdiskussionen und nachdem "divers" zur amtlichen Kategorie geworden ist, dürften schrittweise neue Momente beziehungsmäßiger Realität Thema von Reflexion und künstlerischer Darstellung werden; und vielleicht wird einmal auch Kurt Münzer als einer der Vorläufer dieser Regenbogen-Menschlichkeit erkannt werden!

Lucian Flamms Interesse an (hetero-)sexuellen Kontakten scheint eher Moment gesellschaftlicher Sozialisation zu sein: um "seine Schuldigkeit als Mann zu tun"; woanders: "(…) nicht aus Lust am Ende, sondern um sich und anderen sein Mannestum zu beweisen."Diese Leistung vollzieht er in zunehmend virtuoser Weise, begünstigt durch seine leibliche "Schönheit", die ihm das Begehren der Frauen einträgt. Seine anhaltende Entfremdung (?) – Empfindungslosigkeit (?) –Blockiertheit (?) im Bereich der Sexualität wird zum Spiegel etlicher Varianten des Umgangs mit "Liebe"/Sexualität bei den jeweiligen Partnerinnen. – Jedoch steht im Mittelpunkt des Romans Lucian Flamms Leid an seiner eigenen Isolation vom Leben.

Diese siebte Kurt Münzer-Wiederveröffentlichung bei A+C enthält ein ausführliches biobibliographischen Nachwort: "Mutmaßungen über Kurt Münzer und Lucian Flamm".

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LEBEN IN MOLL - Marys Geschichte

Marys lakonischer Bericht über ihre schlimme Kindheit, kursierte in den Jahren ab 2000 im Netz. Vor allem Traumaüberlebende haben ihn weiterverbreitet, manchmal ausgedruckt. – Am Anfang einer Lebenskatastrophe stehen oft, wie bei Mary, familiäre Umstände, an denen niemand schuld hat. Eine Mutter stirbt. Der Vater steht alleine da mit den Kindern; die Stabilität seines Lebens ist zerstört. Sowas ist "normal"; abgesehen von administrativ vorgegebenen (finanziellen) Hilfen muß mit so einem Schicksalsschlag jeder allein fertigwerden. Marys Vater ist überfordet; Schritt für Schritt bricht seine Persönlichkeit auseinander: Alkohol schläfert das Bewußtsein seines Versagens ein, krasser Eigennutz breitet sich aus. – Auf der anderen Seite stehen Jugendämter und Kinderheime, die zweifellos "ihre Pflicht erfüllen"… aber auch nicht mehr als das tun, was ihnen gesetzlich vorgeschrieben ist. – Der dritte Faktor sind potentielle Pflegeeltern, die aus durchaus unterschiedlichen Gründen Kinder annehmen wollen...

So geht es weiter, Schritt für Schritt verlieren Kinder aus solchen Lebensumständen ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft, fühlen sich nur als Objekte unvorhersehbarer Mächte. Sie lernen, unter diesen Umständen – oft ohne auch nur eine Vorstellung von Geborgenheit, Zuwendung, Nähe – immerhin zu überleben.

Das reicht schon, um Menschen für ihr ganzes Leben irreparabel zu schädigen. Kinder aus solchen Sozialisationsbedingungen haben nicht gelernt, sich abzugrenzen – oder auch nur die Legitimität der persönlichen Abgrenzung zu spüren. Im allgemeinen gehen sie davon aus, daß sie "selbst schuld" sind, wenn ihnen von anderen Leid zugefügt wird. Oft mußten sie in der Kindheit lernen, schlimme Erfahrungen aus dem Bewußtsein abzuspalten (Dissoziation); so erkennen sie auch im späteren Leben gar nicht, wenn andere sich ihnen gegenüber menschenverachtend verhalten. Sie werden leicht zu hilflosen Opfern aller Formen von sexualisierter Gewalt.

Bis heute habe ich kaum andere Texte gefunden, die uns so hautnah die gnadenlose Hilflosigkeit, die Ausgesetztheit eines solchen Kindes (und seiner Geschwister) vermitteln könnten. Mary hat ihren Bericht für viele andere kindliche Opfer und erwachsene Überlebende geschrieben. Und er kann Mut machen.

(Nachwort)

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Margarete Hannsmann: DREI TAGE IN C.

Neben einem ersten Gedichtbändchen ist der kleine Roman DREI TAGE IN C. (1965) Margarete Hannsmanns erste selbständige Veröffentlichung. Die Autorin (1921–2007) verstand sich lebenslang als Dichterin, Gedichtbände nehmen den größten Raum ihrer Veröffentlichungen ein. Ihre (autobiographisch begründeten) Prosaarbeiten gelten offenbar noch immer eher als Nebenprodukte. Jetzt, nach ihrem Tod, mit dem Überblick über Leben und Werk, wäre es angemessen, sie auch als Prosaautorin zu entdecken. DREI TAGE IN C. ist einer der ersten frühen schriftstellerischen Versuche einer persönlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.

Gegenüber dem späteren vielfältigen Werk Margarete Hannsmanns bedeutet dieser Roman etwas Singuläres: es ist einfache erzählende Prosa – aber Prosa einer Dichterin! Das lebt in Bildern, Assoziationen, Zusammenklängen, Dissonanzen, in Rhythmen und Brüchen, theatergerechten Szenen, innerem Monolog und Gesprächen mit den interessierten oder gelangweilten Kindern, – aufgeregt und nachdenklich in eins. Wortselig, oft wie skizziert oder aquarelliert verbindet die Autorin Bilder zu Collagen, schieben sich Assoziationen ineinander oder stehen dissonant gegeneinander; der gesamte Text ließe sich rezitieren, deklamieren, als Theaterstück aufführen. Dieser berichtende, erinnernde, erzählende, manchmal pathetische, assoziierende, über die Ufer tretende Text umspannt in Schichten und Blickwinkeln, die einander Satz für Satz durchdringen, fünfzig Jahre deutscher Geschichte, vom ersten Weltkrieg bis nach dem Mauerbau: wehmütig, dissonant, hautnah und ungreifbar. Letztlich gilt dies für Margaretes Lebenswerk insgesamt.

Die lebenslange Aufarbeitung der eigenen NS-Sozialisation, des ambivalenten Verhältnisses zum Elternhaus sowie der NS-Zeit insgesamt sollte ein roter Faden auch der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit HAP Grieshaber werden. Zu ihrer Konsequenz wurde Margaretes unermüdliches praktisches, poetisches, publizistisches Engagement für Menschenrechte, Demokratie, gegen Gewalt und Umweltzerstörung. Gerade die nichtmenschliche Umwelt, die sogenannte Natur war von Kindheit an existentieller Lebensraum der Autorin – und wurde wohl, noch vor der Literatur, zum bedeutsamsten Heilmittel gegen die ideologische Zerstörung des NS; auch dies wird deutlich in DREI TAGE IN C.

Diese Ausgabe bei A+C ist seit Jahrzehnten die erste Wiederveröffentlichung eines Buches von Margarete Hannsmann. Sie erscheint aus Anlaß ihres hundertsten Geburtstags am 10. Februar 2021.(Siehe auch einen Hinweis des STUTTGARTER SCHRIFTSTELLERHAUSES.)

Ein biobibliografischer Anhang enthält neben einem Nachwort des Herausgebers (MvL) zwei Schulaufsätze von 1935 und 1936 sowie das Langgedicht "Ballade von der Kindheit". Es folgen Auszüge aus Briefen an mich (MvL). – In den Auszügen aus einem Radiogespräch mit Franz Fühmann (1980) stellt Margarete Hannsmann wesentliche Aspekte ihres Lebensweges aus einem für ihre schriftlichen Äußerungen ungewöhnlichen Blickwinkel dar. Am Schluß des Anhangs steht eine Gesamtbibliographie der veröffentlichten Arbeiten Margarete Hannsmanns.

2001 schrieb sie über ihr Erwachsenenleben:

"Fronttheater am Atlantikwall, Kinder geboren unterm Bombenhagel, Ziel für MG- und Granatwerferfeuer, mit dem Sarg des Vaters auf einem Lastwagen, Totenwache beim Ehemann, die Familie ernährt durch Verkauf von ausgestopften Füchsen, Kehlköpfen in Spiritus, Menschenskeletten, nichts als Literatur im Sinn, während die Gruppe 47 florierte und meine Generation, ihre Reste, den Kahlschlag verkündete, bis die Nachgeborenen andere Gedichte, Romane, Hörspiele schrieben. Ich war siebenunddreißig, als sich der Würgegriff lockerte, als das Leben mir Luft ließ zu fragen, was denn sein Sinn sei: mein erstes Gedicht.
Seit 1964 erscheinen 23 Lyrikbände, etliche Hörspiele, fünf biographische Zeitromane. Vierzig Lebensläufe geschrieben. Makulatur von Jahr zu Jahr. Entscheidende Impulse durch Griechenland. Mühsames Begreifen, daß jedem Aufstieg ein Fall, jedem Fall ein neuer Aufstieg folgt, jeder These eine Antithese, daß für Einzelgänger in freier Wildbahn der Weg zur Synthese durchs Labyrinth führt. Das Wolfsgesetz Entweder – Oder eintauschen dgegen das Sowohl: Als auch. Gelernt, daß man sich ducken muß unterm Hieb der Dialektik, bis man sich selbst als Paradoxon erkennt: als introvertierte Extrovertierte, die Lebenswegen von ebensolchen Künstlern gekreuzt hat. (Unangenehmes Elixier: himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt.) Nachgeholt, was keine Univerisität lehren kann: Niederlagen in Siege zu verwandeln, Siege in Niederlagen.
Ein halbes Jahrhundert Engagement durch das Wort. Scham, daß die Taten nachhinken. Zu viele Lebenspartikel in die Kunst gebracht, als Chauffeur und Gefährtin HAP Grieshabers unterwegs, um für eine bessere Welt zu streiten, drei Schritte vor, zwei zurück, gegen die Unterdrückung von Minderheiten: Pflanzen, Tiere, Menschen; gegen die Zerstörung ihrer Lebensbedingungen durch Technik und Habgier, für die Erhaltung der dahinschwindenden Natur. An zu vielen Gräbern gestanden. In den Armen der Melancholie (die schöpferisch ist) Depression mit den Füßen wegtretend. Am Ende mein vielleicht schönster Gewinn: Prototyp des Jahrhunderts zu sein, dessen Bauch meine Leidenschaften beherbergt."

Nein, Margarete Hannsmann hat sich nicht vorenthalten; lebenslang hat sie sich mit Leib und Seele, Reflexion und tätigem Engagement hineingeschmissen in Situationen, Empfindungen, Überzeugungen, Beziehungen, Aufgaben, hat alles ausgelotet, ausgekostet bis zur Neige – und sich gleichwohl nicht verloren, sondern ihre Eigen-Art immer weiter geklärt. Sie ist hautnah am Leben geblieben, bis zuletzt, – zwischen meditativer Achtsamkeit und etwas tun wollen. "Was mich nicht entzündet, was nicht brannte inwendig, ist verlorengegangen.", schreibt sie in ihrem TAGEBUCH MEINES ALTERNS (1989). - Dazu eine Aufzeichnung (ARD Talkshow 1991): hier!

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Mondrian w. graf v. lüttichau: "SCHWEINISCH WIRD KRITISCH UND PHYSISCH!"

Unter den gleichaltrigen im gymnasium war ich ein außenseiter aus gründen, die ich erst viel später verstanden habe. Ich suchte – ja, was? – und fand etwas davon im kontakt mit gassenkindern (das ist schwäbisch und meint kinder, die ihre freizeit relativ selbstbestimmt 'draußen' verbringen können, ohne daß sie deshalb straßenkinder im üblichen sinn wären.)– In diesem buch versuche ich etwas von der ganz eigenen lebendigkeit zu vermitteln, die bei kindern zwischen 8 und 12lebt (der sogenannten "vorpubertät"), eine zeit, in der erwachsene ihrem seelenleben oft besonders wenig aufmerksamkeit schenken. Bei den kindern dagegen eine zeit hoher sozialer offenheit und achtsamkeit, in der sich vieles entscheidet. Bei einigen der im buch vorkommenden kinder wird seelisches leid aufgrund von dysfunktionalen elternhausbedingungen deutlich. Im mittelpunkt stehen jedoch individuelle ressourcen der kinder, die sich im allgemeinen an der erwachsenenwelt vorbei entfaltet haben.. soweit es ging. –

Im anhang eine sammlung von regeln für's gummihupfen (gummitwist); diese wurden seinerzeit nur mündlich weitergegeben unter den kindern.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: AUSSENSEITER-ALLÜREN. Anatomie einer kriegserklärung

Eine gekürzte, aber ansonsten sprachlich und inhaltlich authentische fassung meiner ersten tagebücher, als 14-18jähriger. Im mittelpunkt steht die schrittweise distanzierung und abgrenzung von den eltern – nicht vorrangig in demonstrativen kampfgebärden, vielmehr als reflexionsprozeß, bei dem in zunehmendem maße das mir eigene sich herauskristallisierte. Deutlich werden im elternhaus momente von überbehütung, beziehungsleere und parentifizierung. Nachdenken, lesen und schreiben sind die ersten alternativen, aber schon in dieser zeit zeigt sich meine suche nach authentischen begegnungen als zentrale lebensbewegung. – "Außenseiter-allüren" hatte seinerzeit meine mutter mir vorgehalten: doppelt verächtlich, indem noch nichtmal mein außenseiter-sein ernstgenommen wurde.

Der untertitel meint meinen damals bewußt werdenden widerstand gegen entfremdete (verdinglichte) zwischenmenschliche beziehungen, gegen trägheit des herzens, verlogenheit und egoismus als grundlagen der "normalität" in unserer menschenwelt.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: ERSTICKTES LEBEN

Eine sammlung von frühen gedichten und kurzgeschichten (sowie das aphoristische anáklasis-tagebuch) aus den jahren 1966-1971. Daneben enthält das buch eine sozusagen pornografische kurzgeschichte, die 30 jahre später entstand, aber meinem empfinden nach in diesen kontext gehört. (Achtung! Diese letzte geschichte kann bei überlebenden von sexueller gewalt als trigger wirken!)

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Mondrian w. graf v. lüttichau: MAUER AUS SCHWEIGEN UND MISSTRAUEN. Briefe gegen erwachsene

Briefzitate aus den jahren 1968-77machen auswirkungen sozialer verdinglichung in der konsumgesellschaft BRD auf kinder und jugendliche sinnlich nachvollziehbar. Dieses bereits 1978 entstandene manuskript wollte zusammenhänge solcher "ganz normaler" unterdrückungsformen zu haß und gewalt der damaligen stadtguerilla-scene (RAF, Bewegung 2. Juni) verdeutlichen; es widerspricht den in der medien-öffentlichkeit so beliebten ideologischen schwarz/weiß-argumenten.

Kindern und jugendlichen im heutigen deutschland geht es anders, aber kaum besser.Die mauer aus schweigen und mißtrauen zwischen den generationen ist ungebrochen; - genaues, achtsames hinschauen (mit herz und vernunft) auf die situation, das empfinden von kindern und jugendlichen ist noch immer selten. Stattdessen hat sich die "jugendhilfe"-bürokratie weiter perfektioniert; verstärkt werden neuropharmaka eingesetzt gegen schwierige kinder.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: SCHLÜSSELBLUMEN. Erinnerungen an die allererste zeit

Diese erinnerungen an meine kindheit entstanden im wesentlichen 1978. Ich hatte versucht, möglichst alles zu notieren, woran ich mich noch erinnere aus der lebenszeit, bevor ich (mit 14) tagebücher zu schreiben begonnen habe. (Die frühen tagebücher waren zu diesem zeitpunkt noch verschnürte packen von schulheften.)Jahre später wurde die erste version der erinnerungen in zusammenarbeit mit meinem bruder ergänzt. – Deutlich wird, daß ich als kind leben gelernt habe nahezu ausschließlich durch erfahrungen jenseits des elternhauses.

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Mondrian w. graf v. lüttichau: WIR INTERNATLER

Für die beiden letzten schuljahre bis zum abitur war ich im internat in heidelberg. Dort entstand rund um mein zimmer ein informelles begegnungszentrum von vorrangig jüngeren internatlern. Gespräche, musikhören, essen, malen und einfach beieinander sein waren die von der internatsleitung akzeptierten aspekte unserer "kommune" (wie das ganze genannt wurde von den beteiligten), schwule begegnungen und (moderater) alkoholkonsum die nichtakzeptierten. – Im mittelpunkt der tagebuchauszüge steht die (in ihrer vielschichtigkeit von erwachsenen meist nicht wahrgenommene) lebendigkeit 11-14jähriger jungen, aber auch die schöne und schwierige liebesbeziehung zwischen jim & mir. In diesen beiden jahren habe ich erkannt, daß männliche menschen keineswegs von natur aus unsensibler sind als weibliche; - die typische seelische abstumpfung vielleicht der meisten erwachsenen männer hat eher mit geschlechtsspezifischer sozialisation und entsprechenden umständen im arbeitsleben zu tun. Deutlich wird in den tagebüchern aber auch, wie schlimm es für die allermeisten internatler ist, in die internatserziehung abgeschoben zu werden von eltern, die offenbar wichtigeres zu tun haben..

Paul Kanut Schäfer: JADUP

... DIE HÖLLENFAHRT EINES HELDEN UNSERER TAGE, NEBST DEM KUNSTSTÜCK, SICH MIT DEM LINKEN AUGE INS RECHTE ZU BLICKEN, WOBEI AUCH DIE ÜBRIGEN SINNE NICHT ZU KURZ KOMMEN, BESONDERS DER SECHSTE

Jadup – fast ein Schlüsselroman der DDR-Gesellschaft ist das, in ihrer traditionell spießbürgerlichen Variante der Kleinstädte und Dörfer zwischen 1945 und 1970, mit ihren durch spezielle staatstragende Ideologeme entstandenen spezielle Entfremdungsformen. Es ist ein bitter humoristisches, herzzerreißendes Buch über Fremdsein, Außenseiter-Sein, über ganz normalen zwischenmenschlichen Verrat, über Vergewaltigung und Trägheit des Herzens im alltäglichen Normendruck.Subtile Momente der Dissonanz durchziehen sämtliche Szenen dieses Romans, der eigentlich eher eine Parabel ist. In ihrem versponnen-skurrilen Klang erinnert (mich) die Geschichte an E.T.A. Hoffmann. Manches kommt rüber wie ein innerer Monolog des Autors. Wie nebenbei scheinen in dieser Melange unzählige Momente der ländlichen DDR-Alltags jener Zeit auf, Kneipenkalauer, dramaturgische Kabinettstücke und DDR-hopperistische Szenerien gehen ineinander über, hintergründig irisierend zwischen realistisch und surrealistisch. Andere Formulierungen empfand ich wie ein Schattenboxen mit imaginierten Funktionären der Genehmigungsorgane. – Die vielfältige Fremdheit all dieser Versatzstücke ist eingebettet in den Anfang 1945 bis in die 60er Jahre der DDR. "Die Leute fingen an, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Wie unglaublich sie sich mühten, endlich den Zusammenhang zu begreifen zwischen ihrem täglichen Kleinkram und der großen Politik!"

Auch um das sozale und psychologische Phänonen von Gerüchten geht es und um ihre zerstörerische Wirkung sowie – nicht zuletzt – um die Vergewaltigung eines vierzehnjährigen Mädchens – und wie die Menschen in der dörflichen Kleinstadt damit umgehen.

Paul Kanut Schäfers "Jadup" gehört zweifellos zu den bedeutenden belletristischen Werken der DDR-Gesellschaft. Hier bricht soziale, gesellschaftliche Realität in großer Wahrhaftigkeit hervor. Eine seltene Schöpfung!

Schäfers lebenslange Beschäftigung mit Alexander v. Humboldt führte zur Zusammenarbeit mit dem Regisseur Rainer Simon; es entstand  - noch in der DDR - der Film DIE BESTEIGUNG DES CHIMBORAZO (1989); 1992 veröffentlichte Paul Kanut Schäfer  (1922–2016) eine umfassende Dokumentation der Reiseberichte und Tagebücher Alexander v. Humboldts (teilweise als Erstveröffentlichung):  "Die Wiederentdeckung der Neuen Welt" (1992). 

Ebenfalls mit Rainer Simon entstand 1980/81 nach dem hier wiederveröffentlichten  Roman der Film JADUP UND BOEL. Erwurde trotz Überarbeitung nach seiner Fertigstellung 1981 verboten. Dieses Verbot wurde erst 1988 aufgehoben, sodaß der Film doch noch in der DDR uraufgeführt wurde. Er kam allerdings nur mit wenigen Kopien in den Verleih, weshalb das breite Publikum kaum eine Chance hatte, ihn zu sehen.

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Rachel, Klaus, Moni, Lars, Habiba, Ben & Laura: UNSER SIEG ÜBER DIE RITUELLE GEWALT

Rachel war seit frühester kindheit RITUELLER GEWALT ausgeliefert. In den ersten lebensjahren galt sie als "geistig behindert", später wurde autismus diagnostiziert. Durch Gestützte Kommunikation (FC) wurde ab 1993 deutlich, daß sie nichts weniger als kognitiv beeinträchtigt ist. Als in rachels FC-botschaften zunehmend hinweise auf sexuelle gewalt auftauchten, wurde erst dies zum auslöser für erinnerungen von laura, ihrer mutter, an ihre eigene traumatische kindheit. Mutter und tochter waren opfer desselben germanofaschistischen kults gewesen, dem auch verwandte angehörten!

Bei rachel hatte sich eine dissoziative persönlichkeitsstruktur (multiple persönlichkeit) entwickelt. Sprechen wie selbständiges handeln ist für sie bis heute verknüpft mit verboten, schrecklichen erfahrungen und programmierungen der täter. Mithilfe der Gestützten Kommunikation haben verschiedene persönlichkeiten ihre systems seit 1993 auf weit über 1000 seiten umfassend über folterungen, demütigungen, programmierungen und sexuelle gewalt der täter berichtet. Neben den FC-dialogen mit der mutter entstanden selbstdarstellungen der innenpersönlichkeiten, gedichte. Auch an mehrere selbsthilfezeitschriften richtete rachel und ihr system auf austausch und unterstützung hoffende FC-briefe. Das stimmengewirr innerhalb der texte zeigt ein nuanciertes, aber orientierungsloses aufarbeitungs- und beziehungsbedürfnis. Diese botschaften sind ein überwältigender und erschütternder selbstheilungsversuch des multiplen systems.

Kaum je wurden die unterschiedlichen (und meist dazuhin irritierten) blickwinkel dissoziativer teilpersönlichkeiten auf die eigene traumatische lebensgeschichte sowie ihre schrittweise klärung und aufarbeitung über bald zwei jahrzehnte in einer publikation nuanciert dargestellt. Durch einen ebenfalls dokumentierten mailkontakt von 2011 wird die noch immer bestehende innere verwirrung eines multiplen systems nachvollziehbar, die schwierigkeit, etwas von dem grauenhaften konsistent und nachvollziehbar zu vermitteln, selbst wenn vertrauenswürdige bezugspersonen vorhanden sind.

Durch das hier vorliegende, in seiner vielschichtigkeit, nuanciertheit und stringenz singuläre zeugnis können wir vieles lernen über die psychodynamik von Struktureller Dissoziation (speziell bei DIS) wie über täterintrojekte und konditionierung bei Ritueller Gewalt, über die praxis von sexueller kinderversklavung (hier in deutschland!), aber auch über Gestützte Kommunikation (FC) und die gratwanderung zwischen fürsorge und selbstverantwortung bei menschen mit beeinträchtigungen, nicht zuletzt über lebenskräfte (resilienz), über die unabweisbare sehnsucht nach mitmenschlicher begegnung. - Wichtiger aber ist, daß diese dokumentation für laura, für rachel und alle persönlichkeiten ihres systems zum manifest einer grundlegenden abgrenzung wird: Das grauenhafte ist gewesen - aber es ist vorbei. Wir haben die Rituelle Gewalt nicht nur überlebt, - unsere menschlichkeit, lebenszugewandtheit und liebesfähigkeit hat gesiegt!

(Nachwort mondrian v. lüttichau)

Siehe auch die zweite Veröffentlichung von Rachel & Co.

Achtung - triggerwarnung!
Die dokumentation enthält durchgängig beschreibungen brutaler gewalt.

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Sarah gerstner & mondrian graf v. lüttichau: "WARUM IST ES SO SCHWER, GEFÜHLE ZU ZEIGEN?!"

Sarah war 1971 elf, ich (mondrian) war neunzehn. Kennengelernt hatten wir uns auf den spielplätzen der kleinen württembergischen stadt, in der wir beide lebten. Ab 1971 war ich, für die letzten beiden schuljahre bis zum abitur, in heidelberg im internat. Dorthin hat sarah mir ihre ersten briefe geschrieben. Unser briefwechsel (bis 1980) zeigt in den ersten jahren viel von sarahs empfindungen und lebensentscheidungen angesichts alterstypischer erfahrungen und probleme. Deutlich wird der soziale anpassungsdruck hin zum "nett sein", zu idealisierten beziehungsmodellen, dem mädchen ausgesetzt sind.Sarah gelang es in diesen jahren, immer wieder zurückzufinden zu ihren authentischen empfindungen, - wodurch sie sich notwendigerweise von vielen gleichaltrigen distanzieren mußte. - In späteren briefen konnten wir uns austauschen über unsere sehnsucht nach authentischen begegnungen, über sexualität und körperliche liebe.
1980 brach sarah unseren kontakt plötzlich ab - mit dem hinweis auf kindliche träume und illusionen, in denen ich wohl noch steckte, sie aber nicht mehr..
 (Sarah gerstner ist ein pseudonym.)

Siehe zu diesem buch eine grundlegende anmerkung auf der startseite!

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Theo Harych: HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN

Theo harych (1903-1958) wurde geboren in einem dorf in der damaligen preußischen provinz posen; heute gehört die region zu polen. Muttersprache der eltern war polnisch. Sein vater war landarbeiter, die familie hatte neun kinder. Theo war hütejunge und knecht, nur zeitweilig besuchte er die dorfschule. Seine kindheit war geprägt von gewalt und lieblosigkeit, von hunger und vernachlässigung. 1919 floh er zu einem älteren bruder nach mitteldeutschland, arbeitete in einer zuckerfabrik und im braunkohlebergwerk. Theo harych trat der bergarbeitergewerkschaft bei und war 1921 beteiligt am Mitteldeutschen Aufstand. Später war er wanderbursche, diener, kraftfahrer. Er machte wahlpropaganda für die KPD, arbeitet als hilfsschlosser, macht esich selbständig mit einem dreirad-lieferwagen. Schon zu dieser zeit schrieb er erfahrungen und empfindungen auf zettel und in schulhefte.

Theo harych wurde ein schriftsteller der jungen DDR. Der hier erstmalig wiederveröffentlichte autobiografisch begründete roman erschien 1951 im Verlag Volk und Welt.

HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN ist eine noch heute sozialgeschichtlich bedeutsame quelle. Der romanhafte bericht orientiert sich weitgehend an theo harychs bitterer kindheit. Zweifellos wollte der autor in unterschiedlichen, repräsentativen und zugleich unterhaltsamen facetten erzählen von alltag und befindlichkeiten der (armen) bevölkerung solcher ländlicher gebiete – und von gewalt oder verführung durch mächtige instanzen, denen sie hilflos ausgesetzt waren.

Zweifellos war die kindheit für theo eine unablässige folge psychischer traumatisierungen, keineswegs nur im elternhaus. Kompensatorische, heilsame ressourcen sind kaum zu erkennen. Erst als theo sich nach dem zehnten lebensjahr überlebensmöglichkeiten außerhalb des elternhauses suchen muß, trifft er (bei weiterhin leidvollen erfahrungen) gelegentlich auf menschen, die es gut mit ihm meinen – oder ihn zumindest als mitmenschen ernstnehmen. Daß selbst winzige momente von unterstützung und zuwendung (sei es selbst mit einem rehkitz) in solcher höllenhaften kindheit entscheidend zum aufbau innerer ressourcen beitragen, zu vertrauen, beharrlichkeit und lebenswillen, wird beim lesen nachvollziehbar.

In der achtsamen beschreibung auch der bösen und zutiefst deprimierenden erfahrungen liegt klage und trauer, die theo harych im erzählen und aufschreiben wohl immerhin teilweise zulassen konnte. Und anklage – die sich jedoch weniger gegen einzelne personen richtet, sondern eher gegen grundlegende machtzusammenhänge. Am konkretesten wird die anklage, wo es um menschenfeindliche, verdinglichte dogmen der katholischen kirche geht und deren auswirkung auf die bevölkerung, keineswegs nur auf die bitterarmen landarbeiter.

Noch anfang des 20. jahrhunderts ist für diese dörfler, bürger des Deutschen Kaiserreichs, das leben vorrangig ein schlachtfeld zwischen gott und dem teufel, – und mittendrin die menschen, deren "ewiges Leben" auf den spiel steht und deren normative, moralische orientierung fast ausschließlich in den vorgaben der katholischen kirche besteht! "Gott" ist in diesem weltbild kaum mehr als der gegenpol zu einem "Teufel", auf den alles unangenehme projiziert werden kann, zumal böses meist viel prägnanter vorstellbar und benennbar ist als gutes. Aus dieser dichotomie werden beliebige interessengeleitete interpretationen und schuldzuschreibungen abgeleitet.

Nicht wenige im buch geschilderte szenen erinnern kaum zufällig unweigerlich an die haltlose, sadistische brutalität von NS-tätern. Solche normalität bildete zweifellos einen grundstock für den terror vieler nazi-täter – ursprünglich auch ganz normale männer. Daß die menschenverachtende und mörderisch indolente mentalität der KZ-schergen nicht 1933 entstanden ist, daß sie längst vorher teil der gesellschaftlichen normalität war, wurde mir gerade durch theo harychs zeitzeugenbericht HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN zur unabweisbaren gewißheit.

Derlei psycho(patho)logische zusammenhänge nachzuvollziehen, kann böses, menschenverachtendes verhalten niemals entschuldigen, aber gerade die geschichte dieser familie erinnert daran, wie dünn die schicht von menschlichkeit oder humanität ist und daß sie der pflege bedarf, soll nicht barbarei wieder hervorbrechen: eine nach wie vor gültige lektion der erziehung nach auschwitz.

Nach dem vorliegenden buch schrieb theo harych noch zwei weitere, bis heute lesenswerte romane. 1958 hat er sich das leben genommen.

(Aus dem nachwort)

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VOR DER ZERSTÖRUNG DER BILDER - Felix, ein maler im internat

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Der 10-12jährige felix war Der Maler in der internatskommune, von der in 'WIR INTERNATLER' berichtet wird. Seine bilder waren botschaften aus einer tiefe, an der er wohl niemanden teilhaben ließ. Sein weggang vom internat bedeutete die zerstörung der bilder, denn in die außenwelt konnte oder wollte er diese kreativität nicht mitnehmen.

Bei felix geht es um innere bilder, um rhythmen und muster des lebens, um kreisläufe und verflechtungen, es geht um begegnung und gemeinschaft und monadische beziehungslosigkeit.. - es geht durchaus um unsere welt.

Sensibilität, kreativität und phantasie jenseits der wörter, im unvermittelten gewahrwerden des lebens, gehört natürlicherweise zum menschen. In der erwachsenenwelt bleibt kaum mehr etwas davon übrig. Die (inneren) bilder werden zerstört - und wir zerstören sie allzuleicht selbst, und nennen das "erwachsenwerden". Ersetzen sie durch begriffe, definitionen - und die bilder von konsumindustrie und werbung.

In den allermeisten in der internatskommune entstandenen bildern und zeichnungen ist etwas von jener unmittelbaren wahrheit des lebens, jenseits der wörter, zu spüren. Felix war jedoch der einzige, der über zwei jahre lang momente seiner empfindung für die welt konsequent umgesetzt hat. Wenn er auch kein künstler "geworden ist", - als 10- bis 12jähriger war er es zweifellos.

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Werner Milch: DIE JUNGE BETTINE UND IHR SCHWERER WEG IN DIE MENSCHENWELT

Werner Milch (1903-1950) war Germanist und Literaturhistoriker. Nach 1933 wurde er im Zuge der NS-Rassengesetze aus seinen Ämtern entlassen. Er stand in Kontakt mit Bettines Enkelin Irene Forbes-Mosse und konnte den Arnim'schen Nachlaß auswerten. 1938 wurde Milch kurzzeitig im KZ Sachsenhausen gefangengehalten; im Juni 1939 emigrierte er in die Schweiz, von dort nach Großbritannien. Nach 1945 kehrte Milch nach Deutschland zurück, wurde 1949 an die Universität Marburg berufen. Das 1936/37 begonnene Buch "Die junge Bettine" blieb liegen, bis es zu spät war. Peter Küpper, akademischer Schüler Milchs und in dessen Beschäftigung mit Brentano/Arnim einbezogen, überarbeitete Jahre nach dem Tod des Autors das Manuskript; 1968 wurde das Buch bei Lothar Stiehm, einem jungen germanistisch orientierten Verlag, veröffentlicht.

Deutlich wird Milchs nuancierte Sensibilität für seelisch-psychologische, philosophische und spirituelle Momente. Seine hermeneutische Achtsamkeit, sein Bemühen, Bettines "innere Biographie" zu erkunden und darzustellen, tragen zum besonderen Wert seines Buches bei. Er sucht in Bettines schriftlichen Äußerungen durchgängig nach authentischen Bewußtseinsprozessen. Milchs Fokussierung auf die seelische wie auch die spirituelle innere Wahrheit der jungen Bettine stand am Beginn meiner an sein Buch anschließenden Überlegungen: "Bettines schwerer Weg in die Menschenwelt".

Bettines Werke einschließlich ihrer Briefe sind in allem Wesentlichen genuine Schöpfungen ihres Innern, Resultat einer lebenslang nach außen drängenden kreativen seelischen, poetischen, spirituellen Selbstentfaltung. Diese sie selbst in gewisser Weise wohl überfordernde Flut wollte sie auf unterschiedliche Weise in die sie umgebende soziale und gesellschaftliche Normalität integrieren – die ihr jedoch zeitlebens fremd blieb (wie sie oft bekundete).

Bettine ist es wert, in ihrer menschheitlichen Eigen-Art neu entdeckt zu werden. Auch deshalb war es mir wichtig, daß in dieser Veröffentlichung nicht nur über sie geredet wird, sondern sie selbst ausführlicher zu Wort kommt: in längeren Auszügen aus Briefen und Werken sowie einigen zeitgenössischen Zeugnissen.

Eine Fortführung dieses biografisch-psychologischen Blickwinkels bildet die ebenfalls bei A+C als erweiterte Neuausgabe erschienene Dokumentation der Arbeitsbeziehung zwischen Bettine v. Arnim und Rudolf Baier (in den Jahren 1844/45).

auc-151-milch-bettine (pdf 3,9 MB)