Anne Moody: ERWACHEN IN MISSISSIPPI

Anne Moody (1940 – 2015)war das älteste von acht Kindern einer afro-amerikanischen Familie in Mississippi. Das Leben war bestimmt von materieller Not. Bereits als Kind begann sie, für weiße Familien in der Gegend zu arbeiten, ihre Häuser zu putzen und deren Kindern für wenig Geld bei den Hausaufgaben zu helfen. Später absolvierte sie ein akademisches Studium am Tougaloo College. Seit dieser Zeit engagierte Anne sich beim Congress of Racial Equality (CORE), der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und dem Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC). Sie nahm an einer Vielzahl von gewaltfreien Protestformen wie Märschen und Sitzstreiks teil. Als zentrale Aufgabe wurde darin gesehen, die Schwarze Bevölkerung zu motivieren, sich als Wähler*innen zur Wahl des Gouverneurs von Mississippi einschreiben zu lassen. (Freedom Summer, 1964) Dieses grundlegende demokratische Wahlrecht wurde kontinuierlich von Störmanövern, massiven Bedrohunen und bürokratischen Finessen hintertrieben. Es war den meisten Afro-Amerikaner*innen in den Südstaaten zu dieser Zeit kaum möglich, ihre begründete Angst vor der (gelegentlich auch tödlichen) Bedrohung durch die Weißen zu überwinden, um den Weg zur Wählerregistrierung zu wagen.

Anne Moody berichtet in ihrer hier erstmalig seit 50 Jahren auf Deutsch wiederveröffentlichten Autobiografie umfassend vom Kampf der Bürgerrechtsbewegungen, soweit sie daran beteiligt war.
Nach 1964 mußte sie sich wegen chronischer Erschöpfung (und auch Resignation) von der aktiven Arbeit in den Bewegungen zurückziehen. Sie zog nach New York. 1965-67 schrieb sie ihr hier vorliegendes Buch COMING OF AGE IN MISSISSIPPI.

Anne Moody steht für den Übergang zwischen dem gewaltlosen Engagement Martin Luther Kings und vieler anderer einerseits und dem in Erbitterung und Haß auch zu Gegengewalt übergehenden Kampf von Menschen wie Angela Davis, Assata Shakur (und anderen) bzw. den Black Panthers. Dennoch hatte Moody zunehmend Zweifel an einer einseitig an der Situation der Afro-Amerikaner* innen orientierten Bürgerrechtsbewegung. Sie sagte: "I realized that the universal fight for human rights, dignity, justice, equality and freedom is not and should not be just the fight of the American Negro or the Indians or the Chicanos. It’s the fight of every ethnic and racial minority, every suppressed and exploited person, everyone of the millions who daily suffer one or another of the indignities of the powerless and voiceless masses."
In den folgenden Jahren arbeitete Anne Moody an der privaten Cornell University Ithaka, NY., engagierte sich später auch in der Anti-Atomkraft-Bewegung und als Beraterin für das New York City Poverty Program.

Anne Moodys nuancierte und unmittelbar nachfühlbare Darstellung der vielfältigen Formen sozialer Kontrolle, Diskriminierung und Unterdrückung geht weit über das Thema Segregation und Rassismus gegen die Farbigen in den USA hinaus. Diese und ähnliche Mechanismen wurden und werden zu allen Zeiten und in jeder Gesellschaft, jedem sozialen Verbund angewandt, um Menschen dem Diktat der jeweils Stärkeren zu unterwerfen, sei es auch nur zu deren situativer Bequemlichkeit: in Schulen und Kindergärten, in Arbeitsstellen, Vereinen und politischen Parteien, in Wohnheimen, Krankenhäusern, in Familien und in der Nachbarschaft. Zeugnisse wie das hier vorliegende können dazu sensibilisieren, solche Mechanismen zu erkennen, sie nicht mitzutragen, können Mut machen, Widerstand gegen sie zu leisten.

Bei all den widerwärtigen Erfahrungen, die sie mit Weißen, gelegentlich aber auch mit Farbigen in Kindheit und Jugend machen mußte, blieb Anne Moodys Selbstbild das eines Menschen von eigenem Recht. Sie identifizierte sich weder mit dem Leid, das ihr angetan wurde, noch mit einer schematischen Frontstellung gegen die Weißen. Sie zeigt Menschen in ihren unvereinbar scheinenden Aspekten, legt sie nicht fest auf (moralisch bestimmte) Rollen, wie es oft geschieht in derlei Erinnerungen. Haß und Selbsthaß, Verletztsein und verletzen wird in ihrem Bericht deutlich in seinem unauflösbaren Zusammenhang. Ihre politische Autobiographie enthält eine Fülle von Einzelheiten zum Leben der Farbigen in den Südstaaten der USA in den 50er und 60er Jahren; wir lesen von Menschen, die zerrieben werden zwischen den Ideologemen, dem Haß, den Traditionen einer durch und durch zerstörten Gesellschaft, zerrieben oft auch von der Unmöglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Seelisch zerstört sind aber auch die Weißen in dieser rassistischen Gesellschaft. –

COMING OF AGE IN MISSISSIPPIerschien 1968, wurde von Anfang an hochgelobt und (in den Südstaaten) medial bekämpft, es wurde in etliche Sprachen übersetzt; in den Vereinigten Staaten ist es bis heute eines der bekannten Bücher zum Thema, bei (vor allem studentischen) Leser*innen wie in der Presse, in Fachveröffentlichungen und unter Bürgerrechtler*innen. – Der Kampf gegen die Segregation (in ihren "zeitgemäßen" Varianten) ist in den USA noch keineswegs beendet.

Auf Deutsch erschien das Buch 1970 (S. Fischer) sowie 1971 in der DDR (Verlag Neues Leben), jeweils in der Übersetzung von Annemarie Böll, mit Vorwort von Heinrich Böll. Eine Taschenbuchausgabe bei S. Fischer von 1972 sollte dann für 50 Jahre die letzte deutsche Ausgabe des Buches sein, – bis zu der hier vorliegenden kostenfreien online-Veröffentlichung (Text und Übersetzung weitestgehend nach der früheren Ausgabe) beim Verlagsprojekt Autonomie und Chaos.

Die Neuausgabe enthält als Anhang das Script eines Interviews, das Anne Moody 1985 gab; es handelt auch von ihrem Leben in den 10 Jahren seit Erscheinen ihrer politischen Autobiografie.

Hier direkt angehört und heruntergeladen werden kann die Audiodatei eines Interviews von 1969, aus Anlaß der Veröffentlichung ihres Buches:

Und hier ist das Buch:

auc-164-moody-a (pdf 8,5 MB)

Hinweis: Zum Thema Segregation / Rassismus in den USA ist bei A+C wiederveröffentlicht worden der Roman Fremde Frucht ("Strange Fruit")von Lillian Smith, einer weißen Bürgerrechtlerin. Die Neuausgabe enthält einen umfassenden Anhang zum Thema.

Jeannette Lander: AUS MEINEM LEBEN

Jeannette Lander (1931-2017) war Tochter eines in die USA ausgewanderten polnisch-jüdischen Ehepaars. Sie wuchs mit Englisch und Jiddisch als Muttersprachen auf. Ab 1934 lebte die Familie in einem vorwiegend von Afroamerikanern bewohnten Viertel von Atlanta (Georgia).
1960 übersiedelte Jeannette Lander nach BERLIN und studierte Anglistik und Germanistik an der Freien Universität. 1966 promovierte sie dort mit einer Arbeit über William Butler Yeats. Sie veröffentlichte von nun an als freie Schriftstellerin ausschließlich in deutscher Sprache.
Von 1984 bis 1985 hielt sie sich in Sri Lanka auf. Ab 1995 lebte Jeannette Lander im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg; ab 2007 war sie  im brandenburgischen Landkreis Havelland ansässig.

2017 erschien in Kooperation mit der Autorin eine Neuausgabe ihres ersten Romans (EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.) bei A+C online.

In den Jahren 2011-2014 arbeitete Jeannette Lander an Lebenserinnerungen, die jedoch nur in einem Privatdruck (ohne ISBN) veröffentlicht wurden. AUS MEINEM LEBEN erscheint hier erstmalig als Ausgabe mit ISBN, online und zum kostenfreien Download.

Für Jeannette Lander war Kreativität ganzheitlich und alltäglich, sie ließ sich ein auf Möglichkeiten, Phantasie und Wagnisse. Ihre Bereitschaft zu spontanen Entscheidungen führte zu einem von Umschwüngen und Wechselduschen geprägten Leben, das in ihren Erinnerungen deutlich wird.
Lander schreibt diese Erinnerungen al fresco: als hätte sich alles vor kürzester Zeit zugetragen, als säße sie neben uns und erzählte, wie es in ihr aufsteigt. Manche Einzelheiten wären an sich belanglos – hier aber tragen sie bei zur Färbung, zur Atmosphäre, zur mitmenschlichen Nähe, die sich einstellt bei Lesen. Aber auch Momente der Persönlichkeit, der Lebenshaltung Jeannette Landers lassen sich ahnen. Oft liegt der Sinn (die Botschaft) einer Anekdote ganz in Zwischentönen, die leicht überlesen werden können in ihrem locker-anekdotischen Erzählen. Noch beim mehrfachen Lesen zeigen sich in diesen redlichen, genauen, aber zugleich locker skizzierten Erinnerungen Momente, die zu Motiven ihres Werks geworden sind.

Die Unverblümtheit, mit der Jeannette Lander in diesen Erinnerungen, mit über 80 Jahren, von ihrem Lebensweg auch anhand deprimierender Alltagserfahrungen und persönlichster, ja intimer Empfindungen und angreifbarer eigener Verhaltensweisen berichtet, lese ich nicht zuletzt als Manifest ihrer letztlichen Befreiung aus dem Prokrustesbett der gesellschaftlichen Konventionen darüber, was "man" (d.h. vielmehr: "frau"!) zu tun hat, um anerkannt zu sein. – "Das Private ist politisch!" war ein Blickwinkel, der vor allem durch die Frauenbewegung ab 1970 profiliert wurde und zweifellos auch Jeannette Landers politische Bewußtheit bestimmte.

Ein Lebensthema Jeannette Landers ist das Bemühen, das von Verdrängung und Vorurteil geprägte Verhältnis von "Opferjuden" und "Täterdeutschen" zu durchdenken. Vorschnelles Zuordnen von Schuldigen und Unschuldigen verweigert sie auch bei partnerschaftlichen Konflikten oder im Hinblick auf die bürgerkriegsähnlichen Umstände auf Sri Lanka.
Eine "Ethik der Analogie" wird Landers Arbeiten in dem hier im Anhang dokumentierten Aufsatz der Germanistin Katja Schubert zugeschrieben: gewaltförmiges Denken und Verhalten gehört zu uns Menschen, ist nicht beschränkt auf einzelne Gruppen oder Personen. Davon sollten wir ausgehen, um die Arroganz der Macht vielleicht zunehmend als solche ethisch zu diskreditieren, jenseits der Ideologien, mit denen sie sich jeweils verbrämt. Die Chancen menschenwürdigeren Verhaltens innerhalb oder am Rande solcher Gewaltzusammenhänge sind jeweils zu gewichten, zu stärken.

Neben allem anderen vermitteln Landers Erinnerungen nachdrückliche Einblicke in das Funktionieren der "Kulturindustrie" nach 1945, in das anscheinend selbstverständliche Zusammenspiel von Autor*innen, Institutionen, Verlagen, Finanzierungsmöglichkeiten, Medien und Leser*/Käufer*innen.

Die Lebenserinnerungen werden ergänzt durch zwei tiefgründige Veröffentlichungen zu Jeannette Lander: ein Interview mit der Autorin (Marjanne Goozé/Martin Kagel 1999) sowie einen Aufsatz von Katja Schubert (2012). Daneben wird eine Rezension Landers zu Doris Lessings Romanzylus KINDER DER GEWALT (in EMMA 1984) dokumentiert.

auc-166-lander-leben (pdf 2,1 MB)

Jeannette Lander: EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.

Georgia, USA, 1944/45. – Jeannette Landers erster Roman bewahrt Momente einer Lebenswelt, die bald darauf verlorenging im zunehmend aggressiven Kampf der farbigen Amerikaner um ihre Bürgerrechte und gegen die traditionelle, strukturelle Gewalt der Weißen. Das Buch handelt von einer wohl seltenen lokalen Konstellation in den Südstaaten der USA, in der Fremdenfeindlichkeit, Rassismus sich aufzulösen schien, in der eine Heilung der babylonische Sprachzersplitterung vorstellbar schien. Aber es war nur eine dünne, wenig tragfähige Schicht Humanität über der Gewalt, dem Rassenhaß, der vorteilsbedachten gegenseitigen Ausgrenzung – auf seiten der Weißen wie der Schwarzen.

Erzählt wird durchgängig aus dem kognitiven und affektiven Blickwinkel der vierzehnjährigen Itke. Die drei Lebenskreise ihrer Kindheit, "der jiddischamerikanische, der schwarzafrikanische und der weißprotestantische", nicht zuletzt die Sprachwelten verdichten sich zu vielfältig-schamanischen Bedeutungszusammenhängen, einer Alchimie der Erfahrungen. Zwei Schwerpunkte hat diese Kindheit (im wesentlichen zweifellos diejenige der Autorin): die Sehnsucht all dieser Menschen nach einem einfachen Leben miteinander, nach Frieden und mitmenschlicher Wärme, – und andererseits die Auswirkungen einer Welt der Jim Crow-Gesetze, der Rassentrennung: Mißachtung, Gewalt, Mißtrauen, Demütigung, Resignation, hilfloses situatives Aufbegehren. Daneben die informellen Hierarchien: zwischen helleren und dunkleren Farbigen, besser und schlechter Ausgebildeten; es gibt die Verordnungen einer indolent-menschenverachtenden Bürokratie, dann das lokale Establishment der Weißen, davon abgegrenzt die armen Weißen, und nochmal darunter die Juden (also auch Itkes Elternhaus), mit denen zumindest bestimmte angloamerikanische Weiße sich nicht abgeben mögen. Doch auch zwischen Diaspora-Juden und in Amerika geborenen bestehen hierarchische Abgrenzungen. Dazu kommen Warenbeschränkungen und andere Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs. Es gibt rituelle jüdische Vorschriften, die jedoch nur sehr flexibel eingehalten werden. Und das geschäftsbedingte Taktieren beim Vater, dem "karitativen Kaufmann" mit seiner "brüchigen Humanität". Dann das ganz Fremde der Farbigen: die gnadenlose Armseligkeit vieler, die Ekstase ihrer Gottesdienste, ihrer Tänze, Hoodoo Rituale. Hilflose Wut flackert auf zwischen einzelnen Menschen. Ahnungen von politischer, struktureller, traditioneller – ungreifbarer – Ungerechtigkeit und Gewalt. Und Sex – für manche AfroamerikanerInnen einzige Möglichkeit, selbstbestimmte Lebendigkeit zu entfalten; wodurch sie Weiße faszinieren und ihnen gelegentlich zum Vorbild werden. Basso continuo zu alldem ist die archaische, grell-heiße, üppige Natur des Südens.

In der Sprache dieses Romans kobolzt die kindliche Freude, Varianten, Assoziationen, Alliterationen und Neologismen auszuprobieren.Regeln zu Syntax, Zeitenfolge und Zeichensetzung haben nur periphere Bedeutung. Darin liegt die für Itke (das Kind) zweifellos vor allem kreative sprachliche Vielstimmigkeit, das teils regelhafte, teils spontan-zufällige soziale Durcheinander ihrer heimatlichen Szenerie: es sind Sprachbilder, nicht zuletzt Sprachwelten. Manche Szenen erinnern (mich) an James Joyce, an surrealistische oder dadaistische Kurzfilme, in anderen zerreißt jedes soziale Miteinander, brutal zeigt sich die Realität menschlicher Entfremdung und läßt uns hilflos am Rand des Textes zurück. Itkes polnisch-jiddische Eltern läßt die Autorin jiddisch reden – auch mit den afroamerikanischen KundInnen, deren Slang verblüffend authentisch ins Deutsche übertragen wurde.

Ein Sommer in der Woche der Itke K. erschien 1971 bzw. 1974. Diese erste Neuausgabe entstand in Kooperation mit der Autorin. Bestandteil der Wiederveröffentlichung ist die Audio-Datei ihrer Lesung aus dem Buch (siehe hier unterhalb).

2023 erschienen bei A+C als Erstausgabe Jeannette Landers Erinnerungen: "Aus meinem Leben" - Hier !

Jeannette Lander starb am 20. Juni 2017.

auc-103-lander

Jeannette Lander • Lesung aus
EIN SOMMER IN DER WOCHE DER ITKE K.

Jim Morrison: THE LORDS - DIE HERRENGÖTTER

Bereits im juni 1968 wollte jim morrison (1943 - 1971), der berühmte sänger der DOORS, sich von seiner band trennen; er ließ sich zur weiterarbeit überreden. 1970 gelang ihm der absprung; mit seiner lebensgefährtin pamela courson ging er nach europa.

Im mittelpunkt seiner kreativität stand seit jeher eine poetisch aufgeladene sprache. Die suche nach filmischen gestaltungsmöglichkeiten kam bald dazu. Einige zeitzeugnisse belegen, wie er sich bereits während seines studiums der film- und theaterwissenschaften (1964 - 65) atemlos & gierig bildung und erkenntnisse an land gezogen hat. THE LORDS (zuerst veröffentlicht 1969 als privatdruck) ist zweifellos ein von jim bewahrter rest dieser notate. Dort hat er gesellschaftliche zusammenhänge betroffen für sich selbst entdeckt und versucht, das mosaik seines theoretischen (auch kritischen) nachdenkens über soziale realität und künstlerische möglichkeiten darzustellen. Heute können wir die arbeit als brückenglied und schlüsseltext lesen, denn sie vermittelt seinen endgültigen schritt ins eigene, den übergang vom suchen zum finden, vom sammeln zum gestalten.

Eine konsistente ausführung seiner grundlegenden theoretischen und konzeptionellen gedanken und asssoziationen war dem autor zu diesem zeitpunkt noch nicht möglich. So ist THE LORDS - von der äußeren form her - kaum mehr als ein grobes gerüst aus beobachtungen & anmerkungen, ein exposé, aus dem ein buch hätte werden können - aber auch ein film. Hilflosigkeit beim leser, mehr noch beim übersetzer, ist aus dieser unzulänglichkeit heraus unvermeidbar. Widersprüche, nicht durchgehaltene darstellungsebenen oder gedankensplitter übersetzen zu wollen, wird entweder auf kosten der verständlichkeit oder der übersetzungstreue gehen. Für jede einzelne wendung ist aus neue abzuwägen zwischen diesen kriterien.

THE LORDS lag bisher zweimal auf deutsch vor. Beide übertragungen werden dem text kaum gerecht. In mehreren anläufen entstand seit 1975 meine eigene übertragung. Sie erschien zunächst 1984 in berlin, als privatausgabe im damaligen selbstverlag Autonomie & Chaos. Für die vorliegende neuausgabe 2018 wurde die übersetzung durchgesehen; einige abbildungen kamen dazu.

Jim war fasziniert von der macht, die jedem auf der bühne, auf der leinwand zugebilligt wird von den zuschauern, - und zugleich hat er erschrocken und betroffen die auswirkungen einer solche arbeitsteiligen lebendigkeit beobachtet. Die inhaltliche prägnanz und spannung, mit der er dieses problem in seiner ganzen ambivalenz zusammenbaut, gleicht die schriftstellerischen mängel bei weitem aus für jeden, der sich ernsthaft damit auseinandersetzt.
Jim morrisons notizen über uns, die wir vom mad body dancing on hillsides verwandelt worden sind in a pair of eyes staring in the dark, kamen 1971 zu mir, und sie werden mich wohl zeitlebens begleiten; denn um diese ganz und gar tragische metamorphose von gesellschaft und menschlichkeit geht es mir & uns, - und sie schreitet fort.

Mittlerweile sind mehrere bände mit texten jim morrisons auch auf deutsch erschienen, daneben wichtige interviews mit ihm, sekundärliteratur und dokumentarfilme. Als wir (gise & ich) 1976 sein grab in paris besuchten, war es nur die verschmuddelte rückseite eines anderen grabmals; ein friedhofswärter wies uns den weg. Mittlerweile gibt es dort einen ordentlichen grabstein und eine fülle von besucherInnen sowie mediale aufmerksamkeit an jedem geburtstag und todestag. Vergessen ist jim morrison offenbar nicht … das tröstet und gibt hoffnung, daß von ihm nicht nur die platten der Doors übrigbleiben werden - so atemberaubend und durch nichts zu ersetzen diese musik ist.

THE LORDS. NOTES ON VISION ist ein nachlaß von jim morrison, der von den DOORS weggegangen war, um die nächsten räume  seines eigenen lebens zu finden. Diese textcollage war 1968/69 jim morrisons erster schritt über die zeit des sängers, songschreibers, des musikstars hinaus. Rückblickend läßt sich THE LORDS lesen als kommentar zu den erfahrungen, die jim bis 1969 als sänger der Doors mit der medialen und physischen öffentlichkeit gemacht hatte. Es war der allererste schritt seiner kritischen auseinandersetzung mit der grundlegenden und progressiven entfremdung und verdinglichung, mit der janusköpfigkeit des films (als kunstwerk oder konsummedium) - themen, über die zu jener zeit erst von wenigen kritisch nachgedacht wurde. , Heute, auf dem hintergrund der elektronischen, digitalen, interaktiven medien, ist es geradezu ein modethema.

Aber diese textcollage ist zugleich ein dokument seiner suche nach vitalen verbindungen zwischen texten, musik, kino, bild, inszenierung und sozialem leben - auch darin war jim seiner zeit voraus. Vermutlich hätte er als einer der ersten künstler mit den möglichkeiten der digitalen technik gearbeitet - im bemühen, wahrhaftigkeit, authentiziät, wahrheit anzunähern durch unwahrheit, entfremdung, verdinglichung hindurch.
Nicht zuletzt geht es in THE LORDS um das ewige thema: kunst oder leben? Ist kunst tieferes, autentischeres, dichteres leben - oder ist sie ein gegenpol zum leben, führt sie weg von authentischem leben?

auc-96-jim-morrison

Lillian Smith: Fremde Frucht

Lillian Eugenia Smith (1897–1966) wurde bekannt vor allem durch ihr lebenslanges Engagement gegen die Rassentrennung in den Südstaaten der USA. Ihr beim Erscheinen kontrovers diskutierter Roman ''Strange Fruit'' (1944) machte sie weltberühmt.

Lillian studierte als junge Erwachsene Musik, arbeitete pädagogisch und hielt sich für mehrere Jahre in China auf, wo sie Direktorin einer Mädchenschule war. Während dieser Zeit wurden ihr Ähnlichkeiten zwischen der Unterdrückung der chinesischen Kultur zugunsten der abendländischen, christlichen einerseits und derjenigen der afroamerikanischen Bevölkerung in den amerikanischen Südstaaten bewußt.

Sie nahm sie eine lebenslange Partnerschaft mit Paula Snelling auf. Die beiden Frauen gründeten 1936 eine kleine Literaturzeitschrift, die schwarze und weiße SchriftstellerInnen zu kritischen Stellugnnahmen ermutigte. Im Mittelpunkt standen dabei soziale Ungleichheit, Frauenfeindlichkeit, Rassismus, die Notwendigkeit von sozialen und wirtschaftlichen Reformen.
1944 erschien ihr Roman ''Strange Fruit'', in dem es um eine Liebesbeziehung zwischen einer Farbigen und einem Weißen ging. Der Titel wurde vom Verleger gewählt, nach einem gleichnamigen Lied in der Interpretation von Billie Holiday. Die Autorin betonte jedoch, daß ihr Anliegen nicht, wie in dem Lied, allein der Rassismus gegen Afromamerikaner sei, sondern vielmer die seelische Beschädigung von Farbigen wie Weißen in der "rassisistischen Kultur" der Südstaaten. Nach dem Erscheinen wurde der Roman in mehreren Regionen der Vereinigten Staaten verboten. Dieses Verbot wurde von Präsident Franklin D. Roosevelt aufgehoben. Der Roman wurde zum Bestseller und in 15 Sprachen übersetzt.

Lillian Smith tauschte sich häufig aus mit Eleanor Roosevelt, sie war befreundet mit Martin Luther King und anderen farbigen wie weißen ProtagonistInnen der Bürgerrechtsbewegung, in der sie sich selbst kontinulierlich bis zum Ende ihres Lebens engagierte. Ihr persönlicher Schwerpunkt dabei war die Situation von Frauen und Kindern. – Daneben schrieb sie Bücher (Sachbücher, Dokumentationen, einen weiteren Roman) und arbeitete journalistisch.
In den Vereinigten Staaten wurde Lillian Smith in den letzten Jahrzehnten neu entdeckt als Kämpferin für soziale Ungerechtigkeit, aber auch im Zusammenhang mit der Emanzipation lesbischer Lebenshaltung. Theaterstücke, Lesungen und Buchveröffentlichungen zeugen davon.

"Strange Fruit" (Fremde Frucht) erschien auf deutsch 1947 (in der Schweiz). Für seine Themen – Rassismus, die Situation schwarzer Amerikaner, lesbische Liebe – interessierte sich zu dieser Zeit kaum jemand in Deutschland. Für diese erste deutsche Neuveröffentlichung wurde die Übersetzung gründlich durchgesehen. Ein umfangreiches biobibliographisches Nachwort des Herausgebers kam dazu. Auch einige Fotos der Autorin.

auc-102-lillian-smith

Mary Jane Ward: SCHLANGENGRUBE

Die amerikanische Schriftstellerin Mary Jane Ward (1905–1981) war 1939/40 Patientin einer psychiatrischen Klinik.  Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen dort schrieb sie den hier wiederveröffentlichten Roman THE SNAKE PIT (1946). Die Veröffentlichung löste in der amerikanischen Öffentlichkeit, auch unter Psychiatern und Gesundheitspolitikern, lebhafte Reaktionen aus. Das Buch und ein nach ihm gedrehter Spielfilm führten in mehreren Staaten der USA zu Reformen der psychiatrischen Unterbringung und Behandlung. In Großbritannien wurde der Film erst nach einigen Schnitten zugelassen. In der BRD gab es keine nennenswerte öffentliche Reaktion.

Die Autorin vermittelt uns einen nuancierten, oft tief berührenden Einblick in die Erfahrungen und das Empfinden einer Frau des amerikanischen Mittelstands, die es in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts in eine "Irrenanstalt" verschlägt. Jenseits psychiatrischer Begrifflichkeit werden Momente psychotischer Verwirrung und Verlorenheit im kontinuierlichen (aber gebrochenen) Bewußtseinsstrom der Protagonistin deutlich. Unaufdringlich werden im Fluß der Handlung die kommunikativen Verknotungen, Verwirrungen zwischen psychiatrischen Patientinnen und "den Gesunden" vermittelt. Unangemessene, unsensible Kommunikationsweisen gerade in einem psychiatrischen Krankenhaus, wo Betroffene sich fachliches Verständnis versprechen, führen zur iatrogenen Zerstörung des Selbstwertgefühls – damals wie heute! Psychiatrische PatientInnen sind sich ihrer Symptomatik zeitweise durchaus bewußt. In der unsicheren Einschätzung des Grads der eigenen Gesundheit oder Krankheit schämen sie sich, versuchen kognitive Defizite zu verbergen vor anderen (insbesondere den Ärzten), sie zu rationalisieren. Nicht selten fühlen sie sich den Ärzten und klinischen Psychologen gegenüber wie SchülerInnen, die verbergen wollen, daß sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben.

Daß die paranoiden, halluzinatorischen, wahnhaften Verkennungen in der Psychose um nichts weniger evident sind als Eindrücke im nichtpsychotischen Zustand, daß in der Psychose beides in vielfältiger Abstufung ineinander übergeht, Minute für Minute, läßt sich gerade in diesem romanhaften Bericht besonders gut nachvollziehen, weil es hier durchgängig um alltägliche Umstände und Klärungsprozesse geht, – nicht um ausufernde psychotische Phantasien, wie sie üblicherweise als Beleg für das angeblich Nichteinfühlbare der Psychose angeführt werden. Deutlich wird auch, wie leicht es ist, psychiatrische PatientInnen zu verfehlen, wenn wir nur nach psychotischen Symptomen Ausschau halten und die alltäglichen Lebenserfahrungen vernachlässigen.

Bei allen kritischen, sarkastischen und ironischen Bemerkungen porträtiert die Protagonistin ihre Mitpatientinnen im allgemeinen achtungsvoll, mit soviel Einfühlung, wie sie aufbringt. Oft läßt sie uns deren Einsamkeit und die individuellen Kompensations- und Rationalisierungsversuche nachfühlen. Die ganz eigene Authentizität von PsychiatriepatientInnen stellt sie mehrfach der sozialen Normalität der Außenwelt gegenüber, wobei diese keineswegs besser abschneidet. Selbst ihrem eigenen Gesundungsprozeß steht Virginia gelegentlich ambivalent gegenüber: "Ich nähere mich dem Nichtpatientenstatus. Mein Mitgefühl verliert sich. Meine Sympathie. Ja, und meine Großzügigkeit …"

Trotz der unterschiedlichen Ausgangslage läßt sich dieser romanhafte Bericht in vielem auf die heutige stationäre Psychiatrie übertragen, auch im Hinblick auf die instititutionellen und sozialen Umstände der Betreuung.

(Aus dem Nachwort)

auc-134-ward-schlangengrube

Nora Waln: NACH DEN STERNEN GREIFEN

Deutschland, Österreich und Tschechoslowakei 1934-1938

Die US-amerikanische journalistin nora waln (1895-1964), aus wohlsituierter quäkerfamilie, erkundete von 1934 bis 1938 deutschland und österreich. Ihr 1939 in london und boston veröffentlichter bericht lebt von der für den leser nachfühlbaren zeugenschaft der autorin. Nora walns grundlegender blickwinkel ist ein humanistisch, idealistisch begründeter pazifismus ohne parteipolitische reflexionen, sowie eine zumindest mir sympathische affektiv besetzte gelehrsamkeit.  Immer deutlicher flackern in traulichen szenerien unvermittelt momente von gleichschaltung, unterdrückung und gewalt auf – selbst dies zunächst noch verkleidet in spießbürgerlicher ordentlichkeit, idealistischer begeisterung oder als seien es bedauerliche einzelfälle.

Nora waln zeigt sich im verlauf ihrer vier jahre in deutschland (und österreich) lernfähig, und sie dokumentiert die zögerliche wandlung ihrer zunächst sehr idealistischen einschätzung mit einem hauch bitterer ironie. Ihre zunächst naiv wirkende neutralität modifiziert sich mit den erfahrungen im nationalsozialistischen alltag zur feldforscherischen taktik. In verbindung mit ihrer sozialpsychologisch nuancierten beobachtungsgabe (und ihrer genuinen menschenliebe!) entsteht ein bericht, der nichts weniger ist als apolitisch.

Manche schilderungen harmonischer, idyllischer alltagsszenen oder auch traditioneller umgangsformen lassen sich heute kaum ohne widerwillen lesen. Nach 1945 gehörten solche erinnerungen in deutschland jedoch zu den wenigen scheinbar unkorrumpierten vorbildern für alltag und selbstgefühl. Im westen haben sie zumindest die adenauer-zeit wesentlich mitbestimmt, in der DDR scheinen sich versatzstücke daraus länger gehalten zu haben. Zur reflexion der NS-sozialisierten generationen über die verbrecherischen aspekte der nazizeit – gar noch im gespräch mit den nachgeborenen kindern – taugte entsprechendes selbstverständnis ebensowenig wie zu ihrer integration in die von massenmedien, konsum, kulturindustrie und "sexueller revolution" bestimmten gesellschaft nach 1950.

Heute, 50 jahre später, kann gerade nora walns laien-ethnografischer bericht für uns deutsche eine brücke schlagen zur welt unserer eltern, großeltern oder urgroßeltern.

Ihr augenzeugenbericht vom alltag im austrofaschismus (1936/37) läßt die spezielle österreichische mischung historischer hintergründe und innergesellschaftlicher ideologien und kräfte ahnen. Unabweisbar wird die geradezu mephistophelische raffinesse der schachzüge von NS-politik und -propaganda, mit der das öffentliche klima in österreich manipuliert wurde. Wieder ein anderer zeitgeschichtlicher blickwinkel auf die vorgeschichte des NS öffnet sich in ihrem umfangreichen kapitel zur situation in der tschechoslowakei, dem seinerzeit wohl fortschrittlichsten demokratischen impuls in mitteleuropa.

Bis in die letzten seiten des buches läßt sie die leserInnen teilhaben an ihren unvereinbaren erfahrungen und empfindungen in einem ideologischen spiegelkabinett. Gerade ihr tiefer ernst und ihre konsistente achtsamkeit über mehrere jahre ermöglichen uns, der damaligen soziodynamik in den von ihr rezipierten schichten und kreisen nachzuspüren. Solche zeitzeugenberichte aus dem blickwinkel individueller ("subjektiver") erfahrung und interpretation sind unverzichtbare erkenntnisquellen, die durch prozeßsoziologische bzw. mentalitätsgeschichtliche forschungsansätze behutsam erschlossen werden können.

Der text bietet sich nicht an zur selbstgerechten unterscheidung von bösen nazis und unschuldigen bürgern, sondern nötigt zur reflexion der vielschichtigen verstrickungen der deutschen bevölkerung jener zeit. Er ist ein atemberaubend hautnahes, geradezu intimes, einfühlsames – aber zugleich gespenstisches dokument aus dem innenleben nazideutschlands.

Nora waln engagierte sich bereits mit 20 für die 1915 fast ausgerotteten armenier, später lebte sie 20 jahre in china, schrieb darüber zwei seinerzeit populäre bücher. Nach 1945 arbeitete sie als journalistin in mehreren ländern des fernen ostens.

Das hier neuveröffentlichte buch erschien 1939 (in zwei unterschiedlichen versionen) in london und boston. Weitgehend unbeachtet kam 1947 eine deutsche ausgabe heraus.

Für diese erste deutsche neuausgabe wurde die übersetzung revidiert, gestrichene passagen wurden integriert. Ergänzt wurden zeitgeschichtliche anmerkungen sowie ein nachwort des herausgebers mondrian v. lüttichau.

auc-72-nora-waln