AUTONOMIE UND CHAOS: Verlagsverzeichnis 1980 - 2020

Teil 1 dieses Verlagsverzeichnisses enthält eine Zusammenstellung der Veröffentlichungen (jeweils mit Kurzbeschreibung) nach thematischen Stichworten sowie eine Liste der ISBN-Nummern.

Teil 2 enthält eine Sammlung der Einleitungen, Nach- und Vorworte sowie Infotexte zu den Veröffentlichungen 1980–2020 sowie ein alphabetisches Verzeichnis sämtlicher Veröffentlichungen (nach AutorInnennamen).

auc-140-verlagsverzeichnis-teil-1 auc-139-verlagsverzeichnis-teil-2

Christa: ICH SUCHE WAHRHEIT, WEG UND LEBEN

Heidelberg, April 1981. Christa Stiehm ist meine Chefin im VERLAG LAMBERT SCHNEIDER / LOTHAR STIEHM VERLAG. Bald ergänzen nichtgeschäftliche Hinweise, Assoziationen, Kommentare unsere gemeinsame Arbeit, mündlich wie auf Zetteln. Was berührt mich so an dieser Frau, hab ich mich gefragt, mit der ich außerhalb der Stunden im Verlag nichts zu tun hatte, die mit meiner sonstigen Lebenswelt kaum etwas zu tun zu haben schien?! –
Später hörte ich für rund 20 Jahre nur noch sporadisch von Christa. Ihre Scheidung von L. und der Verkauf des Verlags. Eine neue Lebenspartnerschaft. Anthroposophische Studien. Gemeinsam mit HFW dessen Haus gebaut. Später ein kleines eigenes Haus daneben gekauft und instandgesetzt. – Als wir vor einigen Jahren wieder Kontakt zueinander aufnahmen, hab ich mich getraut, auf ihre damaligen Zettel anzuspielen … und ob es vielleicht mehr Aufgeschriebenes gibt? Und ob sie sich vorstellen könnte, ein Buch draus zu machen? –
"Das ist doch alles nichts Besonderes, sowas erlebt doch jeder! Und wer will denn sowas lesen?" war ihre spontane Reaktion. "Ja, aber es ist etwas Besonderes, wie Sie mit diesem Erleben umgegangen sind... was Sie draus gemacht haben!" konnte ich schon aufgrund meiner Erinnerung an die Zeit im Verlag sagen.
Seit Anfang 2017 schickte sie uns (meiner Freundin Petra Bern und mir) nach und nach ihre Aufzeichnungen aus 50 Jahren: Tagebücher, einzelne Blätter, Briefe, ein Karteikasten, durchnummerierte Zettel und etliche Fotos, auch Briefe anderer. Wir durften lesen – mit der Frage, ob eine Veröffentlichung daraus werden könnte.

"Wat is los: nehme ich mich zu wichtig, oder nehm ich mich nicht wichtig genug. Es ist zum Kotzen." – steht auf einem Zettel an uns (28.11.17). Wer weiß, was jemand ist? Ich empfinde Christa als Mystikerin, die in allen Augenblicken sinnlich-konkretes, alltägliches Leben verwebt mit der Frage nach dem Ganzen, nach Wahrheit.Ein Schwerpunkt ihrer Wahrheitssuche ist Gott und "der Christus Jesus", axiomatische Begriffe sind Geist, Ich, Wille und Idee. Der andere Schwerpunkt ist die Suche nach mitmenschlichem Leben: in Liebe und Bindung, in sozialer Verantwortung und Partnerschaft. Es gibt vielleicht nur wenige Menschen, die dieses Spannungsverhältnis ein Leben lang ausgehalten und immer neu mit Sinn erfüllt haben; Christa gehört zu ihnen.
Allgemeinmenschliche ("private", "alltägliche") Situationen und Konstellationen nimmt Christa vorbehaltlos für wahr; ihre äußeren und inneren Erfahrungen werden bedeutsam über den Anlaß hinaus.Schlimme Lebenserfahrungen mit uns selbst und anderen haben wir alle. Zum fragwürdigen Konsens der sozialen Normalität gehört, daß wir mit derlei weitgehend allein "fertigwerden" sollen. Oft hat das zur Folge, daß wir Ungelöstes (vielleicht Unlösbares) innerlich wegzuschieben versuchen oder es billig rationalisieren. Das Besondere an Christas Aufzeichnungen ist nicht nur, daß sie überfordernde soziale (und spirituelle) Erfahrungen und Empfindungen redlich, subtil und doch einfach in Worte kleidet, sondern: wie sie mit ihnen umgeht. Sie verharrt nicht in den Fronten von Schuld und Schuldzuschreibung, sondern stellt dieser menschlich-allzumenschlichen Methode der Konfliktlösung das Vor-Bild Jesu Christi gegenüber. Obwohl ihr ethischer Anspruch dabei gelegentlich schier übermenschliche Höhe erreicht, verliert sie das Menschenleben hier und jetzt nicht aus dem Auge, aus dem Herzen. Erst müssen wir einige Gewißheit haben über unser "Ich", um eventuell den Schritt darüber hinaus machen zu können. Zugleich betrachtet Christa die Materie der Welt nicht nur dinghaft, sondern auch als Erscheinungen, als Spuren, Zeichen und Bilder, die uns in das Mysterium der Schöpfung hineinführen. – In diesem tiefgründigen (also "radikalen") Hineinhorchen in das Geheimnis des Menschseins und der Menschenwelt liegt das Kostbare ihrer Aufzeichnungen auch für LeserInnen, die Christas christliche Haltung nicht teilen.

auc-100-christa

Helga Kaschl: FRAUEN IN VIRGINIA WOOLFS HOGARTH PRESS

Virginia Woolf (1882-1942), die bedeutende Schriftstellerin der Moderne, hat lebenslang protestiert gegen Marginalisierung kreativ arbeitender Frauen, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb ihres von den gesellschaftlichen Konvention vorgegebenen Lebens als Ehefrau und Mutter oft nicht einmal "ein Zimmer für sich" (A Room of One’s Own)hatten, um ungestört an literarischen, wissenschaftlichen, musikalischen oder bildnerischen Werken arbeiten zu können. Zusammen mit ihrem Mann Leonard Woolf gründete sie 1917 die HOGARTH PRESS, einen Verlag, in dem Werke weiblicher Autorinnen ein besonderes Gewicht hatten: Schriftstellerinnen, Dichterinnen, Wissenschafterinnen, Journalistinnen, Politikerinnen, Frauenrechtlerinnen / Feministinnen. Die in der HOGARTH PRESSE veröffentlichten Autorinnen gehören zur ersten Generation von Frauen, die sich in ihrem Schaffen nicht mehr vorrangig an männlicher Kreativität orientieren mußten.
Die österreichische Wissenschaftlerin Dr. Helga Kaschl stellt in ihrer bei A+C als Originalveröffentlichung erschienenen Arbeit 77 dieser Autorinnen in ausführlichen biobibliographischen Artikeln vor. Dabei werden jeweils alle wesentlichen Werke der Autorinnen genannt, also nicht nur die in der HOGARTH PRESS veröffentlichten. Ergänzt wird die umfangreiche Arbeit (448 Seiten) durch viele Abbildungen und einige kurze Hintergrundtexte. Helga Kaschls fachlich äußerst nuancierte Dokumentation ermöglicht uns einen speziellen Blick auf die Kreativität von Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Für A+C ist es eine Ehre, daß die Autorin ihre Arbeit bei uns veröffentlicht!

auc-150-kaschl-hogarth-press (pdf 30,9 MB)

VERLAG LAMBERT SCHNEIDER / LOTHAR STIEHM VERLAG (1925–1999)

Die vorliegende Veröffentlichung entstand in der Überzeugung, daß die Welt der Verlage Lambert Schneider und Lothar Stiehm ein bewahrenswertes Moment der deutschsprachigen Kulturgeschichte ist, ebenso wie andere, in der Öffentlichkeit bekanntere Verlage. Lambert Schneiders hier wiederveröffentlichter Almanach (RECHENSCHAFT), die dokumentierten Verlagsverzeichnisse sowie beigegebenen Texte (auch von Lothar Stiehm) laden ein, Zusammenhänge, Interdependenzen, Spannungen, Widersprüche, Koinzidenzen zu erkunden zwischen Zeugnissen, die in ihrer je eigenen Weise menschliches Sein ausloten und großenteils noch heute lesenswert sind, die teilweise atemberaubend radikal, manchmal aber auch irritierend fern anmuten. "Ich war stolz darauf, daß meine Autoren originelle Außenseiter waren und Dinge auszusagen hatten, die man von den Lehrstühlen herab nicht hört." (Lambert Schneider) Aus der nur selten kommerziell begründeten Einladung der Verleger an potentielle AutorInnen entstand zwischen 1925 und 1991 eine imaginäre Gemeinschaft, die in mancher Hinsicht kostbares Potential ist, Grenzen des Denkens zu überschreiten. –

Zu entdecken gibt es eine Fülle judaistischer, christlich-theologischer und philosophisch-psychologischer Publikationen. Hier nur einige Namen: Leo Schestow, Blaise Pascal, Albert Schweitzer, Martin Buber, Viktor v. Weizsäcker, Karl Jaspers, Ludwig Binswanger.

Gleich nach 1945 öffnete Lambert Schneider seinen Verlag konsequent der (auch politisch gewichteten) Frage nach den Verbrechen, die in deutschem Namen und unter Mitwirkung zigtausender Deutscher begangen worden waren; auch zu diesem Bereich einige Namen: Alexander Mitscherlich, Michael Brink, Gustav Radbruch, Alfred Weber, Dolf Sternberger, Anne Frank, Else Lasker-Schüler.

Nach Schneiders Tod 1970 wurde der Verlag von Lothar und Christa Stiehm übernommen. Dabei wurde der seit 1966 bestehende Lothar Stiehm Verlag mit dem VLSch verbunden. Vor allem im Lothar Stiehm Verlag erschienen eigenwillige literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen: Sigrid Bauschinger (ELSE LASKER-SCHÜLER) , Franz Büchler, Christian Friedrich Daniel Schubart (DEUTSCHE CHRONIK 1774–1777), DEUTSCHE INTELLEKTUELLE 1910–1933, Dietmar Goltschnigg (MYSTISCHE TRADITION IM ROMAN ROBERT MUSILS. MARTIN BUBERS "EKSTATISCHE KONFESSIONEN" IM "MANN OHNE EIGENSCHAFTEN"), Rainer Nägele (LITERATUR UND UTOPIE. VERSUCHE ZU HÖLDERLIN), William H. Rey (POESIE DER ANTIPOESIE. MODERNE DEUTSCHE LYRIK, 1978), Johannes P. Kern (LUDWIG TIECK – DICHTER EINER KRISE), Wiebrecht Ries (TRANSZENDENZ ALS TERROR. EINE RELIGIONSPHILOSOPHISCHE STUDIE ÜBER FRANZ KAFKA, 1977), Marianne Thalmann (Romantik, 3 Bände), Dieter Wyss (DER SURREALISMUS), Klaus Voswinckel (VERWEIGERTE POETISIERUNG DER WELT) und anderes.

Mehr oder weniger bewußt suchen wir alle unser Leben lang die Wahrheit der Welt, die auch in uns selbst bewahrt ist, die wir nur in uns selbst finden – aber kaum je vermitteln können. Der Verlag Lambert Schneider/Lothar Stiehm Verlag war ein virtueller Treffpunkt für Suchende. Aber auch die Wörter, die Bücher sind ja nicht Wahrheit, vermitteln höchstens Ahnungen, geben Fingerzeige. Die Suche geht weiter.

auc-125-verlag-schneider-stiehm