Kurt Münzer: ESTHER BERG

Am ende des 19. jahrhunderts und bis zum ersten weltkrieg waren viele traditionelle soziale normen und kategorien noch virulent, hatten jedoch ihre selbstverständlichkeit verloren. Die handlung des hier wiederveröffentlichten romans (er spielt vor 1893 und erschien 1923) entfaltet sich in dieser gesellschaftlichen situation als geflecht existenzieller, tragischer situationen, konstellationen und entscheidungen. Noch suchen die personen der handlung orientierung an traditionellen, idealistisch determinierten begriffen, symbolen und konventionen, die schon damals zum sozialen konsens so wenig taugen wie zur persönlichkeitsentwicklung. Jeder und jede mußte ihnen für sich selbst sinn geben oder sie verwerfen.

In den oft hochtrabenden, zugleich aber hilflos tastenden verständigungsversuchen der figuren irrlichtern sackgassen und selbstzerstörungen des deutschen kulturvolkes zu beginn des 20. jahrhunderts. Statt das unleugbare scheitern der romantischen individuation an der bürgerlichen misere auszumalen wie viele autorInnen , sucht und findet kurt münzer individuelle, situative freiheitsmomente darin: richtiges im falschen.

Der deutsch-jüdische schriftsteller kurt münzer (1879–1944) inszeniert in diesem roman tragische konstellationen ohne möglichkeit einer verbindlichen auflösung. Tragik liegt gerade in der unauflösbaren vieldeutigkeit entsprechender situationen; jeder der mitwirkenden hat seine und ihre eigene wahrheit – es gibt keinen übergeordneten konsens. Genau so ist die situation unseres bewußtseins heute; stichworte dafür (ihrerseits aus unterschiedlichen blickwinkeln) sind verdinglichung, strukturalismus, postmoderne.

Bei jeder einzelnen konstellation in ESTHER BERG könnten wir uns fragen, wie wir selbst uns gefühlt und verhalten hätten.. – um wohl zu erkennen, daß es verwandte situationen in unserem leben kaum gibt. Aber warum nicht? Was fehlt, was ist anders, worin sind wir anders? Inwieweit verhalten wir uns anders? – Allgemeiner gefragt: Wie gehen wir mit existenziellen situationen um? Wie interpretieren wir sie, wenn wir von ihnen hören und lesen? Wie stellen wir sie dar in den künsten? In den medien? – Gibt es diese kategorie überhaupt noch in unserem bewußtsein?

Münzer liefert keine weiteren perspektiven, hypothesen, ideologeme. Seine bücher geben keine antworten – aber sie stellen fragen, die heutzutage offenbar nur noch selten gestellt werden; wir brauchen sie, um unsere antworten zu finden auf momente menschlichen lebens, die in unserer welt meist nur unterirdisch, unerkannt und unterdrückt vorzukommen scheinen.

Um die suche nach dem heute nur noch indviduell zu bestimmenden sinn des lebens geht es auch im vorliegenden roman. Im zusammenhang damit stehen geschlechtsrollen-ideologeme und tradiierte moralvorgaben, in denen die handlungsträgerInnen sich verstricken – im bemühen, ihren eigenen weg zu finden. Gerade esther bergs gnadenlos an reinheit, unschuld und scham orientiertes verhältnis zur eigenen sexualität mag heutzutage nur anachronistisch und selbstzerstörerisch wirken; jedoch geht es ihr um selbstbestimmte entfaltung dieses aspekts menschlicher lebendigkeit, der auch heute blockiert, gestört und vergiftet wird (bei jungen wie mädchen) durch mancherlei ängste, verirrungen und rollenvorgaben – nur andere.

StatistInnen gibt es in kurt münzers büchern nicht (aber auch keine heldInnen). Der autor nimmt seine figuren unbedingt ernst – jede von ihnen. Konventionelle erwartungen der leser werden seite für seite geweckt – und umgehend zerstört. Eine über der darstellung schwebende intellektuelle oder ideologische intention fehlt; gerade darum kann münzer sich besondere farben und klänge durch kolportagemomente erlauben. Vielschichtigkeit und tiefgründigkeit seiner werke liegt in szenen, konstellationen, bildern, die er kaleidoskopisch, unvorhersehbar miteinander verknüpft. Gelegentlich schmiegt sich der autor den szenen, den personen an wie ein schauspieler seinen rollen. Er komponiert seine bücher wie theaterstücke, filme oder gemälde. In manchem sind es postmoderne märchen oder parabeln, deren weisheit wir (in uns) finden können, sofern wir sie ernstnehmen.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen, – diesem sprichwörtlich gewordenen satz adornos läßt sich kaum mehr widersprechen; andererseits gibt es zweifellos noch immer: die liebe. Diese aporie wird in ESTHER BERG vielgestaltig entfaltet.

(Aus dem nachwort des herausgebers)

Bei A+C wurden von kurt münzer bereits wiederveröffentlicht die romane "Jude ans Kreuz!", "Menschen am Schlesischen Bahnhof", "Phantom" sowie eine sammlung von erzählungen: "Bruder Bär".

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