Christa Anita Brück: SCHICKSALE HINTER SCHREIBMASCHINEN

Christa anita brück (1899-1958?) war eine sensible junge frau mit feinem psychologischen bewußtsein, die wohl nicht ganz freiwillig im kaufmännischen bereich gearbeitet hat. Ihrem sozialen blickwinkel nach kam sie aus gutbürgerlichem elternhaus, vermutlich in ostpreußen, wo auch ihre romane spielen. Nach ihrem hier wiederveröffentlichten ersten buch (von 1930) erschienen bis 1941 noch drei selbständige veröffentlichungen; einer der romane wurde verfilmt.

'Schicksale hinter Schreibmaschinen' ist eines der ersten literarischen werke mit dem thema mobbing am arbeitsplatz. Prägnant wird gezeigt, wie  individualitäten im verdinglichten mechanismus der arbeitswelt so weit zurückgestutzt, verstümmelt werden, bis sie nur noch als menschliche karikaturen agieren können, - wobei täter  und opfer, vorgesetzte und kollegInnen in ihren idiosynkrasien, zwanghaftigkeiten, mit narzißtischen kompensationen und medikamenten- oder alkoholmißbrauch nicht zufällig einander oft sehr ähnlich sind.

Auch in der gegenüberstellung von großbürgerlichem selbstverständnis bei der 'deklassierten' protagonistin und kleinbürgerlich bestimmter arbeitswelt ist dieses buch ein dokument zur vorgeschichte des nationalsozialistischen deutschland und damit auch unserer gegenwart.Die hilflosigkeit der in ihrer etikette, in standesdünkel und moralischen zwängen verhafteten 'guten bürger' angesichts der gesellschaftlich zunehmend dominierenden kleinbürger (und damit auch ihre hilflosigkeit gegenüber den machttaktischen methoden der nazis) wird differenziert geschildert von viktor klemperer in seinem bekannten tagebuchwerk.

Darüberhinaus geht es um sexuelle nachstellung/gewalt als grunderfahrung berufstätiger frauen. Bis heute wird gnadenlose borniertheit, seelische zerrüttung und arroganz der macht bei männlichen vorgesetzten und ihr physiognomisches, ästhetisches korrelat nur selten ungeschönt und sinnlich prägnant dargestellt wie hier. Daß eine romanfigur männliche anmache weder in traditioneller weiblicher unterwerfung hinnimmt noch ihr als emanzipierte amazone begegnet, vielmehr entsprechende männchen bei aller eigenen leidvollen hilflosigkeit doch kalt beschreibt, in verachtung und ekel, widerspricht weiblichen rollenerwartungen noch immer.

Die meisten in 'Schicksale hinter Schreibmaschinen' subtil geschilderten momente von machtmißbrauch, impertinenz, psychoterror (mobbing), verlogener rhetorik, zwanghaftigkeit, aber auch angst, unterwürfigkeit, kollektivzwang und hilflosigkeit bzw. die unterschiedlichen neurotischen kompensationen und interaktionsmustersind mir - bis in einzelne formulierungen! - vertraut aus eigener erfahrung (als betroffener oder beobachter) in etlichen branchen, noch 50 jahre später, in BRD, berlin (west wie ost) und sachsen!

Prägnant beschrieben werden alpträume, projektive angstphantasien und andere psychotraumatische symptome bei mehreren figuren sowie eine situative eskalation bis zu suizidalen empfindungen.

Ein schlaglicht auf die undurchsichtige, in manchem paradoxe gesellschaftliche situation vor dem machtantritt der nazis gibt eine klarsichtige überlegung der protagonistin: "Gewiß sind Sie überzeugt, ein nationaler Mann zu sein. Aber in Wirklichkeit propagieren Sie den Umsturz, denn der Umsturz kommt nicht aus den Gepeinigten, die ihn vollführen, er kommt aus denen, gegen die er sich richtet."

Möglicherweise sind die in diesem buch profilierten ansprüche an das soziale leben  tatsächlich anachronistisch: "So wund bin ich geschlagen, so elendig verhetzt und in meinen Erwartungen entartet, daß allein der Klang unverfälschter Herzlichkeit mich bis zur Fassungslosigkeit erschüttert." Sind wir heute überhaupt noch in der lage, unverfälschte herzlichkeit wahrzunehmen, in unserem Falschen Selbst, mit dem wir uns abdichten gegenüber einer alltäglich gewordenen zwischenmenschlichen kälte? - "Kollegialität und Anstand", wofür die protagonistin dieses buches noch offensiv eintritt, kommt meiner erfahrung nach im arbeitsleben kaum mehr vor, dafür eine sogenannte 'teamfähigkeit', die wenig mehr ist als kollektive unterordnung unter situative machtverhältnisse. Christa anita brück schreibt: "Die Wehrlosigkeit eines feigen Hasses, der aufbegehrt, solange er allein ist und Beleidigungen schluckt, um des Brotes willen, er, nicht die Abhängigkeit meiner Stellung, erniedrigte mich. Ich sehne mich mit dem ganzen Rest  meiner früheren Lauterkeit zurück nach Achtung und Vertrauen."- Mag sein, daß derlei nuancen und inhalte heutzutage nicht mehr als literaturfähig gelten. Mir allerdings scheinen sie unverzichtbar für unser menschsein.
(Aus dem nachwort von mondrian v. lüttichau)

 Im august 2015 ist bei A+C in neuausgabe erschienen christa anita brücks zweiter roman: Ein Mädchen mit Prokura.

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Emilia Mai: BERICHT

Emilia Mai ist jetzt Anfang 20. Seit frühester Kindheit war sie sexueller Gewalt und anderer Folter unterworfen – zunächst durch den Vater, später durch eine Vielzahl fremder Männer, denen sie vom Vater (zweifellos für Geld) weitergegeben wurde. Menschenhandel, Zwangsprostitution, Folter, Sadismus, kollektive Vergewaltigungen, Produktion von Kinderpornografie: Dieser bei A+C veröffentlichte Bericht ist repräsentativ für den Leidensweg vieler Kinder und Jugendlicher, auch bei uns in Deutschland.

Emilia Mais Bericht zeigt repräsentative Nuancen, die woanders nicht so deutlich werden – und kann dadurch HelferInnen oder andere Außenstehende dabei unterstützen, sich vorzustellen, wie es Überlebenden geht, und auch: aufmerksam zu werden im Alltag, im Berufsleben (als KindergärtnerIn oder LehrerIn, als Kinderarzt, Hausarzt oder NotfallmedizinerIn).
Da sind Eltern, die als Pädagoge und Psychotherapeutin möglicherweise zu Recht anerkannt werden, die vielleicht tatsächlich Einfühlungsvermögen zeigen im Berufsleben. Daß sie andererseits eigene Kinder mißachten, vernachlässigen und im Stich lassen (wie die Mutter) bzw. foltern, vergewaltigen und "verkaufen", läßt sich zumindest hypothetisch erklären durch unterschiedliche Ichanteile (Ego States), die wiederum mit der kindlichen Sozialisation dieser Eltern zu tun haben.
Bei Emilias Eltern werden grundlegende Elemente dysfunktionaler Familien überdeutlich. Der gnadenlose Sadismus des Vaters (Täters) kann durch nichts relativiert werden. Aus prophylaktischem, epidemiologischem Blickwinkel ist es jedoch wichtig, psychische Umstände zu benennen und zu erforschen, die Grundlagen derartiger Gewaltätigkeiten sein können.

Derartige sadistische, krankhaft narzißtische oder anderweitig schwerstgestörte Väter (und andere primäre Bezugspersonen) stehen wohl oft am Anfang einer entsprechenden Leidensgeschichte. Im nächsten Schritt wird das Kind an andere Täter "verliehen" – und gelegentlich findet sich als "Abnehmerin" auch eine Kultgruppe der Rituellen Gewalt. Selbst wenn jetzt der ursprüngliche Täter (Vater/Eltern) altersmäßig ausscheidet, ist das Opfer weiterhin gefangen. Sofern sich eine multiple Persönlichkeit (DIS) entwickelt hat, passen sich die verschiedenen Teilpersönlichkeiten (Anteile) an das umfassendere Spektrum zwischen Gewalttaten und alltäglichem Leben an – als einzige Möglichkeit, unter diesen Bedingungen zu überleben. Eine derartige Konstellation dürfte das Verbindungsglied sein zwischen der zweifellos häufiger vorkommenden sexuellen Gewalt ausschließlich innerhalb der Familie (Inzest) und Gruppen der organisierten/rituellen Gewalt.

Emilia Mai bezeugt in ihrem Bericht auch eine in der medialen Öffentlichkeit noch immer gerne bezweifelte Tatsache, nämlich die Existenz von nichtregistrierten Säuglingen und Kindern. Viele von ihnen werden vornehmlich aus Osteuropa eingeschleust und hier den teuflischen Bedürfnissen entsprechender Täter geopfert.

Deutlich wird beim Vater, aber auch bei anderen Tätern, die schrittweise Steigerung der Perversion, – das Ausprobieren, das Lernen der Täter durch die eigenen Empfindungen beim Ausleben von sadistischer Gewalt, der Genuss der Macht.

Spontan möchte ich jeden Mitmenschen davor bewahren, diese Veröffentlichung zu lesen, – aber es muß auch solche Zeugnisse geben. Wie sollten Außenstehende sonst auch nur ahnen können, wie es den Opfern der organisierten, rituellen Gewalt ergeht – nicht einem, nicht hundert, nein, vielleicht tausenden allein in Deutschland. Wie sollten wir ganz normale Bürger sonst auch nur ahnen, was für ein Doppelleben manche von uns führen.

(Aus dem Nachwort)

ACHTUNG – TRIGGERWARNUNG!
Dieser Bericht enthält konkrete Darstellungen schwerster sexualisierter Gewalt!

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Gabi Lummas: WER BIN ICH? oder DAS UNGLAUBLICHE

Gabi lummas hat Rituelle Gewalt überlebt - schrecklichste psychische und körperliche traumatisierungen in der kindheit. Sämtliche erinnerungen daran waren bei ihr über viele jahre vollständig abgespalten. Als einzige botschaft von innen fungierten zunächst schlimme selbstverletzungen seit dem neunten lebensjahr. Später entstanden eine fülle von tonfiguren, die auf hohem künstlerischem niveau inneres leid nach außen zu vermitteln suchten, Aus tagebüchern entstand 1999 ein erstes, recht bekannt gewordenes buch: 'Verschlossene Seele'.

Zeitweise unterstützt durch traumatherapie, begibt gabi lummas sich in den folgenden jahren auf den weg nach innen, - sie sucht nach ihrer verschlossenen seele. Tagebuchauszüge aus den jahren 1998-2008, träume und passagen aus der traumatherapie sowie abbildungen von tonfiguren sind in dieser neuen veröffentlichung zusammengefaßt. Vielleicht noch nie wurde auch nur annähernd differenziert eine derartige selbstentwicklung dokumentiert, - eine von verzweiflung, resignation und wütendem hadern mit dem schicksal (und mit Gott) unterbrochene zunehmende achtsamkeit für eigene abgespaltene erinnerungen, empfindungen und botschaften, - solidarität für die inneren kinder, die grauenhaftes überleben mußten.

Wohl kein außenstehender ahnt, wie qualvoll für einen traumaüberlebenden das oft jahrelange gefangensein in den eigenen traumafolgen ist, - tag für tag ängste, unverständliche bilder und empfindungen, verwirrung, hilfloses nachdenken - und zumeist keine begründung dafür. Niemand, mit dem man darüber sprechen kann. Immer wieder die verzagte überlegung: Und wenn ich doch verrückt bin und mir alles nur einbilde? Bin ich eine simulantin? -

Mit unbegreiflicher lebenskraft und viel reflexiver intelligenz tastet gabi lummas sich durchs unterholz ihrer traumatischen vergangenheit, - mutterseelenallein, wie sie es zeitlebens nicht anders kannte. Ängste, gedanken und verzweiflung kreisen im kopf, nur in winzigen schrittchen, mit unzähligen wiederholungen und konkretisierungen findet sie heraus aus dem labyrinth der dissoziativen abspaltungen. Leiten läßt sie sich von der zunehmenden gewißheit, daß sie - als kind! - das schreckliche definitiv überlebt hat. Die entsprechenden lebenskräfte sind also in ihr bewahrt; an sie gilt es anzuknüpfen. Trotz der zeitweise fruchtbaren traumatherapie bleibt es im wesentlichen ein einsamer, gleichwohl selbstbestimmter heilungsweg, auf dem gabi lummas sich bis heute befindet. Traumakonfrontation und integation entwickeln sich dabei rigoros nach maßgabe innerer kräfte, qualvoll langsam, oft an der grenze zur desintegration, andererseits als bedingungslos authentischer nachreifungsprozeß. Bedeutsame voraussetzung dazu war die schwere, dann aber kompromißlose entscheidung gegen die opferrolle und für eigene selbstverantwortlichkeit: der wille, zugang zu finden zur verschlossenen seele.

(Nachwort mondrian v. lüttichau)

Achtung Triggerwarnung!

Das buch enthält durchgängig deutliche hinweise auf sexuelle gewalt, folter und rituelle gewalt!

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Gabi Lummas: WUNDERSAME WEGE

Gabi lummas hat Rituelle Gewalt überlebt. Sämtliche erinnerungen daran waren über viele Jahre vollständig abgespalten. Aus tagebüchern entstand 1999 ein erstes, recht bekannt gewordenes buch: VERSCHLOSSENE SEELE (Frankfurt/M. 1999). Zeitweise unterstützt durch traumatherapie, begab gabi lummas sich in den folgenden jahren auf den weg nach innen, - sie suchte nach ihrer verschlossenen seele. Tagebuchauszüge aus den jahren 1998-2008, träume und passagen aus der traumatherapie sowie abbildungen von tonfiguren sind in einer veröffentlichung hier bei AUTONOMIE UND CHAOS zusammengefaßt: WER BIN ICH? ODER: DAS UNGLAUBLICHE (Berlin 2012).

Im vorliegenden dritten buch dokumentiert gabi lummas eine neue phase ihres rigoros selbstbestimmten heilungsweges. Mittlerweile liegt der schwerpunkt auf botschaften von innen. Für diese dokumentation wurden bilder und ausgewählte träume zusammengestellt.

Die "erwachsene Gabi" hat jetzt kaum mehr kraft für ein aktives alltagsleben: "Am meisten leide ich darunter, dass ich in den letzten sechs Jahren zu einem 'Nichts' geworden bin, das es sich so anfühlt als hätte ich nie und nimmer was Schreckliches erlebt?!? Nur in der Nacht in meinen Träumen herrscht ein reges Leben aber am Tage bin ich nur noch eine hohle Fleischmasse, die sich durch den Tag schleift! Ich bin nur am Raten und am Protokollführen." (Mail vom 23.5.15) Aber die "erwachsene Gabi" ermöglicht durch ihre existenz dem inneren, der seele, sich darzustellen. In den bildern geschieht dies indirekt, abgespalten, symbolisch – in den träumen umso konkreter, sinnlicher.

Neben all dem leid zeigt sich in den träumen ein unzerstörbarer lebensstrom, gabis dem leben in liebe zugewandte persönlichkeit – aber wo wäre das leben nach den zu ahnenden brutalen traumatisierungen in der kindheit?Lummas' selbstbestimmter heilungsweg ist eine form der Negativen Dialektik (theodor w. adorno): in ihrem radikalen NEIN zu zerstörung, zu leid und demütigung liegt der blick auf DAS ANDERE – auf unschuldige wesen, tiere, kinder, beeinträchtigte und pflanzen; – selbst in den horrorträumen (erinnerungsträumen?) spürt gabi lebensspuren auf und erkennt diese als WAHRHEIT.

Deutlich wird ihr unbedingter impuls, hilfreich einzugreifen, wo sie hilflosigkeit wahrnimmt. "Ich leide unter all den Nöten, die hier auf Erden geschehen", steht im kommentar zu einem traum. So erlebe ich gabi lummas auch in der persönlichen begegnung.

Tiere und pflanzen, natur sind für gabi wohl existentielle momente von urvertrauen. Sie selber vermutet: "Es muss also die Liebe zu Gott sein, die mich diesen 'mysteriösen Starrezustand' ertragen läßt, anders kann ich mir diesen ganzen Prozess nicht erklären??????" (Mail vom 4..6.15)

Zunehmend erkennt gabi lummas bedingungen, möglichkeiten und zielsetzungen ihres organisch sich entfaltenden heilungsprozesses. Dieses buch dokumentiert wundersame wege der traumaheilung von innen her, die wohl nur intuitiv erspürt und entfaltet werden können – von traumaüberlebenden selbst wie auch von helferInnen, therapeutInnen.

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Guido mohammad jafar: AUFZEICHNUNGEN EINES SUCHENDEN. Der nicht "sterben" will

Neuausgabe Februar 2020

(Hrsg. von mondrian v. lüttichau)

Mein freund guido starb 1994. Das buch enthält texte und briefe aus den jahren 1980-86, die guido mir 1986 zur verwahrung gegeben hat, außerdem meine erinnerungen an die zeit mit ihm. Der buchtitel stammt von guido selbst. Die erweiterte neuausgabe enthält  zusätzlich fotos und einige weitere texte. –

Deutlich wird guidos lebenslange suche nach authentischem, unentfremdetem leben. Demgegenüber standen erhebliche seelische verletzungen aufgrund von traumatisierenden sozialisationsbedingungen. Guido mohammad jafar kann in seinen nachgelassenen texten und briefen mut machen, sich der allgegenwärtigen "normalen" entfremdung und verdinglichung nicht zu unterwerfen.

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Jo Imog: DIE WURLIBLUME

Die Erzählerin, ein etwa 12jähriges Mädchen, lebt in einem Dorf am See, im bayrischen Voralpenland, in einem einigermaßen dysfunktionalen Elternhaus. Zuwendung erfährt sie fast nur in Form unterschiedlicher Grenzüberschreitungen und sexualisierter Gewalt. Immerhin Momente dieser verstörenden, traumatischen Entwicklungsbedingungen scheint sie in Form von phantastischen Inszenierungen und Racheaktionen zu verarbeiten. Eine unbändige "polymorph perverse" Wut richtet die Protagonistin auf alles, was ihr als Opfer unter die Hände kommt: Gegenstände, Ameisen, Schnecken, gelegentlich auch Menschen. Im Morast dieser großangelegten Opfer-Täter-Umkehr entfaltet sich aber zugleich die kreative Lebenszugewandtheit des Mädchens – das ist das schauerlich Wundersame dieses zweifellos autobiografisch fundierten Romans.Nahezu Satz für Satz sind zerstörerische und lebenszugewandte Impulse verbunden. Momente ihrer spröden Liebesfähigkeit richten sich allerdings zumeist nur auf die erwachsene lesbische Freundin, Ersatzmutter und Verbündete Wurio.

Die Wurliblume erkundet und genießt das Leben – abgesehen von all den zwiespältigen sexuellen Erfahrungen – vorrangig in seinem Zusammenhang mit Zerstörung und Tod, in Stinkendem und Verwestem, im Gegenständlichen. Sie befördert Kleintiere vom Leben in den Tod, sammelt Dinge, erprobt ihre Eigenschaften … Ihre vibrierende affektive Besetzung bei all dem ist offensichtlich, Empfindungen wie Mitleid (gegenüber gequälten und getöteten Kleintieren) fehlt gänzlich.

Aber es gibt auch anderes. Sie begegnet einem Kätzchen, mit dem sie Freundschaft schließt, und einmal wollte auch dieses Mädchen ein Leben retten: einen Igel, der sich das Bein gebrochen hatte. Er starb dennoch; jetzt gehört er zu ihren tot lebenden "niemals langweiligen, immer unvollständigen Schätzen". Abseits einer seltsamen Orgie von Erwachsenen tröstet die Wurliblume eine phantasierte Entenfrau, sodaß "sie nicht mehr traurig ist, weil sie mir glaubt, wenn ich sage, daß sie schön ist". Sie spielt mit Hühnern ("Ihre Federn sind schneeweiß") und die Volkslieder, die manchmal in der Familie gesungen werden, bedeuten ihr etwas; wenn nur die Mutter singen und die Texte behalten würde! Viel Lebendigkeit liegt in ihrer Sprachphantasie, in lautmalerischen Wortklumpen und Neologismen, nicht zuletzt den dialektalen Momenten; die barocke Blumigkeit der bairischen Schimpfwörter zieht sich durch das Buch; Abzählreime, Volks- und Kirchenlieder klingen an, Duette mit Vogelstimmen entstehen...

Weg von der familiären Umgebung, zu Besuch beim Onkel, entdeckt sie ein Storchennest und winkt aus dem Auto anderen Kindern. In etlichen Momenten wird die tiefe Sehnsucht dieses Mädchens nach – ja, wonach? nach dem Gegenteil von Oberflächlichkeit, Verlogenheit, Egoismus deutlich. Aber sie hat ja selbst kaum anderes gelernt in ihrem jungen Leben. Immerhin schreibt sie Erfahrungen und Empfindungen in ein verschlossenes, verstecktes Tagebuch, kompliziert verschlüsselt gegen die feindliche Welt. Manchmal hat die Wurliblume einfach Angst, – auch "Angst vor Mutti". Manchmal gehen Alpträume und Realität ineinander über. Aber sie kämpft weiter um ihr weitestmöglich autonomes Leben.

Es ist Sándor Ferenczis "Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind", der wir in dieser Geschichte zuschauen. Die Protagonistin kriegt alles mit, ist teilweise beteiligt – und versteht doch nicht, worum es diesen Erwachsenen geht. Ihre sadistischen Impulse haben eher mit trotzig-verbissenem Erkunden der Welt zu tun, andererseits mit dem kompensatorischen Ausagieren realer (sexualisierter) Gewalt – manchmal in der Hoffnung, es würde doch sowas wie Zuwendung daraus.

Nur selten wurde Sigmund Freuds Begriff von der "polymorph-perversen" Lebendigkeit nachvollziehbarer dargestellt in einem literarischen Text. Bei Freud geht es ebensowenig einseitig um Sexualität im engeren Sinn wie bei der Wurliblume. Die Kreativität des Mädchens entfaltet sich in sämtlichen Sinnen: Gerüchen und Geschmacksmomenten, taktiler Beschaffenheit, Hitze und Kälte, Blumenzartheit, Gefühlen, Farben und Empfindungen, Hitze und Kälte, in den körperlichen, auch sexuellen Selbsterfahrungen. –

Es gehört zum kleinen Einmaleins der Psychotraumatologie: Ein Mensch in unausweichlichen und unerträglichen Lebensbedingungen, der diese psychisch nicht verarbeiten kann, hat nur drei Möglichkeiten, darauf zu reagieren: mit Flucht, Kampf oder Unterwerfung. Dies gilt umso mehr bei Kindern bei krass unangemessenen, zerstörerischen Sozialisationsumständen. Ihnen bleibt im allgemeinen nur die dritte Variante; sie unterwerfen sich den Erwachsenen (wobei es sich zumeist um Bezugspersonen handelt, von denen die Kinder sich auch aus entwicklungsbedingten Gründen nicht distanzieren können); ihre seelische Entwicklung erleidet tiefgreifende Schäden. – Unsere Wurliblume jedoch kämpft! So selten das ist: es kommt vor und ist auch von anderen Überlebenden von Entwicklungstraumata dokumentiert. Seelische Verletzungen können dennoch nicht ausbleiben und führen bei unserer Protagonistin zu den im Buch geschilderten krassen Einseitigkeiten, zu Haß und Rachegefühlen, eigener Verlogenheit (die einzige Form, in der sie unter den gegebenen Umständen ihre Intelligenz einsetzen kann, um sich zu schützen) und Mord – als letzter Möglichkeit, Momente einer als unerträglich empfundenen Erfahrung zu zerstören. Vieles davon blieb vermutlich Phantasie; verwirklicht wurde es dennoch: durch das Schreiben des Buches. Real ist aber zweifellos das Leid eines Mädchens – der Autorin – aufgrund von unangemessenen, lieblosen und gewalttätigen Sozalisationsbedingungen.

Dieses Mädchen ist Opfer, aber zum Opfer ist sie nicht geboren ; vermutlich rührt auch daher unsere Solidarität über alle Entsetzlichkeiten hinweg.

Deswegen auch kann sie zur Täterin werden. Dieses Buch ist die grandioseste Rache sexuell traumatisierter Kinder und Jugendlicher an der Erwachsenenwelt, in der bekanntlich gerade sexualisierte Gewalt normal ist. Rache ist keine Lösung, nein, aber was erwarten wir von einer kindlichen Überlebenden? Daß sie sich in ihr Leid verkriecht, ihr Leben zerstört, weil es ihr zerstört wurde? Um Hilfe bittet – aber wen?

Auch ihre Empfindungen und Verhaltensweisen sind natürliche, also letztlich gesunde Reaktionen auf ungesunde (traumatisierende) Lebensumstände: orientiert an der Selbststabilisierung des psycho-physischen Systems. Dieses Mädchen fühlt sich im Krieg, das ist sicher nicht weniger angemessen, als sich zum hilflosen Opfer machen zu lassen.

Es gibt (auch hierzulande) viele Tausende Kinder und Jugendliche, die vergleichbaren traumatischen Zerstörungen durch die soziale Umwelt ausgesetzt sind. Zweifellos finden die allermeisten von ihnen andere Kompensations- und Überlebenswege. Meist entwickeln sie ein Selbstbild als Opfer, werden prostituiert, unterwerfen sich gewalttätigen Partnern, sie fliehen in Drogenwelten, bleiben in Persönlichkeitsstörungen oder psychischen Krankheiten stecken oder werden ggf. selbst TäterInnen. Angemessene, nachhaltige Unterstützung finden die wenigsten.

DIE WURLIBLUME ist traumapsychologische Fallstudie, aber nicht nur. Uta Haaks Vermächtnis ist nichts weniger als halbbewußtes Ausagieren kindlicher Traumatisierungen; die rasante Szenenfolge ist von Anfang bis Ende durchkomponiert, hat weder Längen noch Redundanzen, keine überflüssigen Adjektive, jedes Wort ist sinnlich aufgeladen; – in seiner kompromißlosen Poesie ist es große Literatur!

DIE WURLIBLUME erschien 1969 im Gala Verlag Hamburg. 1973 erschienen englische und niederländische Ausgaben des Buches. Die Autorin, Uta Haak, lebte auf Ibiza (Spanien), arbeitete unter dem Namen Ute Schroeder als bildende Künstlerin. (1997 waren ihre Environments bei der Biennale d’art contemporain de Lyon vertreten.) Sie starb im Februar 2014.

(Aus dem Vorwort der Neuausgabe)

Achtung: Das Buch enthält Schilderungen sexualisierter Gewalt! Sie können triggern!

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Johanna Dürck: DIE PSYCHOLOGIE HEGELS

Faksimile der Dissertation von 1927.

"Fragt die naturwissenschaftliche Psychologie: Wie sind die höchsten und komplexesten Gebilde des Seelenlebens in einfache Elemente aufzulösen, so stellt der Idealismus die gerade entgegengesetzte Frage: Wie ist auch das primäre Seelische, dasjenige, in dem die schöpferische Freiheit, die das Wesen des Seelischen bildet, nicht ersichtlich ist, – wie ist auch dies aus der Einheit dieser schöpferischen Freiheit zu verstehen?"

Bereits in Johanna (Herzog-)Dürcks Dissertation von 1927 zeigt sich unmißverständlich ihr Bemühen um eine "wertverwirklichende, sinngebende" Psychologie. Grundkategorien hierfür fand sie in Hegels Anthropologie , wobei sie – nach eigenem Bekunden – wesentlich unterstützt wurde von ihrer philosophischen Lehrerin Anna Tumarkin. Ab 1933 nahm sie ihr Psychologiestudium auf; zweifellos konnte sie ihre psychologische und psychotherapeutische Konzeption gerade durch die alltäglichen Erfahrungen im NS praktisch und theoretisch ausdifferenzieren. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten entwickelte die Psychotherapeutin Johanna Herzog-Dürck (1902–1991) ihre PERSONALE PSYCHOTHERAPIE. Sie wird zu den anthropologischen Psychotherapien gezählt, die den Kranken in seinem individuellen ganzheitlichen Gefüge in den Mittelpunkt der psychotherapeutischen Arbeit stellen.

Die Schlußsätze der Dissertation lauten: "Das Problem ist noch nicht gelöst, wie das Individuelle nicht bloß negativ, gleichsam in seinem Abweichungswinkel vom Allgemeinen gesehen, sondern positiv, in seiner eigentümlichen Notwendigkeit, als eigener Ursprung von individuellen Werten, ohne welche die allgemeinen Werte niemals in Realität umgesetzt würden, erkannt werden könnte. Wie der Punkt einen Kreis von unendlicher Peripherie bestimmt, so ist das Einmalige ein Absolutes und das Nicht Wiederkehrende Unendlichkeit."

Jedoch gingen psychotherapeutische Theorie und Praxis in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts andere Wege, nicht nur in Deutschland. Nach Herzog-Dürcks Tod geriet die Personale Psychotherapie weitgehend in Vergessenheit. Zu Unrecht, wie ich meine. Eine umfassende kommentierte Textsammlung ist bei A+C als online-Veröffentlichung erschienen. Aber auch Johanna Dürcks Dissertation erscheint mir bewahrenswert, um auf eine nicht unproblematische Einseitigkeit des Erkenntnisforschritts hinzuweisen. – Wie soll es, wie wird es weitergehen mit der Psychotherapie?

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Johanna Herzog-Dürck: PERSONALE PSYCHOTHERAPIE ALS ELEMENT INTEGATIVER TRAUMATHERAPIE

Eine kommentierte Textsammlung. Herausgeber: Mondrian Graf v. Lüttichau

Der hier vorgestellte psychotherapeutische Ansatz wurde entwickelt von der Psychotherapeutin Johanna Herzog-Dürck (1902–1991). Er wird zu den anthropologischen Psychotherapien gezählt, die den Kranken in seinem individuellen ganzheitlichen Gefüge in den Mittelpunkt der psychotherapeutischen Arbeit stellen.

Personale Psychotherapie kann die therapeutische Praxis ergänzen um ihre hermeneutische und imaginative Achtsamkeit für bestimmte Aspekte menschlichen Erlebens, Erleidens und Bewußtseins, nicht zuletzt um die anthropologisch orientierte Aufmerksamkeit für die spirituelle Dimension menschlichen Bewußtseins, die sich in individuell sehr unterschiedlicher Weise äußern kann: philosophisch, ökosophisch-ganzheitlich, buddhistisch, orientiert an Tao oder anderer fernöstlicher Spiritualität, pantheistisch oder monotheistisch.

Liebe, ein Zentralbegriff ihres Menschenbildes, versteht Johanna Herzog Dürck als "reziproke Reifung von Du zu Du" , jedoch nicht in der Engführung einer Partnerschaft, vielmehr als anthropologische Grundlage, die sich in allen Formen mitmenschlicher Begegnung oder Beziehung äußern kann.

Herzog-Dürck beschreibt Satz für Satz seelische (psychische) Erfahrungen und Befindlichkeiten, die wir alle kennen – wenngleich manche von ihnen oft weit abgedrängt sind aus dem alltäglichen Bewußtsein und seinen sozial konsensuellen Momenten. Trotz ihrer Orientierung an der überragenden Bedeutung der psychischen Entwicklung in der Kindheit geht dieser Ansatz aus von einer lebenslang möglichen Weiterentwicklung der Persönlichkeit; therapeutisches Ziel ist also nicht nur die Kompensation psychischer (Entwicklungs-) Defizite. Herzog-Dürcks Personale Psychotherapie ist radikal und vorbehaltslos orientiert am Möglichkeitsraum oder Möglichkeitssinn (Robert Musil) des Menschen. Dazu gehört auch die Orientierung an der Wahrheit jeder Neurose als Ausgangspunkt des therapeutischen Weges.

Besonderes Gewicht liegt bei Herzog-Dürck auf der Traumdeutung, – die sich allerdings erheblich unterscheidet von dem öffentlich bekannteren Umgang mit Träumen, wie er von Sigmund Freud geprägt wurde. Ihre grundlegende Haltung zu diesem Thema formuliert sie folgendermaßen: "Nun ist bekanntlich die Interpretation von Träumen eine umstrittene Sache in der Tiefenpsychologie, bei der es wesentlich auf den Verstehenshorizont, auf das Menschenbild ankommt, von dem der Therapeut ausgeht. Gehört es doch gerade zum Wesen des Symbols, in verschiedene Dimensionen der menschlichen Existenz einzustrahlen, um sie im Bild zusammenzufassen. So zeigt sich bei den wissenschaftlichen Kontroversen über die Deutung eines Traums oft, daß die Auffassungen sich nur scheinbar widersprechen, in Wirklichkeit sich aber ergänzen, um eine gemeinsame Achse kreisen. Wesentlich aber scheint es uns, daß der Traum nicht benutzt wird, um eine Theorie zu beweisen, sondern daß diejenigen Züge des Traumgeschehens herausgearbeitet werden, die für das Suchen des Leidenden nach Selbsterkenntnis und Selbstfindung fruchtbar sind."

Wir Menschen haben durchaus subjektive Kriterien für unsere seelische Gesundheit und unseren Lebensweg, wir haben individuelle seelische Ressourcen – das entspricht der Natur des Menschen als einem sich seelisch lebenslang nach Maßgabe individueller Erfahrungen verändernden (bzw. veränderungsfähigen) System. Dies ist zumindest das Menschenbild der anthropologischen Psychotherapien und also auch der Personalen Psychotherapie Johanna Herzog-Dürcks.

Psychoanalytisch orientierte Therapien fokussieren bekanntlich auf psychodynamische Strukturzusammenhänge, die nicht zuletzt durch Entwicklungstraumata (Kindheitstrauma) beeinflußt werden. Durch die therapeutisch bewirkte Nachreifung und Neuordnung solcher Strukturen (auch im Erwachsenenalter) sollen die seelisch verletzenden Erfahrungen weitgehend neutralisiert werden. – Die teils neurobiologisch, teils erfahrungsbasierte Psychotraumatologie geht darüberhinaus davon aus, daß bestimmte schlimme Erfahrungen den Rahmen des bisherigen Selbstbilds/Weltbilds sprengen und dadurch psychisch nicht verarbeitet werden können; nur für sie verwendet die Psychotraumatologie den Begriff "Psychotrauma" bzw. "Traumatisierung". Aus diesem Grund müssen solche bösen Erfahrungen neurophysiologisch auf besondere Weise (unverarbeitet) gespeichert werden (traumabedingte Dissoziation). Durch die nachträgliche Verarbeitung und Integration solcher Inhalte (durch spezielle psychotraumatologische Methoden) kann der symptomatische Leidensdruck der Betroffenen gemindert werden oder verschwinden. Psychotraumatologisch orientierte Therapie fokussiert also auf die weitgehend nicht integrierten (vielmehr abgespaltenen/dissoziierten) traumatischen Inhalte selbst.

Eine Neigung zu technizistisch-mechanistischen Lösungen haben sowohl die (medizinisch-somatisch begründete) Psychoanalyse als auch die (weitgehend neurophysiologisch begründete) Psychotraumatologie. Dies wirkt sich im traumatherapeutischen Arbeitsfeld mittlerweile aus in der Konzeption immer neuer traumatherapeutischer Methoden (und "Instrumente"), die dazuhin gerne ins Korsett von Therapiemanualen geschnürt werden. Insbesondere Überlebende schwerwiegender Entwicklungstraumata (d.h. Beziehungstraumatisierungen in der Kindheit) mit ihrer Verletzung, Verwirrung und teilweisen Unentwickeltheit psychischer Strukturen brauchen jedoch therapeutische Unterstützung im gesamten Feld ihres Menschseins; – statt nur zu "überleben", müssen sie leben erst lernen.

Es gibt regelhafte Folgen von Psychotraumatisierungen, die bei beiden "Schulen" nur peripher beachtet werden und der indiviellen Kompetenz von TherapeutInnen/HelferInnen anheim gestellt sind. Stichworte für solche Folgen sind:  Scham – Schuld(gefühl) – Wozu bin ich auf der Welt? – Wer bin ich? – Wieso geschah es gerade mir? – Bin ich wert, daß mir geholfen wird? – Suche nach inneren Ressourcen, Intentionen, eigenem Wollen, eigenen Bedürfnissen – Schicksal als unauflösbare Verfügung? – Was ist "ein Mensch"? – Was ist gut? Was ist böse? – Kann ich auch anders sein? – Zukunft, Hoffnung – Was ist Liebe (für mich)? Sexualität? – Ambivalenz: Zuneigung zum Täter (primäre Bezugspersonen) – Abgrenzungen – Nein sagen …Das alles ist jedem Therapeuten/jeder Therapeutin bekannt, am Rande der "eigentlichen" therapeutischen Themen gehört es irgendwie dazu.

Meiner praktischen Erfahrung nach müssen diese Probleme bei solchen in der Kindheit einsetzenden Traumatisierungen den höchsten Stellenwert in traumapädagogischer/-therapeutischer Arbeit haben. Das mit diesen Stichworten angedeutete Leid ist meist schwerwiegender als die konkreten bösartigen Handlungen, denen die Betroffenen ausgesetzt waren. (Mit Akuttraumatisierungen habe ich keine eigenen Erfahrungen, jedoch lese ich aus entsprechenden Berichten oft eine vergleichbare Gewichtung.)

In der längerfristigen Begegnung mit Überlebenden schwerster Psychotraumatisierungen seit der Kindheit (allermeist sexualisierte Gewalt durch Bezugspersonen, Organisierte Rituelle Gewalt mit Zwangsprostitution) zeigt sich oft ein so hohes Maß an humaner Gesinnung, daß sich die Frage aufdrängt: wie kann das sein bei Menschen, die vor allem in Kindheit und Jugend fast nur unbeschreiblich grausame, sadistische Gewalt erfahren haben? Und woher kommt die Kraft zum Heilungsweg? Was haben diese Menschen für Ressourcen? Meine grundlegende Verbindung mit solchen Überlebenden war immer der Kontakt mit einer Lebenszugewandtheit jenseits aller (schlimmer) Erfahrungen, einer Lebenszugewandtheit, die durchaus auch in täterorientierten, therapieaversiven Persönlichkeitsanteilen zu spüren ist. Es war und ist im Grunde das pure Leben, das ich mit meinem puren Leben ansprechen konnte, das sich angesprochen und bestätigt, gestärkt fühlte; dies war mein "Therapiepartner". Es geht hier also auch um eine Beziehungsebene jenseits der traumatherapeutischen Methoden, der trauma-pädagogischen Interventionen. Genau diesen Blickwinkel, diese Haltung habe ich jetzt, nach bald 20 Jahre Erfahrung mit diesem Klientel, bei Johanna Herzog-Dürck wiedergefunden. Sie schreibt dazu: "Es ist die Intentionalität der Person, die zwar abgedrängt und aufgespeichert im Unbewußten, dennoch gerichtet bleibt auf die Einstimmung des Menschen in die Welt."

Nicht (nur) Symptome, Syndrome, Krankheitsbilder und theoretisch fundierte (gleichwohl hypothetische) psychische Strukturen zu behandeln, sondern Menschen auf Grundlage ihres individuellen Gewordenseins, ist in der psychotherapeutischen Praxis keineswegs selbstverständlich. Bei Johanna Herzog-Dürcks Ansatz steht genau dies im Mittelpunkt. "Alle Formen der Neurose haben das gemeinsam, daß der Mensch am Prozeß der Selbstwerdung von früh an gehindert worden ist, um sich bald in späteren Stadien selbst daran zu hindern." – Dies gilt natürlich in extremer Form für Überlebende schwerer Entwicklungstraumatisierungen!

Bereits die gedankliche, meditierende Beschäftigung mit Herzog Dürcks Ausführungen und die daraus erwachsene Selbst-Sensibilisierung kann das Spektrum der Achtsamkeit im professionellen wie ehrenamtlichen oder privaten Umgang mit seelisch oder/und körperlich leidenden Menschen erweitern. Johanna Herzog-Dürck macht Mut.Die Personale Psychotherapie hat ihre Grenzen, wie alles Menschenwerk sie hat, aber abgesehen davon ist sie radikal, das heißt: sie reicht an Wurzeln des Menschseins, soweit Psychologie das überhaupt kann. Darüberhinaus mögen manche spirituelle Wege gehen.

Diese Neuveröffentlichung versteht sich nur am Rande als Beitrag zur Psychotherapiegeschichte. Herzog-Dürcks Angebot ist offen in die Zukunft, offen für Weiterentwicklungen; es könnte hilfreich werden in unterschiedlichen therapeutischen Settings, in psychoanalytisch-entwicklungspsychologisch orientierten und psychotraumatologischen, in Seelsorge (d.h. auch christlich orientierter Hilfe) und Beziehungstherapie, Drogentherapie, Erziehungsberatung und Kinderpsychotherapie, Trauer- und Sterbebegleitung, Lebensberatung, möglicherweise in der Psychosenpsychotherapie und sogar im Zusammenhang mit spirituellen Retreats.

(Aus der Einleitung des Herausgebers)

Zugleich mit dieser Textsammlung wurde Johanna Dürcks Dissertation von 1927 als Faksimile (pdf) wiederveröffentlicht. Sie trägt den Titel: DIE PSYCHOLOGIE HEGELS.

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Jürgen Haug: AUFZEICHNUNGEN AUS EINER WANDERER-HERBERGE

Diese 1975 erschienene und hier erstmalig wiederveröffentlichte erzählende dokumentation bietet eine bis heute seltene gelegenheit, selbstempfinden und selbstdarstellung von "pennern", "berbern", "landstreichern" – wie immer wir sie, politisch korrekt oder nicht, nennen wollen, in jedemfall: dauerhaft obdachloser menschen (männer) anhand ihrer mündlichen äußerungen ahnend nachzuvollziehen, – ihre argumentationsmuster, rationalisierungen und bekenntnisse, – um menschen mit solchem schicksal auf diese weise etwas näherzukommen.

In den szenen werden regressive momente deutlich, symptome von psychotraumatisierungen (auch als NS-opfer), kognitive beeinträchtigungen, psychosen, depression, delirium tremens und das ebenfalls alkoholbedingte korsakow-syndrom; kompensation von schlimmen erfahrungen, leid, wut, verbitterung, menschenscheu; selbstunterdrückung und unterwürfigkeit, projizierte selbstverachtung und menschenverachtende, rassistisch-nazistische und sadistische impulse, schwulenhaß, abgestumpftheit, hilflose versuche, sich abzugrenzen, zu profilieren und ein mindestmaß an selbstachtung und identität zu bewahren; verfestigte soziale rollen und inszenierungen, zugehörigkeitsgefühle, feindbilder, loyalitätsreflexe; daneben aber auch selten offenbarte rudimente innerer werte, guter erinnerungen – und verschämte, vorsichtige momente mitmenschlicher solidarität. In aller kumpanei schwingt ein moment von verachtung (und selbstverachtung) mit, aber andersrum genauso.

Jürgen haug berichtet von all dem empathisch und doch nüchtern, ohne voyeuristischen oder diskriminierenden unterton.

Deutlich wird bei manchen männern eine grundlegende getriebenheit, rastlosigkeit und wurzellosigkeit, die immer wieder zum abbruch einer möglichen perspektive geführt haben dürfte. Nicht selten auch flucht und scheinbarer neuanfang als hauptsächliches problemlösungsmuster; manchmal verbunden mit der sehnsucht nach regressivem rückzug aus der welt, die durch die paternalistische versorgung in der herberge teilweise im sinne einer hospitalisierung befriedigt wird. Bei anderen jedoch ist zu ahnen, daß die nichtseßhaftigkeit, das unabhängige herumziehen genuiner ausdruck ihrer individuellen entfaltung geworden ist: selbstbestimmung, abenteuer (in der allzu stark durchreglementierten sozialen umwelt).

Jürgen haug (geboren 1940) begann 1962, sich in der BRD als hörspielautor zu etablieren. Die 'Aufzeichnungen aus einer Wandererherberge' basieren auf erfahrungen, die der autor während seines zivildienstes als wehrdienstverweigerer in einer solchen institution sammeln konnte.
Jürgen haug starb am 2. juli 2012.

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Leah Nadine: TANZ UNTER DEM REGENBOGEN

Eine schwangerschaft wird bei leah nadine zum tropfen, der das faß zum überlaufen bringt. Abgespaltene ängste und erinnerungen brechen auf und überschwemmen den alltag dieser traumaüberlebenden frau. Das besondere an diesem autobiografisch begründeten buch ist die emotionale und psychologische dichte und konkretheit, mit der dieser prozeß dargestellt wird. – So oder ähnlich geht es sehr vielen traumaüberlebenden (mit oder ohne DIS), oft erst zwischen 30 und 40 jahren, und weder sie selbst noch außenstehende begreifen, was da los ist. Panik entsteht schon allein deshalb.

Die geschilderten situationen, empfindungen und erfahrungen sind exemplarisch für multiple traumaüberlebende zu beginn ihres heilungsweges. Das buch vermittelt das hohe maß an mut, an vertrauen und offenheit, die hierfür nötig sind. MitarbeiterInnen von beratungsstellen ist es sehr zu empfehlen, aber auch therapeutInnen und ärztInnen.

Mit einem vorwort von sabine marya und einem aktuellen nachwort der autorin (zehn jahre später).

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LEBEN IN MOLL - Marys Geschichte

Marys lakonischer Bericht über ihre schlimme Kindheit, kursierte in den Jahren ab 2000 im Netz. Vor allem Traumaüberlebende haben ihn weiterverbreitet, manchmal ausgedruckt. – Am Anfang einer Lebenskatastrophe stehen oft, wie bei Mary, familiäre Umstände, an denen niemand schuld hat. Eine Mutter stirbt. Der Vater steht alleine da mit den Kindern; die Stabilität seines Lebens ist zerstört. Sowas ist "normal"; abgesehen von administrativ vorgegebenen (finanziellen) Hilfen muß mit so einem Schicksalsschlag jeder allein fertigwerden. Marys Vater ist überfordet; Schritt für Schritt bricht seine Persönlichkeit auseinander: Alkohol schläfert das Bewußtsein seines Versagens ein, krasser Eigennutz breitet sich aus. – Auf der anderen Seite stehen Jugendämter und Kinderheime, die zweifellos "ihre Pflicht erfüllen"… aber auch nicht mehr als das tun, was ihnen gesetzlich vorgeschrieben ist. – Der dritte Faktor sind potentielle Pflegeeltern, die aus durchaus unterschiedlichen Gründen Kinder annehmen wollen...

So geht es weiter, Schritt für Schritt verlieren Kinder aus solchen Lebensumständen ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft, fühlen sich nur als Objekte unvorhersehbarer Mächte. Sie lernen, unter diesen Umständen – oft ohne auch nur eine Vorstellung von Geborgenheit, Zuwendung, Nähe – immerhin zu überleben.

Das reicht schon, um Menschen für ihr ganzes Leben irreparabel zu schädigen. Kinder aus solchen Sozialisationsbedingungen haben nicht gelernt, sich abzugrenzen – oder auch nur die Legitimität der persönlichen Abgrenzung zu spüren. Im allgemeinen gehen sie davon aus, daß sie "selbst schuld" sind, wenn ihnen von anderen Leid zugefügt wird. Oft mußten sie in der Kindheit lernen, schlimme Erfahrungen aus dem Bewußtsein abzuspalten (Dissoziation); so erkennen sie auch im späteren Leben gar nicht, wenn andere sich ihnen gegenüber menschenverachtend verhalten. Sie werden leicht zu hilflosen Opfern aller Formen von sexualisierter Gewalt.

Bis heute habe ich kaum andere Texte gefunden, die uns so hautnah die gnadenlose Hilflosigkeit, die Ausgesetztheit eines solchen Kindes (und seiner Geschwister) vermitteln könnten. Mary hat ihren Bericht für viele andere kindliche Opfer und erwachsene Überlebende geschrieben. Und er kann Mut machen.

(Nachwort)

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Liane Michauck & Co. / Mondrian v. Lüttichau: TAGEBUCH EINER DIS-THERAPIE

Diese Veröffentlichung dokumentiert den therapeutischen Weg einer Überlebenden schwerster Psychotraumatisierungen mit DIS (Dissoziative Identitätsstörung/ Multiple Persönlichkeit) in den Jahren 2006–2010 mit dem Dipl.-Sozialpädagogen Mondrian v. Lüttichau.

Bei einer psychotraumatologisch orientierten DIS-Therapie liegt die Aufmerksamkeit auf strukturellen und neurophysiologischen Gegebenheiten (traumatische Dissoziation, innersystemische Funktionen, Konditionierungen, Mind Control). Daneben setze ich (MvL) auf die bewegende Kraft der mitmenschlichen Beziehung; das scheint mir nahezuliegen bei KlientInnen, die vollständig über einzelne Teilpersönlichkeiten ("Ichs") mit unterschiedlichem subjektivem Lebensalter und unterschiedlichen Lebenserfahrungen organisiert sind. Therapeutische Grundhaltung war es, die dissoziativen Anteile/Persönlichkeiten/Ichs bedingungslos ernstzunehmen als Gegenüber, mit ihnen weitestmöglich in Ich-Du-Beziehung (Buber) zu gehen und gleichwohl nie die Orientierung an der Wahrheit des Ganzen, des Systems, der Klientin zu verlieren – und diese Orientierung im Austausch immer neu in angemessener Weise zu konkretisieren.

Als ich Liane Tjane Michauck im September 2006 kennenlernte, waren zumindest die erwachsenen Anteile mehr oder weniger lebensmüde im tiefsten Sinne. So viele Jahre hatten sie um ihr eigenes Leben, um Gesundheit gekämpft, so viele Jahre Therapie, eigenes ehrenamtliches Engagement, Leben als berufstätige alleinerziehende Mutter – und noch immer Ängste , Panikattacken, Suizidalität, Perspektivlosigkeit, dazu die zunehmenden somatisch-medizinischen Probleme.

Es wird beim Lesen wohl nachvollziehbar, wieso DIS-Therapie mit möglichst allen Anteilen unabdingbar ist, da sämtliche Anteile nicht nur eigene traumatische Erinnerungen bewahren, sondern zugleich unverzichtbare Ressourcen zur Heilung tragen. Bei der damals fast chronisch suizidalen und krisengeschüttelten Klientin wäre die Therapie ohne das stabile lebenszugewandte Potential der Kinderpersönlichkeiten nicht möglich gewesen! Beziehungsmäßiger Kontakt mit Kinderanteilen bedeutet also keineswegs eine Art Bemutterungsposition; selbst "kleine" kindliche Anteile sind ernsthafte TherapiepartnerInnen, die auf ihre Weise mitarbeiten wollen und können und eigene therapierelevante Ressourcen haben. Zudem stehen innere Ressourcen und entwicklungspsychologische Kompetenzen bei den Anteilen eines multiplen Systems bis zu einem gewissen Grad wechselseitig unterschiedlichen Anteilen zur Verfügung. Dies scheint plausibel, da es in der traumatischen Vorgeschichte meist keine Notwendigkeit gab, diese Freiheitsgrade amnestisch abzuspalten. Erfahrungen mit "Außenkindern" können nur sehr bedingt Vorbild sein für den Umgang mit dissoziativen Kinderanteilen.

Eine sogenannte "Alltagspersönlichkeit" ("Gastgeberpersönlichkeit") ist erstmal nichts anderes ist als ein Anteil von mehreren, also nichts systemisch Übergeordnetes. Welche strukturell bedingte Ressourcen derjenige Anteil hat, der in der Vorgeschichte vorrangig den Alltag organisiert hat, muß innerhalb der Therapie erst geklärt werden. Die strukturelle (systemische) Innenfunktion eines dissoziativen Ichs kann sehr differieren von ihrer Funktion in der sozialen Außenwelt.

Die üblichen Bereiche einer Traumatherapie sind Stabilisierung, Traumakonfrontation und Traumaintegration. Bei Betroffenen mit DIS oder DDNOS ist die therapeutisch angeleitete Weiterentwicklung (Umstrukturierung) des Persönlichkeitssystems ein hierzu gleichwertiger Bereich, keine Nebensache, die "sich von selbst versteht". Dabei geht es um Psychoedukation für die einzelnen Anteile, Co-Bewußtsein, Altersprogression, -regression, Fusion von Anteilen, das Unterscheiden einzelner Funktionen, Erkennen von Täterintrojekten und Kontaktaufbau mit ihnen, Konditionierungen, Mind Control. Deutlich wird die Relevanz dieser "DIS-Therapie" (im Rahmen einer Traumatherapie) auch in vielen alltagsbezogenen Momenten, für die einzeln (und mit den unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten) Brücken gebaut werden müssen zwischen der traumabedingten theory of mind und gesünderen Empfindungen, Konfliktlösungsmethoden, nicht zuletzt: der banalen gesellschaftlichen Realität. Deutlich wird das extrem labile seelische Gleichgewicht – nicht aufgrund eines bestimmten Störungsmusters, sondern aufgrund vieler Faktoren (mit unterschiedlicher Genese), die situativ ausgeglichen werden müssen. Auch die Heilungsfortschritte liegen wechselseitig in all diesen Faktoren; es ist wie ein Bäumchen wechsle-dich, bei dem Ressourcen und Möglichkeiten sich überall verstecken können und vom Therapeuten/der Therapeutin dort angesprochen und gestärkt werden müssen.

Solches Flottieren von Persönlichkeits- und Entwicklungsmomenten zwischen Anteilen (bzw. "Ego States") findet sich grundsätzlich genauso bei Menschen ohne DIS, nur wird es dort bei konventioneller Sozialisation (bzw. Psychotherapie) ausgerichtet am Ideal eines widerspruchslosen "erwachsenen Ich".

Unser therapeutischer Weg macht vielleicht nachvollziehbar, wie gerade der vorbehaltlose Ich-Du-Kontakt mit möglichst sämtlichen dissoziativen Teilpersönlichkeiten die Motivation zur zunehmenden Innenkooperation stärken kann. Allerdings bleibt dies eine ständige Gratwanderung, bei der die Orientierung auf das Ganze durch die therapeutischen HelferInnen immer neu ins System eingebracht werden muß! Andernfalls würden die speziellen Einzelbedürfnisse der Anteile an einen Beziehungskontakt überwiegen (mütterliche/elterliche Zuwendung, Schutz, leibliche Nähe, Orientierung an bestimmten Lerninhalten, Wunsch nach kindgerechten SpielgefährtInnen, Täterprojektionen, Ausagieren von Erfahrungen mit destruktiver Sexualität, Sehnsucht nach selbstbestimmter Sexualität).

Vorstellbar wird auch das sehr organische und individuelle Heilewachsen einzelner Anteile, das allerdings viel Realzeit erfordert. Derart umfassender, ausdifferenzierter Austausch mit den dissoziativen Ichs läßt sich mit der Zeitökonomie einer kommerziellen Psychotherapie meist nicht vereinbaren. Dieses Therapietagebuch könnte immerhin dazu beitragen, Betroffenen, Angehörigen und HelferInnen die konkrete Beziehungsdynamik zwischen Traumaüberlebenden mit DIS und HelferInnen affektiv vorstellbarer zu machen, als es Fachbücher oder nachträglich verfaßte autobiografische Berichte von Betroffenen vermögen.

(Aus dem Nachwort)

Siehe auch  von Liane Tjane Michauck & Co.:  "SCHRITTE INS LEBEN. Gedichte aus dreißig Jahren" (hier)

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Liane Tjane Michauck & Co: EINE UNGEWÖHNLICHE FAMILIE

Manche menschen mußten bereits als kleinkinder und während ihrer kindheit und jugend unvorstellbar brutale gewalttaten erdulden, meist auch von den eigenen eltern. Überleben konnten sie diese hölle oft nur, indem ihre seele sich in verschiedene persönlichkeiten teilte. - Tjane, liane, katharina, martina, jane, krissy, taralenja und ein baby sind ein solches "multiples system". Diese veröffentlichung enthält gedichte, die entstanden sind im versuch, etwas von dem leid auszudrücken, mit dem sie alle weiterleben müssen – und von dem täglich neuen widerstand gegen die erinnerungen.
Zugleich sind sie poetische dokumente bewahrter menschlichkeit, innerer schönheit und liebesfähigkeit.

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Siehe auch Liane Michauck & Co. / Mondrian v. Lüttichau: TAGEBUCH EINER DIS-THERAPIE (2021)

Die Gesamtausgabe der Gedichte ist HIER!

Liane Tjane Michauck & Co: SCHRITTE INS LEBEN

GEDICHTE AUS DREISSIG JAHREN 

Wir sind die familie Michauck - -
das heißt wir sind multipel und heutzutage leben fünf personen in einem körper.
Physische, psychische, sexuelle und rituelle gewalt haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind.
Inzwischen ist der körper 63 jahre alt und es gibt zwei erwachsene (liane und martina), zwei jugendliche (jane und krissy) und ein kind (taralenja).
Aber es war nicht immer so. Wir waren einige personen mehr, die inzwischen durch fusionen zusammen gefunden haben. Wir lebten jahrzehnte lang am rande des abgrundes. Suizidgedanken und verletzungsdruck begleiteten uns ständig.
Eine jahrelange traumatherapie stabilisierte uns nicht. Aber zumindest wurde nach einigen jahren Dissoziative Identitätsstruktur (DIS, "Multiple Persönlichkeit") diagnostiziert.
Trotzdem wurde und wird von uns erwartet, dass wir funktionieren.
Wir haben in unserem leben zwei studienabschlüsse gemacht, jahrelang gearbeitet, ein kind groß gezogen.
Später haben krankenhausaufenthalte, eine erneute traumatherapie sowie ein jahr außenwohngruppe uns sehr geholfen, uns zu stabilisieren. Seit 2020 müssen wir wegen unserer schwerwiegenden körperlichen erkrankungen in einem pflegeheim leben.

Jahrelang haben wir nach möglichkeiten gesucht, unsere vergangenheit aufzuarbeiten. Wir haben gemalt und gedichte geschrieben. Beides spiegelt alle unsere facetten wider, unsere verzweiflung, den lebensüberdruss, aber auch schönheit und lebensfreude.
Diese online-veröffentlichung enthält unsere allermeisten gedichte (und viele zeichnungen und gemälde).In manchen gedichten und bildern geht es um schreckliches – das uns geschehen ist, wie es noch unzähligen anderen menschen widerfährt, auch heutzutage, auch bei uns – vielleicht beim nachbarn!

Wir bitten alle leser*innen, auf sich aufzupassen und manche gedichte vielleicht zu überblättern.

Aber es geht auch um schönes, hoffnungsvolles, um liebevolle momente. Es ist unser leben.

jane & MARTINA & liane & krissy & taralenja

auc-153-michauck-schritte (pdf 4,8 MB)

Maja: ACHTSAMKEIT … oder: Ein kleines Stück Freiheit

Diese Seiten sollen zeigen wie wertvoll das Leben ist.
Wie viele wunderschöne Facetten die Natur, unsere Umwelt zu bieten hat.
Wie schön die Dinge sind, die nicht mit Geld zu bezahlen sind.
Man muss nur achtsam sein, hinschauen und genießen.
Diese Seiten sollen auch für all die Menschen sein, die Probleme haben, kleine und große.
Es soll helfen im Hier und Jetzt zu halten, das Bewusstsein jedes einzelnen zu öffnen.
Dass es helfen kann, sich auf die vorhandenen
wunderschönen Dinge im Leben zu konzentrieren.
Das "Schlimme" für ein paar Momente
hinter sich lassen zu können...

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Martha Wertheimer: ENTSCHEIDUNG UND UMKEHR

(Herausgeber: mondrian v. lüttichau)

Der hier erstmalig wiederveröffentlichte roman erschien 1937 (unter dem titel 'Dienst auf den Höhen'). Die autorin wurde 1942 ermordet, wahrscheinlich im vernichtungslager sobibor.

Martha wertheimer studierte in frankfurt/m., arbeitete als redakteurin, war fechterin, engagierte sich für das frauenwahlrecht. Sie verstand sich als zionistin und übernahm nach 1933 vielfältige aufgaben in entsprechenden institutionen, organisierte und begleitete transporte jüdischer kinder ins rettende ausland. Nachdem ihrer schwester (mit der sie dauerhaft zusammenlebte) der paß entzogen worden war, entschied sich auch martha, in deutschland zu bleiben. Sie engagierte sich stärker im religiösen leben, übernahm funktionen, die sonst rabbinern vorbehalten waren. Dabei orientierte sie sich an jüdischen gelehrten und (reform–) rabbinern, die brücken schlagen wollten zwischen dem 20. jahrhundert und dem spirituellen und ethischen gehalt der jüdischen tradition: leo baeck, martin buber, franz rosenzweig, max dienemannund anderen.

'Entscheidung und Umkehr' interpretiert das biblisch überlieferte geschehen um die könige david und salomo sowie salomos schwester tamar. Das unmittelbare bündnis gottes mit den juden als gemeinschaft legt das gewicht der religio (als rückbindung an eine übergeordnete grundlage menschlichen seins) auf die diesseitige menschliche gemeinschaft: Gottes wahrheit läßt sich nur im menschlichen miteinander verwirklichen!Die befreiung des judentums aus angemaßter macht oder totem ritual erwächst aus individuellen entscheidungen in der sozialen gegenwart; - diese grundlage der jüdischen religiosität gilt für martha wertheimer (in orientierung vor allem an dem religionsphilosophen martin buber) auch für ihre eigene zeit - und sie ist heute mehr denn je eine relevante alternative zum christlichen verständnis göttlicher gnade.

'Entscheidung und Umkehr' ist darüber hinaus eine der ersten (angemessenen) literarischen darstellungen der folgen einer vergewaltigung im kindesalter aus dem blickwinkel der betroffenen frau.Herzzerreißend deutlich wird das persönliche leid des mädchens tamar als opfer männlicher arroganz der macht vermittelt - tamars versuche, die vergewaltigung durch den halbbruder seelisch zu überleben. Im ganzen buch wird martha wertheimers besondere aufmerksamkeit deutlich für das empfinden der beteiligten frauen, ein blickwinkel, der in der biblischen überlieferung keine rolle spielt. - 'Entscheidung und Umkehr' wird getragen von wertheimers sehnsucht nach einer menschenwürdigen welt jenseits von patriarchalischer machtgier – und ihrer hoffnung darauf. Hier hat martha wertheimer ihre liebe zum leben bewahrt, ihre tiefe menschenkenntnis und ihre trauer über das leid, das wir menschen einander zufügen ungewollt oder willentlich, zu allen zeiten. Das buch ist eine der bedeutenden botschaften des vernichteten deutschen judentums, ist teil des zeitlosen widerstands gegen zerstörung des lebens durch vom ganzen der welt abgespaltene menschenmacht.

Mit einem anhang: Martha wertheimer über hanna rovina und das zionistische theater HABIMA.

(Achtung: Martha wertheimer wurde 1890 geboren, nicht 1880, wie im buch behauptet. Der fehler wird in einer späteren auflage korrigiert werden!)

Ebenfalls bei A+C wiederveröffentlicht wurde martha wertheimers 1933 erschienener antimilitaristischer krimi "Maschine F 136".

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Merle Müller: ZEUGNISSE AUS DER RITUELLEN GEWALT (Erster und zweiter Teil)

Organisierte Rituelle Gewalt umfaßt physische, sexuelle und psychische Formen von Gewalt, die planmäßig und über lange Zeiträume ausgeübt werden, teilweise im Rahmen von Zeremonien / Ritualen. Die Opfer werden psychisch konditioniert, um sie gefügig zu machen für Kinderpornografie, Zwangsprostitution, teilweise auch satanistisch begründetem Morden an Babys.
Infolge der seit frühester Kindheit erfahrenen Traumatisierungen kommt es bei den Opfern häufig zur Ausbildung der Dissoziativen Identitätsstruktur (DIS, "Multiple Persönlichkeit"). Diese letzte Möglichkeit der Psyche, sich zu schützen, wird von Tätern ausgenutzt, um einzelne Persönlichkeitsanteile für bestimmte Zwecke einsetzen zu können. In diesem Zusammenhang berichten Betroffene von Konditionierungen, mit deren Hilfe "Programme" (posthypnotische Befehle oder Befehlsketten) verankert wurden (Mind Control). Auf diese Weise werden Opfer auch zu Gewalthandlungen gezwungen.
Aussagen über das Täterverhalten sind aufgrund von dissoziativer Abspaltung (Amnesie) sowie der durch Täter geschürten Drohungen, aber auch Schuld- und Schamgefühle der Opfer oft nur im Rahmen psychotherapeutischer Aufarbeitung möglich. Geheimhaltung, teilweise Anonymität von Tätern, Unbekanntheit der Tatorte und der oft große zeitliche Abstand erschweren eine strafrechtliche Verfolgung.

Merle Müller ist 40 Jahre alt, auch sie ist Viele (hat eine Dissoziative Identitätsstruktur). Seit dem dritten Lebensjahr ist sie der sexualisierten Gewalt ausgeliefert, – zunächst durch einen Großvater, dann durch den Vater, der schon das kleine Kind an Kumpane weitergegeben hat. Wie bei anderen Opfern von inzestuöser sexualisierter Gewalt gehörten neben solchen Drohungen auch Tiertötungen und darauf bezogene Morddrohungen und teufliche Doppelbotschaften zu den ersten Konditionierungen.
Konsequent wurden in der Kindheit durch die Täter dissoziative Abspaltungen (Persönlichkeiten, Anteile) "hergestellt" (im allgemeinen durch bewußt herbeigeführte Todesangst/Panik) und zu bestimmten Aufgaben konditioniert.
Merle & Co. und andere Opfer solcher Tätergruppen sind lebenslang versklavt, sie kennen es nicht anders, als daß sie Objekt sind, daß es ihr Daseinszweck zu sein scheint, die Forderungen anderer zu erfüllen. Sobald sich Widerstand regt, wird die Schraube der Folter, des Terrors mal kurz angedreht; so ist es noch heute.

Bei Merle & Co, die nur in sehr eingeschränkter Weise erwachsen werden konnte, lebt letztlich noch immer die kreatürliche, kindliche Erwartung, daß tatsächlich zeitnah geholfen wird, sobald Außenstehende von den Schrecklichkeiten erfahren und "es glauben". Demgegenüber sahen und sehen sich Merles Persönlichkeiten einer Flut von organisatorisch-administrativen Zusammenhängen und Begründungen gegenüber, die alle darauf hinauslaufen, daß Hilfe auch jetzt noch von unübersehbar vielen Bedingungen abhängt und sozusagen in den Sternen steht. Das wirkt wie Verhöhnung durch denjengen, der doch beteuert, daß er helfen will!

"Ich kann nicht verstehen, warum die mich nehmen!? Was an mir falsch ist! Was mich so billig macht! Bin ich so viel dümmer, als die anderen? Es geht nicht in meinen Verstand, wie Menschen, Kinder wie Scheiße, wie Dreck, wie Abfall behandeln, benutzen können? Ständig stelle ich mir die Frage, was ich gemacht habe? Zu böse war?"– Nele (12) war zu diesem Zeitpunkt noch in der Realität der Kindheit. Der gleichalte Anteil Doris ist dagegen bereits in der Gegenwart und erinnert sich an die Kindheit, in der sie zu anderem Zweck als Nele konditioniert wurde: "Gut vielleicht bin ich ein Spätentwickler aber das die ganzen bösen Menschen mit mir Sex machen wusste ich da nicht das es falsch ist. Eben erst jetzt durch dich. Ich erinnere an einen Satz. Das machen nur die mit dir die dich ganz besonders liebhaben! Es ging darum es keinem zu sagen weil die mich dann nicht mehr lieb haben werden sondern nur sehr böse auf mich werden."

Was Opfer von jahrelanger, seit der Kindheit bestehender sexualisierter Gewalt abhält, Hilfe zu suchen, ist bei Merle & Co. und wohl auch bei anderen Opfern nicht vorrangig die Gewalt, der sie selbst ausgesetzt sind. Es gibt andere Faktoren, die jedoch manchmal zu wenig berücksichtigt werden von HelferInnen aller Professionen. Die Überzeugung, selbst schuldig geworden zu sein, selbst böse zu sein, Hilfe nicht zu verdienen, steht an erster Stelle. Dabei spielen ungewollte sexuelle Empfindungen während der sexualisierten Gewalt eine entscheidende Rolle. Scham, die Überzeugung, Außenstehende könnten sich vor ihnen nur ekeln, aber auch die Überzeugung, sie seien genauso böse wie die Täter. Dann die jahrzehntelange Erfahrung, daß Außenstehende, deren Aufgabe das Helfen ist, nicht zuhören, nichts verstehen und fehlinterpretieren. Bürokratische Mechanismen und organisatorische Begrenzungen wirken sich aus, als steckten Täterinteressen dahinter. Zumal Täter ihnen einreden, daß niemand sich für ihr Schicksal interessiert bzw. Behörden, Polizisten zu ihnen (den Tätern) gehörten. Eine andere, kaum überwindbare Hürde sind Drohungen der Täter, Angehörigen zu schaden, sie zu töten, falls das versklavte Opfer auszusteigen versucht.

Nur in Kooperation möglichst vieler Anteile kann die Befreiung von den Tätern (durch Mithilfe äußerer Helfer) organisiert werden. Jedoch ist das dazu nötige Co-Bewußtsein, also das Auflösen amnestischer Barrieren, bei bestehender Tätergewalt nur sehr eingeschränkt möglich, da ja gerade die amnestischen Abspaltungen das seelische Überleben angesichts der tagtäglichen brutalen Gewalt ermöglicht hat; – ein Teufelskreis (nicht der einzige)!

Ein besondere Schwierigkeit liegt (wie meist zu Beginn der therapeutischen Arbeit mit Multis) darin, der bisherigen Außenpersönlichkeit die Realität der Tätergewalt zu vermitteln. Merle ist am Funktionieren eines konventionellen Alltags, an den guten, liebevollen Aspekten des Lebens orientiert, ist ihrer Tochter wertschätzend, achtsam zugewandt: "Ich will doch nur eine Mama sein." Wie sollte sie die grauenhaften Tatsachen damit vereinbaren?! "Das was ich träume, kann unmöglich wirklich sein! Das ist zu schrecklich!!!!" Andererseits war sie für lange Zeit die einzige an der Außenwelt orientierte erwachsene Teilpersönlichkeit, insofern unverzichtbar für die Organisation der Befreiung.

Die Opfer sind seit ihrem Lebensbeginn isoliert von der ganzen menschlichen Gemeinschaft – sie wissen kaum etwas von ihr, gehen davon aus, die ganze Welt ist so wie die Täter. Es ist die reale Hölle, in der sie sich fühlen. Sie können sich niemandem offenbaren. Und viele von ihnen (vor allem die kindlichen Anteile) denken, sie selbst seien schuld an dem Schrecklichen. Sie tun fast alles nur mögliche, um die Bezugspersonen zufriedenzustellen, geliebt zu werden von ihnen.Der Anführer der Tätergruppe, die Merle & Co. versklavt, läßt sich aus gutem Grund "Vati" nennen. – "Vati nimt mit Past auf läst nicht allein hat ganz lieb Mus nur lieb sein nichts Sagen dürfen fein spilen dan tut nicht so weh artig sein", schreibt ein Kinderanteil im Flashback.
Daneben gibt es noch ein anderes, genauso wirkungsvolles Druckmittel, das solche Täter ihren Opfern seit der frühen Kindheit einbleuen: die Drohung, andere zu schädigen, die dem Opfer lieb sind. Bei Merle & Co. war das zunächst ein Meerschweinchen, das der Vater vor den Augen der Siebenjährigen tötete. Später wurde eine Katze gequält, aber bald kam die Drohung: "Das was ich mit dir mache ist noch lange nicht alles! Es hört nicht auf! Keiner hilft. Du sagst kein Wort sonst tun wir dasselbe mit deiner Schwester! Das alles ist allein deine Schuld! Du wolltest es so! Sei still sonst schlitze ich dich auf!"

Wir alle entwickeln in der Kindheit und Jugend Vorstellungen von uns selbst, von anderen Menschen und von der Welt, dem Leben, die auf unseren (kindlichen) Erfahrungen einschließlich der "pädagogischen" Einwirkungen anderer beruhen (theory of mind). Wenn jemand bereits als Kind in einer nahezu hermetischen Täter-Hölle ohne auch nur einigermaßen freie Entfaltung des Bewußtseins in die Welt hinaus aufwächst, kann sich bei ihm nur eine spiegelbildliche, ebenfalls hermetische, rekursive und dichotomische theory of mind entwickeln. Dies wird in der vorliegenden Dokumentation deutlich. Auch aus diesem Grund müssen wohl nicht wenige erwachsene Opfer entsprechender Tätergruppen als hilflose Personen verstanden und entsprechend (auch gemäß SGB XII) unterstützt werden.

Viele Anteile bei Merle & Co. wollen befreit werden, würden auch aussagen vor den Strafverfolgungsgehörden – wären da nicht die Drohungen der Täter, in diesem Fall die Tochter Amelie zu töten. Seit früher Kindheit haben Täter den Anteilen bewiesen, daß sie töten können. Zuerst ein Meerschweinchen, dann eine Katze, dann das erste eigene Kind, da war Merle zwölf Jahre alt. Später andere Babys, fremde wie auch eigene.

Die Existenz der Organisierten Rituellen Gewalt wird mittlerweile kaum mehr bestritten; Strafverfolgungsbehörden verweisen jedoch auf die Schwierigkeit, beweisbare Tatbestände zu finden. Nachvollziehbar, wenn die Taten viele Jahre in der Vergangenheit liegen. Hier aber geht es um gegenwärtige, tagtägliche Schrecklichkeiten! Es geht um den Hilferuf eines Opfers an die Gesellschaft, deren zufällige Adressaten die Fachkräfte der Traumastation einer Universitätsklinik und ich sind.
Befreiung in dieser Situation erfordert die tätige Unterstützung staatlicher Institutionen. Es geht um dauerhaften Schutz für Mutter und Tochter.Das ist von einzelnen HelferInnen nicht zu leisten, hierfür bedarf es der organisatorischen Kooperation verschiedener staatlicher und gemeinnütziger Stellen. Dies wiederum setzt zumindest grundlegende Kenntnisse über die psychische Situation entsprechender Überlebender voraus. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist, daß solche Opfer in mancher Hinsicht keine selbstverantwortlich entscheidungsfähigen Erwachsenen sind, sondern hilflose Personen. Dies auch dann, wenn einzelne dissoziative Anteile sehr kompetent sind innerhalb ihrer Aufgaben im Alltag. Hilflose Person ist allerdings nicht im Sinne einer psychischen, somatischen oder kognitiven Beeinträchtigung zu verstehen, vielmehr eher so, wie Kinder hilflos sind.

Anlaß dieser Veröffentlichung ist es, Merle Müllers Hilfeschrei einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, – den Menschen die Augen zu öffnen, wie Doris mehrfach betont hat. Ist es möglich, daß in einem der reichsten Länder der Erde die öffentlichen, staatlichen Stellen solche Opfer ihrem Schicksal überlassen – oder der zufälligen und unzureichenden Unterstützung einzelner TherapeutInnen und Angehöriger? Daß das staatliche Gewaltmonopol hier nicht tätig wird? Daß die polizeiliche Aufgabe der Gefahrenabwehr hier nicht trägt?
Die Mails von Merle & Co. stehen für ungeschriebene Zeugnisse hunderter Opfer. Zu wenig, um staatliches Handeln zu rechtfertigen?

Ein weiterer Schwerpunkt dieser Veröffentlichung ist es, die konkrete Situation, die Reflexion, das Empfinden von Menschen (zumeist Frauen) zu verdeutlichen, die von Tätergruppen des organisierten Verbrechens versklavt werden: Menschenhandel, Zwangsprostitution, Rituelle Gewalt, Mind Control. Das sind nicht einfach Menschen mit einer abgrenzbaren und dignostizierbaren "Störung", sondern jede von ihnen ist eine menschliche Ganzheit, die in schwer nachvollziehbarer Weise in jeder Minute um ihre Integrität, letztlich um ihr Überleben kämpft. Und dies nicht in afrikanischen oder asiatischen Kriegsgebieten oder verirrt im Dschungel, auch nicht im KZ der Nazis, sondern hier unter uns, umgeben von Mitmenschen … und doch wie unsichtbar. Im öffentlichen Diskurs kommen sie nicht (oder kaum) vor. Niemand kommt auf sie zu und reicht ihnen die Hand. Noch immer lebt tief in ihrem Innern die Überzeugung, daß "helfen" etwas Natürliches ist, ein Grundbestandteil des menschlichen Lebens, – aber es geschieht nicht. Niemand hilft, Jahr um Jahr nicht. Institutionalisierte HelferInnen wenden sich ab, sofern das entsprechende Betreuungssetting von den Betroffenen nicht genutzt werden kann oder sobald die Finanzierung ausläuft. "Wenn nicht der größte Teil der Innenpersönlichkeiten die Befreiung von den Tätern befürworten und unterstützen, ist ein Ausstieg, ist Therapie nicht möglich." So oder ähnlich steht es in Fachbüchern. Aber der Satz ist unvollständig. Ein Ausstieg ist dann angesichts der kaum vorhandenen staatlichen Unterstützung nicht möglich! – Derselbe blinde Fleck mußte überwunden werden, als es um die schulische Integration (später: die Inklusion) körperlich wie psychisch und kognitiv beeinträchtigter Mitmenschen ging. Wer würde infrage stellen, daß Merle Müller (und viele andere Überlebende derartiger jahrezehntelanger Folter und Konditionierung/Mind Control) zu dem durch die Behindertenrechtskonvention der UN gemeinten Personenkreis gehört?

Durch das hier vorliegende Zeugnis wird nachvollziehbar, daß das Eingreifen von Strafverfolgungsorganen bei erwachsenen Opfern von Ritueller Gewalt (mit DIS) sich orientieren muß an kindlichen Opfern von Straftaten: es kann nicht gewartet werden, bis das Opfer selbst sich äußert – aufgrund der Ängste und der entwicklungspsychologischen Struktur des Persönlichkeitssystems wird dies eventuell nie geschehen.Für Opfer von Ritueller Gewalt bei bestehender Tätergewalt sind spezielle Anlaufmöglichkeiten nötig. Geschützte Lebenssituationen und interdisziplinäre Vernetzungen müssen zur Verfügung stehen bereits vor der Befreiung. (Dies gilt analog zu Opfern von Zwangsprostitution, die als Erwachsene eingeschleust wurden.) Schutz, auch von eventuellen Kindern (die als Drohung genutzt werden), muß vorrangig sein (analog zu Frauenhäusern). – Die gnadenlose soziale Isoliertheit solcher versklavten Opfer (jedenfalls der allermeisten Persönlichkeitsanteile) ist ein Grundproblem, das Fehlen jeder Erfahrung mit der konventionellen Alltagswelt ein anderes. Wegen der durchgängig schlechten Erfahrungen mit anderen Menschen gibt es kaum Hoffnung auf Hilfsmöglichkeiten in der Außenwelt. Durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit sollte sowohl die Existenz solcher Tatzusammenhänge als auch von Anlaufstellen verbreitet werden. Die Tabuisierung des Themas – weil wir alle solche Schrecklichkeiten nicht wahrhaben wollen und eventuell auch aus anderen Gründen – muß aufgelöst werden.
Menschen in der Gewalt solcher Täterkreise, seien sie noch Kinder oder schon (nominell) Erwachsene, fallen offenbar durch das Netz der administrativen Unterstützungsmöglichkeiten. "Wir tun alles Menschenmögliche!" heißt es häufig bei polizeilichen Pressesprechern, sofern Gewaltverbrechen öffentliche Aufmerksamkeit erreichen. Gilt dies auch bei Gewaltopern wie Merle Müller?

Traumatherapeutische Fachbücher zum Thema Organisierte Rituelle Gewalt sind unersetzbar, über die subjektiven Empfindungen von Opfern können solche Veröffentlichungen kaum etwas vermitteln. Die Realität von multiplen Teilpersönlichkeiten in ihrer (Mit-) Menschlichkeit, ihrem Alternieren zwischen innen und außen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen unterschiedlichen Quellen von Erfahrung und Wissen wird für uns "Unos" (nicht multiple Menschen) wohl immer extrem schwer nachzuempfinden, also letztlich: glaubhaft sein. Eine grundlegende affektive Nähe zu solchen Betroffenen dürfte jedoch Voraussetzung sein, um Opfer extremer Gewalt mit DIS nachhaltig zu unterstützen. Autobiografische Zeugnisse, Selbstberichte und auch die hier vorliegende Dokumentation sind für TherpeutInnen und andere HelferInnen unverzichtbare Ergänzungen der konzeptionell und notwendigerweise verallgemeinernd angelegten Fachveröffentlichungen.

Was tun also? Die Augen zumachen, Merle Müller (und andere Opfer in vergleichbarer Situation) ihrem Schicksal überlassen – mit Verweis auf die Beschränktheit der sozialen, staatlichen, finanziellen, politischen, individuellen Hilfsmöglichkeiten? Gehen die Interessen der Täter und unsere (diejenigen der ganz normalen Bürger) hier konform? Zumindest in ihrer gnadenlosen, bewußt-losen Orientierung an einer beziehungslosen Sexualität sowie an der finanziellen Verwertung von Menschen um jeden Preis stehen diese Täter der gesellschaftlichen Normalität grundsätzlich näher als ihre Opfer.
(Aus der Einleitung)

Die beiden umfangreichen Teile der Dokumentation enthalten den (helferischen und freundschaftlichen) Mailaustausch zwischen verschiedenen Teilpersönlichkeiten von Merle Müller und mir aus den Jahren 2017 und 2018. Der Kontakt besteht fort.

Zusammenfassung in der Fachzeitschrift TRAUMA (Asanger Verlag) - hier!


Merle Müller ist noch immer in der Gewalt der Täter.

Erster Teil: WIRD KEINER HELFEN ?
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Zweiter Teil: VATI HAT MICH !
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Mondrian Graf v. Lüttichau: DISSOZIATION. TRAUMA. RITUELLE GEWALT

Hinweise für Betroffene und HelferInnen

Erster Teil: Grundlagen

  • Trauma in Kindheit und Jugend
  • Was ist das eigentlich – Traumatherapie?
  • Strukturelle Dissoziation
  • Borderline-Syndrom
  • Dissoziative Identitätsstörung (DIS)
  • Persönlichkeitsanteile, Dissoziation und Trauma: Hintergründe und Zusammenhänge
  • Organisierte sexualisierte/rituelle Gewalt und Mind Control

Zweiter Teil: Probleme und Ausblicke

  • Traumatherapeutische Heilpädagogik bei einer kognitiv schwer beeinträchtigten Frau
  • Wieso viele Opfer von ritueller Gewalt keine Hilfe suchen
  • Psychose, Dissoziation und Trauma
  • Mutismus als Traumafolge
  • Über das Leugnen von DIS, Organisierter ritueller Gewalt und Mind Control
  • Sándor Ferenczi – ein früher Traumaforscher
  • Die Wurliblume. Kein Unterhaltungsroman
  • Johanna Herzog-Dürcks Personale Psychotherapie als Element integrativer Traumatherapie?

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Mondrian w. graf v. lüttichau: THERAPIE ODER LEBEN ? – Begegnungen in der akutpsychiatrie

Neuauflage November 2018 (mit einem Beitrag von Rosemarie Haase, Leipzig)

Bestandteil meiner empfindungen und erfahrungen während der dreijährigen arbeit in verschiedenen akut- und subakutstationen eines psychiatrischen krankenhauses (in berlin) war die selbstverständlichkeit, 'außenseiter' zu sein und fast ausschließlich mit 'außenseitern' zu tun zu haben, seit der kindheit. – Gesellschaftliche ordnungskategorien wie 'krank', 'gesund', 'vorgesetzter', 'untergebener', 'professionelle beziehung', 'arbeit', 'hobby', 'privatleben', 'klient', 'helfer' waren von daher für mich nie selbstverständlich, vielmehr habe ich dem sinn jeder begegnung situativ gerechtzuwerden versucht, egal mit wem. – Dabei war und bin keineswegs ich als 'profi' immer der 'helfende'und jemand mit 'psychischer erkrankung'demgegenüber die oder der 'hilfebedürftige'. – "Es sollte immer ein geben und nehmen sein, - nur dann kann ich vertrauen haben zu einem freund oder einem therapeuten!" hat mir unlängst jemand gesagt..

Mitgenommen habe ich die überzeugung, daß die akutpsychiatrie unter den gegebenen gesellschaftlichen bedingungen nicht reformierbar ist. Allenfalls kann sie kriseninterventionsfunktion haben. Sofern 'therapie' etwas im sinne von gesundwerden, heilen meinen soll, ist der begriff in diesem zusammenhang nicht angebracht.

Mitgenommen habe ich aber vor allem das geschenk von begegnungen, die mir bis heute orientierung und bestätigung sind. Noch immer dankbarkeit, noch immer trauer - -

Mitgenommen aus der zeit in der akutpsychiatrie hab ich nicht zuletzt die erfahrung, daß es tatsächlich um liebe geht, - und daß liebe letztlich nur eines bedeuten kann: vorbehaltlose achtsamkeit für ein gegenüber, für die menschen, für das leben.

Die neuausgabe 2018 wurde durchgesehen und erweitert um abbildungen (aus der gestaltungstherapie) sowie einen anhang zum gedächtnis an SONJA GERSTNER. Darüberhinaus enthält sie einen beitrag von rosi haase (leipzig): "Meiner Erfahrungen mit der DDR-Psychiatrie" sowie faksimiles eines flugblattes des NEUEN FORUMS (november 1989) zur situation von psychiatrie-betroffenen in leipzig.

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Petra Nürnberger: MEINE FREUNDIN PAULA N. – Wie es weiterging. Leben voller Hoffnung

Petra nürnberger ist überlebende von schwersten psychischen traumatisierungen in der kindheit. Neben anderen traumafolgeschädigungen entstand bei ihr eine dissoziative identitätsstörung (DIS, umgangssprachlich "multiple persönlichkeit"). Ursprünglich 36 anteile (persönlichkeiten) mußten sich in der kindheit abspalten, um die unterschiedlichsten traumaerfahrungen aushalten zu können bzw. den anforderungen des alltags gerecht zu werden.

In einer früheren veröffentlichung (2005) hatten die persönlichkeiten der gruppe nürnberger von sich selbst und den ersten jahren der traumatherapeutischen aufarbeitung berichtet. Jetzt geht um die möglicherweise abschließende phase der therapie. Im mittelpunkt stand die zunächst noch recht labile 'innenarchitektur' des multiplen systems, nicht zuletzt die solidarische und gleichberechtigte kooperation der persönlichkeiten miteinander – orientiert am leben hier und heute mit all seinen 'ganz normalen' konflikten.

Petra nürnberger ist inzwischen mit großem engagement wieder berufstätig, die traumatische kindheit ist vergangenheit geworden. Die weiterhin existierenden persönlichkeiten leben und arbeiten gleichberechtigt hand in hand; - für die gruppe nürnberger gilt ohne zweifel, daß pures "überleben" zu "leben" geworden ist!

Dieser lebens- und therapiebericht kann betroffenen mut machen und hoffnung geben, daß der schwere, von rückschlägen gesäumte weg der therapeutischen aufarbeitung, der nachreifung, des heilewachsens sich lohnt, - daß auch für überlebende so schrecklicher kindheitserfahrungen ein einigermaßen "normaler", selbstbestimmter alltag mit freude, erfolg, bestätigung und lösbaren konflikten möglich werden kann!- Außenstehenden ermöglicht er den einblick in alltagssituationen von menschen mit "multipler persönlichkeit", von denen mehr unter uns leben, als wir wohl ahnen.

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Rachel, Klaus, Moni, Lars, Habiba, Ben & Laura: UNSER SIEG ÜBER DIE RITUELLE GEWALT

Rachel war seit frühester kindheit RITUELLER GEWALT ausgeliefert. In den ersten lebensjahren galt sie als "geistig behindert", später wurde autismus diagnostiziert. Durch Gestützte Kommunikation (FC) wurde ab 1993 deutlich, daß sie nichts weniger als kognitiv beeinträchtigt ist. Als in rachels FC-botschaften zunehmend hinweise auf sexuelle gewalt auftauchten, wurde erst dies zum auslöser für erinnerungen von laura, ihrer mutter, an ihre eigene traumatische kindheit. Mutter und tochter waren opfer desselben germanofaschistischen kults gewesen, dem auch verwandte angehörten!

Bei rachel hatte sich eine dissoziative persönlichkeitsstruktur (multiple persönlichkeit) entwickelt. Sprechen wie selbständiges handeln ist für sie bis heute verknüpft mit verboten, schrecklichen erfahrungen und programmierungen der täter. Mithilfe der Gestützten Kommunikation haben verschiedene persönlichkeiten ihre systems seit 1993 auf weit über 1000 seiten umfassend über folterungen, demütigungen, programmierungen und sexuelle gewalt der täter berichtet. Neben den FC-dialogen mit der mutter entstanden selbstdarstellungen der innenpersönlichkeiten, gedichte. Auch an mehrere selbsthilfezeitschriften richtete rachel und ihr system auf austausch und unterstützung hoffende FC-briefe. Das stimmengewirr innerhalb der texte zeigt ein nuanciertes, aber orientierungsloses aufarbeitungs- und beziehungsbedürfnis. Diese botschaften sind ein überwältigender und erschütternder selbstheilungsversuch des multiplen systems.

Kaum je wurden die unterschiedlichen (und meist dazuhin irritierten) blickwinkel dissoziativer teilpersönlichkeiten auf die eigene traumatische lebensgeschichte sowie ihre schrittweise klärung und aufarbeitung über bald zwei jahrzehnte in einer publikation nuanciert dargestellt. Durch einen ebenfalls dokumentierten mailkontakt von 2011 wird die noch immer bestehende innere verwirrung eines multiplen systems nachvollziehbar, die schwierigkeit, etwas von dem grauenhaften konsistent und nachvollziehbar zu vermitteln, selbst wenn vertrauenswürdige bezugspersonen vorhanden sind.

Durch das hier vorliegende, in seiner vielschichtigkeit, nuanciertheit und stringenz singuläre zeugnis können wir vieles lernen über die psychodynamik von Struktureller Dissoziation (speziell bei DIS) wie über täterintrojekte und konditionierung bei Ritueller Gewalt, über die praxis von sexueller kinderversklavung (hier in deutschland!), aber auch über Gestützte Kommunikation (FC) und die gratwanderung zwischen fürsorge und selbstverantwortung bei menschen mit beeinträchtigungen, nicht zuletzt über lebenskräfte (resilienz), über die unabweisbare sehnsucht nach mitmenschlicher begegnung. - Wichtiger aber ist, daß diese dokumentation für laura, für rachel und alle persönlichkeiten ihres systems zum manifest einer grundlegenden abgrenzung wird: Das grauenhafte ist gewesen - aber es ist vorbei. Wir haben die Rituelle Gewalt nicht nur überlebt, - unsere menschlichkeit, lebenszugewandtheit und liebesfähigkeit hat gesiegt!

(Nachwort mondrian v. lüttichau)

Siehe auch die zweite Veröffentlichung von Rachel & Co.

Achtung - triggerwarnung!
Die dokumentation enthält durchgängig beschreibungen brutaler gewalt.

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Rachels & Blumen, Janik & Franzi , Laura & Nurse, Adele Anton: RITUELLE GEWALT, AUTISMUS UND MIND CONTROL – AUS UNSERER ERFAHRUNG

 

Vier Überlebende von Organisierter Ritueller Gewalt sind Autorinnen dieser Veröffentlichung, alle mit Dissoziativer Identitätsstruktur (DIS). Drei von ihnen zeigen dazu unterschiedliche Symptome der sogenannten Autismus-Spektrum-Störung. –
Das Grauen, dem Babys, Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene (meist Frauen) in ideologischen, satanistischen, germanofaschistischen oder sonstigen Gruppen mit Ritueller Gewalt, Zwangsprostitution, psychischer Konditionierung und anderen Formen des organisierten Verbrechens ausgeliefert sind, kann sprachlich nicht angemessen dargestellt werden. Derlei nicht nur zu überleben, sondern darüberhinaus zu einer Form von Heilung zu finden, gelingt allenfalls in vielen Jahren, begleitet von sachkundigen TherapeutInnen und unterstützt von zugewandten HelferInnen, FreundInnen, Angehörigen und (nicht zuletzt) engagierten MitarbeiterInnen von Behörden, Institutionen und Initiativen. Die meisten Überlebenden finden nur wenig von alledem.

Rachel hatte Glück (im Unglück). Seit 1993 gelang es ihr, vierzehnjährig, sich immerhin schriftlich über das seit frühester Kindheit erfahrene traumatische Leid zu äußern. Von Anfang an wurde ihr geglaubt. Der Zugriff von Tätern wurde unterbunden (1995). Rachel hat die verläßliche Unterstützung der Eltern, von TherapeutInnen/Ärzten, EinzelfallhelferInnen (Persönliche Assistenz) und anderen.

Um seelisch zu überleben, entwickelte das Kind Rachel eine Dissoziative Identitätsstruktur (DIS), wie die meisten Opfer von Organisierter Ritueller Gewalt. Jede der unterschiedlichen traumatischen Situationen konnte nur von einem weitestmöglich abgegrenzten (= abgespaltenen, dissoziierten) Bewußtsein (oder Ich) ausgehalten werden. Viele dieser als Überlebenform genuin entstandenen Ichs werden von Tätern in deren Interesse zu bestimmten Tätigkeiten und Verhaltensweisen konditioniert. Oft werden weitere dissoziative Abspaltungen durch gezielte Folter herbeigeführt. Diese haben nur wenig Bezug zu gesunden, allgemeinmenschlichen Empfindungen und Bedürfnissen; sie sind weitgehend oder vollständig orientiert an der Welt der Täterinteressen (inverse Programmierung, Mind Control). Bei Rachel kam diese untergründige Ebene der Mind Control in unserer Therapie erst ab 2014 unübersehbar zutage, – nachdem bereits seit 25 Jahren kein Täterkontakt mehr besteht. In diesem Zusammenhang entstand die vorliegende Publikation.

Rachel galt in den ersten Lebensjahren als "geistig behindert", später wurde Autismus diagnostiziert. Aufgrund der schweren "Verhaltensauffälligkeiten" lebte sie in diesen Jahren in einem Behindertenheim. Durch Gestützte Kommunikation (FC)wurde ab 1993 deutlich, daß sie nichts weniger als kognitiv beeinträchtigt ist. Als in Rachels FC Botschaften zunehmend Hinweise auf sexuelle Gewalt auftauchten – und in Zusammenhang damit die Namen von Lauras Angehörigen –, wurde erst dies zum Auslöser für die Erinnerungen der Mutter an ihre eigene traumatische Kindheit.
Im Zusammenhang mit der Arbeit am ersten Buch UNSER SIEG ÜBER DIE RITUELLE GEWALT (2012, ebenfalls hier bei A+C erschienen) entstand 2011 per Mail die weiter anhaltende online-Therapie mit Rachel & Co.

Im Jahr 2014 öffnete sich eine neue Tür zur Freiheit durch Rachels freundschaftlichen Austausch mit Janik & Franzi, einer ebenfalls autistischen und multiplen Überlebenden von Ritueller Gewalt und Mind Control. Rachels & blumen, Nurse(eine Teilpersönlichkeit der Mutter Laura) und (beratend) Janik & Franzi konnten ab jetzt zusammenarbeiten bei der Aufgabe, Mind Control-Programme im Alltag systematisch durch Gegenprogramme aufzulösen. –

Durch eine Auswahl von Mails zwischen Rachel & Co. und mir aus den Jahren 2011 – 2017/8 knüpft die neue Veröffentlichung an die damalige Dokumentation UNSER SIEG ÜBER DIE RITUELLE GEWALT an. Im Mittelpunkt stehen zwei Themen:

> Die Problematik der "inversen", also von den Tätern durch Folter erzwungenen dissoziativen Abspaltungen, die ausschließlich bestimmte Aufgaben im Tätersinn erfüllen sollen und zunächst kaum allgemein-menschliche Bedürfnisse haben (Mind control), sowie

> Erfahrungen und Hypothesen über Zusammenhänge zwischen Ritueller Gewalt (einschließlich Mind Control) und unterschiedlichen Formen der Autismus-Spektrum-Störung (ASS).

Dazu konnte die nuancierte Abhandlung einer weiteren Überlebenden hinzugefügt werden: Adele Anton (Pseudonym) war täterorientiertes Opfer: eine sogenannte "Programmiererin" innerhalb eines multiplen Systems. Die Texte von Janik & Franzi und Adele Anton sind nicht nur Erfahrungsberichte, sondern darüber hinaus bedenkenswerte Diskussionsgrundlagen der Hypothese, daß autistische Symptomatik (im Zusammenhang mit Struktureller Dissoziation einerseits und Mind Control andererseits) eine schwere Form von Traumafolgestörung darstellen kann.

Mind Control, also inverse Programmierung, wird mittlerweile auch in einigen traumatherapeutischen Fachbüchern differenziert beschrieben. Noch immer wird die Realität solcher Leidensgeschichten von manchen Menschen bezweifelt. TherapeutInnen hätten den Überlebenden etwas eingeredet, heißt es dann gerne. In der vorliegenden Dokumentation ermöglichen uns die Autorinnen Rachels & blumen, Janik & Franzi und Adele Anton einen tiefen, auch emotionalen Einblick in die Realität von Opfern dieser teuflischen Zurichtung von Menschen. Deutlich wird, daß auch sie nicht nur "autistische Multiple" sind; keine Wesen der dritten Art, sondern Mitmenschen, deren Persönlichkeitsentfaltung aufgrund schrecklichster Lebens-bedingungen spezielle Prioritäten entwickeln mußte. Wir können von ihnen lernen, sie können von uns lernen – unser Menschsein verbindet uns. Liebe ist die größte Kraft!

[Aus der Einleitung des Herausgebers Mondrian v. Lüttichau)

Eine Überlebende schrieb im Januar 2019 über diese Veröffentlichung: "Ich habe mich in den letzten Wochen viel mit diesen Seiten beschäftigt, um irgendwie einen besseren Zugang zu meinem vielschichtigen verschachtelten Innen und zu diesem sehr komplexen Thema zu bekommen. Und es ist so eine Erleichterung zu erkennen, dass ich mir das nicht eingebildet habe und dass es diese Form der Menschenabrichtung wirklich gibt! Ich habe so etwas in der Form noch nie vorher gelesen, endlich gibt es Worte für vieles, wofür es vorher nur Sprachlosigkeit gab! Seitdem ich diesen Text und andere Teile des Buches gelesen habe, habe ich den Eindruck, dass der innere Nebel sich etwas lichtet und die Richtung langsam konkreter wird."

Siehe auch die erste Veröffentlichung von Rachel & Co.

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Sándor Ferenczi: INFANTIL-ANGRIFFE! – ÜBER SEXUELLE GEWALT, TRAUMA UND DISSOZIATION

First edition of all trauma-related lectures and notes of Sándor Ferenczi (in German), download for free (pdf). - Première édition de toutes les conférences et notices de Sándor Ferenczi (en allemand) liés au traumatisme, à télécharger gratuitement (pdf).

1896 formulierte Sigmund Freud den Zusammenhang gewisser "schwerer neurotischer Erkrankungen" mit unangemessenen (traumatischen) "sexuellen Erfahrungen am eigenen Leib, (...) geschlechtliche(m) Verkehr (im weiteren Sinne)" im Kindesalter, initiiert durch Erwachsene. Im Jahr 1905 distanziert er sich erstmals öffentlich von seiner (damals sogenannten) "Verführungstheorie". Die Möglichkeit folgenschwerer sexueller Traumata im Kindesalter wurde von nun an in der psychoanalytischen Therapie konsequent vernachlässigt, teilweise sogar geleugnet.

Als einziger Psychoanalytiker um Freud versuchte der ungarische Arzt Sándor Ferenczi(1873-1933), diese verhängnisvolle Weichenstellung der psychoanalytischen Theorie zu verhindern. Ferenczi fühlte sich aufgrund seiner Erfahrungen mit bestimmten PatientInnen gezwungen, zurückzukehren zu Freuds Annahmen von 1896 und von dort aus neue theoretische Konzeptionen und therapeutische Methoden zu suchen. Schrittweise bilden sich seine Erkenntnisse und Erfahrungen zum Problem früher Realtraumatisierungen in seinen letzten Lebensjahren ab in mehreren Veröffentlichungen sowie in seinem privaten Klinischen Tagebuch und einzelnen Notizen.

Etliche Fallvignetten und Reflexionen in den hier dokumentierten Vorträgen und privaten Notizen lassen den Schluß zu, daß unter Sándor Ferenczis frühtraumatisierten PatientInnen Betroffene mit Borderline-Syndrom, Dissoziativer Identitätsstörung (DIS)und DDNOSwaren. Es wird deutlich, wie er das Prinzip der traumabedingten Dissoziation aus seinen therapeutischen Erfahrungen mit in der Kindheit sexuell traumatisierter Patientinnen heraus verstehen lernt. Nach Pierre Janet (und Freud in jener allzu kurzen Episode ab 1896) scheint Ferenczi tatsächlich weltweit der erste gewesen zu sein, der konsequent und stringent das Wesen von Psychotrauma und den therapeutischen Umgang damit erkundet hat!

In seinem hier auszugsweise dokumentierten Spätwerk beruft Ferenczi sich auf die Grunderfahrungen von Güte, Authentizität, Bescheidenheit und Takt. Damit legt er den Grundstein zu einer intersubjektiven Haltung, einer Zwei-Personen-Psychologie, im Gegensatz zur bis dahin in der Psychoanalyse vorherrschenden Ein-Personen-Psychologie.

Sándor Ferenczi, der allzu lange verdrängte bedeutende psychotherapeutische Praktiker und Theoretiker, wird zunehmend wieder-, in mancher Hinsicht erstmalig entdeckt. Wissenschaftliche Institutionen und Publikationen widmen sich Ferenczis psychoanalytischem Vermächtnis (keineswegs nur traumabezüglich). Im Mai 2015 fand eine Internationale Ferenczi-Konferenz (mit dem Schwerpunktthema Trauma) in Torono (Kanada) statt.

Aus gutem Grund hatte traumatherapeutische Forschung und Praxis sich zunächst längere Zeit relativ weit weg von der Psychoanalyse entwickelt. Die Lektüre der hier dokumentierten Arbeiten Ferenczis ruft vielleicht nicht nur bei mir etwas von dem Abenteuer Psychoanalyse wach. Und macht neugierig auf Beiträge der neueren psychoanalytisch begründeten Forschung und Praxis zur Traumatherapie – auch, aber nicht nur auf Grundlage der Arbeit Sándor Ferenczis.

Das in 125 Jahren psychoanalytischer Forschung und Praxis gewachsene Verständnis für die psychodynamische Vielfalt und Komplexität des Menschen (zumindest in unserer Zivilisation) und insbesondere die damit verbundene entwicklungspsychologische und beziehungstherapeutische Kompetenz kann sich heutzutage austauschen mit den Forschungsergebnissen, den Konzeptionen und therapeutischen Erfahrungen der neurophysiologisch-eklektischen Psychotraumatologie, vor allem im Hinblick auf schwerste Traumatisierungen, sowohl im Kindesalter (familiär oder durch Fremde, mit den Folgen der Strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit ) als auch bei Akuttraumatisierungen Erwachsener. Sándor Ferenczis therapeutische Aufmerksamkeit ging jedenfalls in beide Richtungen.

Die hier vorliegende erstmalige Zusammenstellung aller traumatherapeutisch relevanten Arbeiten Sándor Ferenczis möchte bescheiden beitragen sowohl zur derzeitigen Neuentdeckung dieses Mitbegründers der Traumatherapie als auch zum Brückenschlag zwischen psychoanalytischer Traumatologie und Psychotraumatologie.

Die Ausgabe enthält Einführungen des Herausgebers Mondrian v. Lüttichau auch zu den einzelnen Texten.

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Theo Harych: HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN

Theo harych (1903-1958) wurde geboren in einem dorf in der damaligen preußischen provinz posen; heute gehört die region zu polen. Muttersprache der eltern war polnisch. Sein vater war landarbeiter, die familie hatte neun kinder. Theo war hütejunge und knecht, nur zeitweilig besuchte er die dorfschule. Seine kindheit war geprägt von gewalt und lieblosigkeit, von hunger und vernachlässigung. 1919 floh er zu einem älteren bruder nach mitteldeutschland, arbeitete in einer zuckerfabrik und im braunkohlebergwerk. Theo harych trat der bergarbeitergewerkschaft bei und war 1921 beteiligt am Mitteldeutschen Aufstand. Später war er wanderbursche, diener, kraftfahrer. Er machte wahlpropaganda für die KPD, arbeitet als hilfsschlosser, macht esich selbständig mit einem dreirad-lieferwagen. Schon zu dieser zeit schrieb er erfahrungen und empfindungen auf zettel und in schulhefte.

Theo harych wurde ein schriftsteller der jungen DDR. Der hier erstmalig wiederveröffentlichte autobiografisch begründete roman erschien 1951 im Verlag Volk und Welt.

HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN ist eine noch heute sozialgeschichtlich bedeutsame quelle. Der romanhafte bericht orientiert sich weitgehend an theo harychs bitterer kindheit. Zweifellos wollte der autor in unterschiedlichen, repräsentativen und zugleich unterhaltsamen facetten erzählen von alltag und befindlichkeiten der (armen) bevölkerung solcher ländlicher gebiete – und von gewalt oder verführung durch mächtige instanzen, denen sie hilflos ausgesetzt waren.

Zweifellos war die kindheit für theo eine unablässige folge psychischer traumatisierungen, keineswegs nur im elternhaus. Kompensatorische, heilsame ressourcen sind kaum zu erkennen. Erst als theo sich nach dem zehnten lebensjahr überlebensmöglichkeiten außerhalb des elternhauses suchen muß, trifft er (bei weiterhin leidvollen erfahrungen) gelegentlich auf menschen, die es gut mit ihm meinen – oder ihn zumindest als mitmenschen ernstnehmen. Daß selbst winzige momente von unterstützung und zuwendung (sei es selbst mit einem rehkitz) in solcher höllenhaften kindheit entscheidend zum aufbau innerer ressourcen beitragen, zu vertrauen, beharrlichkeit und lebenswillen, wird beim lesen nachvollziehbar.

In der achtsamen beschreibung auch der bösen und zutiefst deprimierenden erfahrungen liegt klage und trauer, die theo harych im erzählen und aufschreiben wohl immerhin teilweise zulassen konnte. Und anklage – die sich jedoch weniger gegen einzelne personen richtet, sondern eher gegen grundlegende machtzusammenhänge. Am konkretesten wird die anklage, wo es um menschenfeindliche, verdinglichte dogmen der katholischen kirche geht und deren auswirkung auf die bevölkerung, keineswegs nur auf die bitterarmen landarbeiter.

Noch anfang des 20. jahrhunderts ist für diese dörfler, bürger des Deutschen Kaiserreichs, das leben vorrangig ein schlachtfeld zwischen gott und dem teufel, – und mittendrin die menschen, deren "ewiges Leben" auf den spiel steht und deren normative, moralische orientierung fast ausschließlich in den vorgaben der katholischen kirche besteht! "Gott" ist in diesem weltbild kaum mehr als der gegenpol zu einem "Teufel", auf den alles unangenehme projiziert werden kann, zumal böses meist viel prägnanter vorstellbar und benennbar ist als gutes. Aus dieser dichotomie werden beliebige interessengeleitete interpretationen und schuldzuschreibungen abgeleitet.

Nicht wenige im buch geschilderte szenen erinnern kaum zufällig unweigerlich an die haltlose, sadistische brutalität von NS-tätern. Solche normalität bildete zweifellos einen grundstock für den terror vieler nazi-täter – ursprünglich auch ganz normale männer. Daß die menschenverachtende und mörderisch indolente mentalität der KZ-schergen nicht 1933 entstanden ist, daß sie längst vorher teil der gesellschaftlichen normalität war, wurde mir gerade durch theo harychs zeitzeugenbericht HINTER DEN SCHWARZEN WÄLDERN zur unabweisbaren gewißheit.

Derlei psycho(patho)logische zusammenhänge nachzuvollziehen, kann böses, menschenverachtendes verhalten niemals entschuldigen, aber gerade die geschichte dieser familie erinnert daran, wie dünn die schicht von menschlichkeit oder humanität ist und daß sie der pflege bedarf, soll nicht barbarei wieder hervorbrechen: eine nach wie vor gültige lektion der erziehung nach auschwitz.

Nach dem vorliegenden buch schrieb theo harych noch zwei weitere, bis heute lesenswerte romane. 1958 hat er sich das leben genommen.

(Aus dem nachwort)

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