Anmerkungen zur aktuellen diskussion über pädosexualität

Seit einiger zeit werden in den medien katholische funktionäre, "reform"-pädagogen und bestimmte vertreter der politischen linken angeprangert als pädosexuelle täter oder deren angebliche sympathisanten. So begrüßenswert es ist, daß das tabu gegenüber sexueller gewalt wieder ein stückweit aufgelöst wird, sollte dies nicht davon ablenken, daß die allermeisten sexuellen (und anderweitigen) traumatisierungen von kindern/jugendlichen im umfeld der herkunftsfamilien stattfinden! Es sollte nicht wieder ignoriert werden, wie es sehr vielen kindern in unserer gesellschaftlichen normalität geht: ohne zugewandte eltern, aber ruhiggestellt mit spielzeug, medien und geld, teilweise ohne berufliche perspektive, der psychopathologie der eltern ausgeliefert innerhalb der nach außen isolierten familien-"burg" oder abgeschoben in internate.

Auch darum geht es in manchen meiner autobiografischen bücher. Weil ich selbst ein solches kind war, wollte ich lange zeit nichts wissen von den "verwachsenen" und  hatte "zu lange" und "zu eng" mit kindern zu tun. (Aufgewachsen in einem dysfunktionalen elternhaus, empfand ich andererseits meine fluchtmöglichkeit als kind hin zu erwachsenen nachbarn immer als rettend.)  –  Als ich 16-21 war, kam es innerhalb vielschichtiger begegnungen und z.t. langjähriger freundschaften auch zu zärtlichen erotischen kontakten mit 11-15jährigen kindern/jugendlichen. Diese situationen werden in den hier veröffentlichten autobiografischen büchern in ihrem damaligen stellenwert dargestellt, da auch sie ein moment der komplexen psychologischen wahrheit jener begegnungen sind. Jedoch stehen im mittelpunkt dieser bücher kinder, die von eltern und angehörigen mißachtet wurden und bindungskontakte deshalb woanders suchen mußten. Daneben geht es natürlich um mich, der ich emotionale nähe erstmalig im leben bei solchen kindern fand.

Die INDIANERKOMMUNE ist seit mitte der 70er jahre unter anderem eingetreten für die legalisierung gewaltfreier sexueller kontakte zwischen kindern und erwachsenen. Dies war in den 80er jahren für mich wie für viele andere in der linken szene der BRD ausdruck des widerstands gegen repressalien von erwachsenen gegenüber der autonomen lebendigkeit von kindern/jugendlichen. Obwohl ich eine solche legalisierung heutzutage ablehne, sehe ich die INDIANERKOMMUNE auch im rückblick nicht als interessenorganisation pädosexueller erwachsener.  Wesentlicher erscheint mir ihr eintreten für kinderrechte (gegenüber bürokratischer und eltern-macht) und gegen die zerstörung von menschlichkeit durch den "ganz normalen" konsumterror.

In den jahren nach 1980 konnte ich eigene seelische defizite überwinden und mich weiterentwickeln - über die nachholende orientierung an kindlicher lebendigkeit (nicht vorrangig im erotischen sinne!) hinaus. Auch darüber steht einiges in den autobiografischen büchern. Eine pädosexuelle "veranlagung" habe oder hatte ich nicht, genausowenig irgendwelche neigungen zu machtausübung über kinder oder andere menschen. Allerdings gab und gibt es in mir einen kindlichen persönlichkeitsanteil (Ego State), der bis etwa 1975 relativ dominant war.

Heute, nach jahren der betreuung kindheitstraumatisierter menschen, vermute ich im rückblick auf das, was ich damals (oder zu späterer zeit) von aktivistInnen der damaligen INDIANERKOMMUNE mitbekommen habe, daß die allermeisten von ihnen überlebende traumatischer kindheitserfahrungen waren - mikrotraumatisierungen, bindungslosigkeit, zerstörte elternhäuser, sexuelle gewalt. Etliche von ihnen sind mittlerweile tot.

 Bereits seit 1978 wurde von alice schwarzer, florence rush und alice miller auf das weitverbreitete vorkommen von sexueller grenzüberschreitung/gewalt/inzest gegenüber kindern und die schwerwiegenden seelischen folgen für diese hingewiesen. Dennoch profilierten die publikumsmedien noch viele jahre lang den "kinderschänder" als seltene abartige ausnahmefigur. - Selbst die traumatherapeutin (und spezialistin für Rituelle Gewalt) alison miller schreibt: "In den 1980er-Jahren begann man langsam die Misshandlung durch den Ehepartner und den sexuellen Kindesmissbrauch als Realität zu begreifen, aber selbst das hielt man für seltene Ausnahmen." (Werde, wer du wirklich bist; Kröning 2016, Seite 36) Da wir heutzutage unsere informationen nur noch aus dem internet beziehen, das es damals bekanntlich noch nicht gab, wird diese tatsache heute gerne ignoriert.

Auch ich wurde aufmerksam für das alltägliche vorkommen von sexualisierter gewalt gegen kinder erst durch fachliche kontakte mit betroffenen/überlebenden im psychiatrischen krankenhaus (seit 1995). Seither kann ich für die legalisierung sexueller kontakte zwischen kindern und erwachsenen nicht mehr eintreten. Aus diesem grund hatte ich mich etwa 1997 von der nachfolgeorganisation der INDIANERKOMMUNE (Kinderselbsthilfe Nürnberg) distanziert (und das denen auch geschrieben.)

In einigen der hier veröffentlichten büchern habe ich versucht, so ehrlich wie möglich die komplexen seelischen und psychosozialen zusammenhänge der damaligen erfahrungen und empfindungen zu verdeutlichen. Dabei ging es mir immer um zweierlei: 

  •  Um die situation von kindern, die in ihrer realen seelischen situation nicht wahrgenommen werden von angehörigen und die sich deshalb andere bezugspersonen suchen – und dann in gefahr sind, an die falschen zu geraten, sowie 
  •  um die situation von erwachsenen mit erheblichen entwicklungsdefiziten, die sich in beziehungskontakten (jeder art) vorrangig an kindern oder jugendlichen orientieren. Sie müssen deswegen keine pädosexuelle veranlagung haben, sie müssen auch keine täter sein – aber es besteht eine große gefahr, daß sie es werden. Auch solche menschen brauchen ernsthafte, öffentlich auffindbare hilfsangebote. Die gibt es noch immer so wenig wie vor 30 jahren! 

Als 1981 die eltern eines durch einen sexualtäter ermordeten mädchens in den medien auf das allgemeine öffentliche desinteresse an gesellschaftlichen umständen hinwiesen, durch die solche täter bzw. taten entstehen, ernteten sie haßerfüllte briefe und telefonate (siehe hier im anhang zu 'Schweinisch wird kritisch und physisch!'). - Ich hatte in einem TAZ-leserbrief (14.1.83) geschrieben, in den "schlimmen erfahrungen mit pädophilen beziehungen kommt durchaus machtmißbrauch von (v)erwachsenen zum ausdruck, nur wird dieser machtmißbrauch möglich erst durch gesetze, die erwachsenen menschen in jeder weise schrankenloses recht auf gewalt gegen nicht-erwachene menschen geben" und hatte "ernsthafte, sachliche, lebendige auseinandersetzung mit pädophilie" gefordert. Darin zumindest hat sich meine auffassung nicht geändert.

Siehe hierzu auch den aufsatz 'Die Missbrauchsfalle' des kritischen sexualwissenschaftlers volker sigusch (in: sigusch: 'Neosexualitäten', frankfurt/m. 2005, s. 143-149) sowie das interview mit der sexualwissenschaflerin sophinette becker in der TAZ 9.12.2013.

Wir müssen endlich von den medienkonformen "entweder-oder"-argumenten wegkommen, sonst können wir manches nicht verstehen und dann auch nicht ändern. Die dämonisierung von menschen mit pädosexuellen empfindungen ist zunächst ausdruck hilfloser resignation. Journalistische arbeiten sind allerdings oft vorrangig orientiert an auflagenhöhen, einschaltquoten und am aktuellen wahlkampf. Ein TAZ-redakteur formulierte im jahr 2011 (im hinblick auf taz-interne diskussionen): "Das ist ja heute alles ein hoch vermintes Terrain." (TAZ 16.4.11) - Eine fernseh-journalistin interessierte sich (im märz 2012) für die dokumentation von rachel & laura, wollte jedoch mit mir als vertrauensperson der autorinnen nicht kooperieren: "wegen Ihrer unrühmlichen Vorgeschichte". Genötigt und abgestraft werden sollten auf diese weise die traumaüberlebenden autorinnen!  Als das nicht wirkte, legte die journalistin nach: "Meine Recherchen und mein Bauchgefühl lassen für mich nur einen einzigen Schluss zu, nämlich sich von Graf von Lüttichau fern zu halten, und ich kann daher auch niemandem empfehlen, sich in seinen Einflussbereich zu begeben." 

Mir geht es in diesem zusammenhang jedenfalls nicht um "täterschutz", sondern um täterorientierte prävention. (Siehe auch meinen beitrag in 'Trauma & Gewalt' 3/2010, seite 257.) 
Ein online-leserbriefschreiber der F.A.Z.: "Es muss in jedem Ort Therapieangebote zur Prävention von Kindesmissbrauch geben. Das muss so gut beworben werden dass jeder der ein Problem hat eine Möglichkeit bekommt das man ihm hilft. Denn ich bin überzeugt dass es viele verantwortungsbewusste Menschen mit pädophilen Neigungen gibt die Hilfe brauchen und gerne in Anspruch nehmen." (stefan neudorfer am 18.3.2010 23:09 www.faz.net)

Dennoch muß solidarität, hilfe und therapie für opfer/überlebende priorität haben!  (Siehe hierzu die INITIATIVE PHÖNIX.)

Meine online-veröffentlichung auch solcher in manchem angreifbaren aufzeichnungen versteht sich als beitrag dazu, öffentliche tabuisierung und denkverbote zu überwinden. Dies ist kein widerspruch zur niederschwelligen information über psychotraumatologische zusammenhänge (z. b. auf der website www.DISSOZIATION-UND-TRAUMA.de), sondern eine wie mir scheint notwendige ergänzung.
Ich stehe weiterhin uneingeschränkt auf der seite von opfern/überlebenden, bin jedoch gerne bereit, mich an ernsthaften gesprächsangeboten auch zu diesen themen zu beteiligen.


Mondrian v. lüttichau